Die Ironie will es, dass am Tag, an dem ich von Brand-New-Life angefragt werde, auf von Ostens Text zu reagieren, in einem E-Mail-Thread die Auflösung des Vereins Kamion, die Herausgeberin des gleichnamigen Publikationsorgans, beschlossen und damit mit einiger Wahrscheinlichkeit auch unserer Publikationstätigkeit ein Ende setzen wird. Kamion verortet sich geografisch in Wien und Zürich und ideell am Kreuzungspunkt von sozialen Bewegungen, Kunstpraxen und kritischer Intellektualität. Gewiss: Es mögen sehr spezifische Begebenheiten sein, die dazu geführt haben, dass Kamion müde geworden ist. Ich will es unterlassen, an der Stelle eine Auslegeordnung oder eine Chronologie dieser Prozesse aufzuzeichnen. Doch ich will die These in den Raum stellen, dass mit Kamion eine Zeitschrift verschwindet, die aus dem Geiste geboren worden ist, den Marion von Osten in ihrem Text versucht einzufangen.
Doch heisst dies im Umkehrschluss, dass es sich bei der von von Osten skizzierten Neubeschreibung der Autor_innenfunktion, der neu auftretenden Produktions- und Publikationspraxen und der Neuverhandlung von Theorie im Kunstfeld um ein Auslaufmodell der 1990er Jahre handelt, deren politisch-gesellschaftliche Wirk- und Sprengkraft sich nicht ins neue Millennium hinüberretten liessen? Auf keinen Fall will ich, ausgehend von der erschlafften Publikationstätigkeit von Kamion, eine allgemeinere Krise des oppositionellen Publizierens ausrufen. Dennoch scheint mir von Ostens Text eine Vorlage zu bieten, um die von ihr gezeichneten Prozesse, die zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des kritischen Schreib- und Publikationsapparats geführt haben, auf deren Aktualität hin abzuklopfen.
Geist des Aufbruchs
Marion von Osten stellt ins Zentrum ihres Textes die Frage, «welche Subjektivität mit der Herausgabe einer oppositionellen Zeitschrift und dem Schreiben von kritischen Texten verbunden ist». Auf dem Prüfstand steht die Subjektivität, die sich mit den in den 1990-er Jahren neu auftretenden Modi der kulturellen Produktion entwickelt hat. Von Osten bezieht sich dabei auf die Publikations- und Ausstellungstätigkeit einer losen Gruppe umtriebiger Künstler_innen und Kulturproduzent_innen aus dem Umfeld der Zürcher Ateliergemeinschaft k3000 und der Shedhalle, in der von Osten selbst kuratorisch tätig war. Doch die Konturen der neuen Subjektivität und des neuen Selbstverständnisses der kulturellen Szenen, in denen Marion von Osten sich Ende der 1990er Jahre verortete, entstehen vor der Abgrenzungsfigur des männlich konnotierten universellen Intellektuellen.
Es ist denn auch der universelle Intellektuelle, der Homme de Lettre, den sie in Verbindung bringt mit der prolligen Figur aus dem Arsenal der Grimm’schen Märchen, jenem kleinen Mann, der einen Knüppel aus dem Sack springen und auf das Gegenüber eindreschen lässt, sobald er nur die Losung «Knüppel aus dem Sack» spricht. Der Knüppel soll markieren, worum es in der kritischen kulturellen Praxis auf keinen Fall gehen darf: um den moralisch-politischen Zeigefinger, um die Praxis des Wahrheit-Sprechens, die statt reale politisch-gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen einen Machtapparat bedient, der in erster Linie die eigene Subjektposition befestigt und verteidigt. Dies mag für von Osten eine Provokation darstellen – sind ihre Praxen doch von feministischen und kollektiven Handlungsansätzen geleitet und unvereinbar mit dem männlich-individualistischen Denkertum.
Marion von Ostens Text trägt eine Kraft des Aufbruchs, die vielleicht charakteristisch war für jenes Feld der kulturellen Produktion, in der sie selbst als Protagonistin agierte. Es ist ein euphorischer Text, der das Tun und Experimentieren der eigenen Szenen lustvoll affirmiert. Doch wo der Text auf die neue kritische Subjektivität zuläuft, da entspringt der Text der Linearität seines eigenen Arguments und verlässt die Stringenz, die er zuvor noch aufgewiesen hat. Die Verschiebungen, denen von Osten nachspürt, lassen sich (noch) nicht erfassen in Begriffen von Paradigmen und role models, sondern sie erscheinen im Gerangel des Tuns bruchstückhaft, unfertig. Im übrigen ist es ein gutes Zeichen, dass ihr nichts an einer begrifflichen Neubestimmung des Intellektuellen liegt. Denn mir scheint, dass jede Neubestimmung der gesellschaftlichen Positionierung und des Wirkungskreises des Intellektuellen sich in den Fängen der eigenen Genealogie verstrickt und das Bild des Intellektuellen im generischen Maskulinum zitiert, der denkend und handelnd gleichwohl in seiner Individualität verhaftet bleibt. Ich sehe somit die Unfertigkeit und die relative Definitions- und Zukunftsoffenheit des im Text skizzierten Projekts durchaus als Chance. Denn der Text beschreibt einen Moment des Übergangs, der Öffnung hin zu etwas Neuem – während die Parameter der Veränderung noch im Begriff sind zu entstehen.
Das Begehren der Vielen
Bei von Osten entsteht Wissen immer in der geteilten Gegenwart anderer. Dies scheint mir besonders bemerkenswert. Was sie dabei in den Blick rückt, ist die performative Erzeugung von sozialen Räumen – jene vergänglichen Momente, die entstehen, wenn Menschen zusammenkommen. Von Osten nennt sie kulturelle Momente; sie liegen nicht im Moment der Aufführung oder im Moment der Präsentation, sondern im Prozess der Produktion selbst. Gleichzeitig bilden jene Momente erst die Voraussetzung, um überhaupt kulturell tätig zu sein. Denn erst in der Auseinandersetzung, in der Diskussion und im wechselseitigen Vertrauen, so von Osten, lässt sich das eigene beschränkte Denken überschreiten. Intellektualität entsteht dort, wo es ein Begehren der Vielen gibt. Und was produziert wird, sind nicht in erster Linie Werke, sondern (auch) Anordnungen von Körpern im Raum, eine soziale Verdichtung, ein widerständiges Konglomerat. Eine Zeitschrift zu produzieren ist auch ein politisches Meeting.
Doch geht es jetzt um den kulturellen Moment oder um die Zeitschrift? Erschöpft sich die kulturelle Produktion im Machen selbst? Oder will von Osten eher betonen, dass Intellektualität nicht entstehen kann jenseits von einem sozialen Raum? Angesichts der Tatsache, dass im Kunstfeld Momente der Repräsentation – die Ausstellungseröffnung und die Zeitschriftenpräsentation – zentral verankert sind und die Semantik des Ausstellungsraumes stark codiert ist, scheint es eine besondere Herausforderung darzustellen, die sozial-intellektuelle Tätigkeit in den Mittelpunkt zu rücken. Dies macht von Ostens Intervention interessant – auch wenn sie letztlich den Widerspruch zwischen dem performativ-sozialen und repräsentativen Moment weder thematisiert noch aufzulösen sucht.
Erstaunlicher finde ich, dass die kulturellen Momente in guten Momenten aufzugehen scheinen. Was hat es zu bedeuten, dass von Osten auf den guten Momenten insistiert? Ist die gute Stimmung die notwendige Vorbedingung dafür, dass Momente der kollektiven Intellektualität entstehen? Vielleicht ja. Affektivität und Praktiken der Freund_innenschaft mögen eine wesentliche Dimension ausmachen in der Entstehung von dem, was ich kollektive Intellektualität nenne. Auch will ich gerne zugestehen, dass eine affektive Bindungskraft nötig ist, um Intensitäten in der Zusammenarbeit herzustellen und aufrechtzuerhalten. Doch auf der anderen Seite droht die Gefahr der Clubbildung. Wenn es stimmt, dass die guten Momente (auch) auf eine Schliessung hindeuten, dann wären sie immerhin deren bestes Symptom. In jeder anderen Hinsicht sehe ich Schliessungen und Clubbildungen kritisch.
Eine der grössten Herausforderungen der postkolonialen Ära und der postmigrantischen Gesellschaften scheint mir darin zu liegen, aus den Verschliessungen unserer eigenen sozialen Positionierungen herauszutreten. Wie kann ich damit umgehen, dass ich umgeben bin von Stimmen, Erfahrungen und Wissen, die sich so gar nicht in meiner eigenen Erfahrung als weisse mittelständische Person reflektieren? Welche Formen des Zuhörens und Sprechens, aber auch welche Modalitäten des Sozialen erfordert die postkoloniale Konstellation – und was heisst die für die Produktion von Wissen? Wie können wir Stimmen an den Rändern der Gesellschaft (zu)hören, Stimmen, deren Leben unter Bedingungen von Gewalt und Herrschaft geformt worden sind – ohne uns jedoch, in den Worten von Walter Benjamin, neben das Proletariat zu stellen? Denn dies kann nur die falsche Haltung sein, die des Gönners und des ideologischen Mäzens. Stattdessen scheint mir die Herausforderung der Gegenwart darin zu liegen, eine neue Taktilität auszubilden, um Differenzen zu erfahren, ja, sich von ihnen enteignen zu lassen, kurz: anders zu werden. Das sind durchaus lustvolle, aber ebenso schaurig-schmerzhafte Prozesse …
Angriff auf den bürgerlich-kapitalistischen Produktionsapparat
Ich möchte Marion von Ostens Projekt als ein Projekt der Umverteilung von Wissen verstehen. Es ist auf die Umschichtung der stark hierarchisierten Sphäre des Wissens ausgerichtet, um aktivistische, feministische oder allgemeiner: verfemte und unterschlagene Wissen in Erscheinung zu bringen. Es ist ein Umschichtungsprozess, der die Grenzziehung zwischen dem legitimen, also dem in den bürgerlichen Wissenskreisläufen und Institutionen anerkannten Wissen und dem illegitimen Wissen angreift und verschiebt. Dazu gehört auch, potenziell emanzipatorische Wissen den Zurichtungen und Zähmungen des akademischen Wissensapparats zu entreissen. Die Umschichtung vollzieht sich aber auch in Akten der (feministischen) Aneignung und Selbstlegitimierung jener, die vormals aus der Wissensproduktion ausgeschlossenen waren und – in der Terminologie von Marion von Osten – zu Sprechenden und Theoriebildenden werden. Für die Produktionen im Feld der Kunst heisst dies denn auch, dass sie ihren Status von autonomen Werken ablegen und zu Elementen in einem Wissenskreislauf werden. Dieses Arrangement fordert die disziplinären Auftrennungen heraus und sucht die jeweils herrschenden Feldlogiken und Codes zu durchkreuzen.
In der Begrifflichkeit Umverteilung von Wissen steckt auch eine Provokation: Die Umverteilung bezieht sich für gewöhnlich auf ein materielles und nicht auf ein symbolisches Register. Damit will ich markieren, dass die Zuwendung zu Strukturen und materiellen Produktionsverhältnissen gerade auch in Bildungsprozessen und Prozessen der Wissensproduktion von zentraler Bedeutung ist. Auch bei von Osten wird dies deutlich. Ihr Text ruft nicht dazu auf, kritische Inhalte und illegitime Wissen in den bestehenden Produktionsapparat einzuspeisen, sondern dass es darum gehen muss, bei den Produktionsverhältnissen selbst anzusetzen. Erst dies bringt die neuen Modi der Produktion hervor, die Marion von Osten beschreibt: jenes Experimentierfeld, in dem sich neue institutionelle Praxen, Diskursanordnungen, Ästhetiken, Formate, sowie neue Konfigurationen der Autor_innenschaft entwickeln.
Damit greift der dem Text zu Grunde liegende Argumentationsstrang – nicht gewusst oder ungenannt – eine zentrale These von Walter Benjamins Der Autor als Produzent auf. Im Vortragsschreiben von 1934, seinem wohl prägnantesten kunsttheoretischem Schreiben, sucht Benjamin die dual aufgezogene Debatte um Form versus Inhalt, respektive um (politische) Tendenz versus Qualität auszuhebeln, indem er auf die Funktion der Autor_innen im Produktionsprozess fokussiert. Davon ausgehend postuliert er, dass kritische Autor_innen und Künstler_innen aufgefordert sind, sich zu verweigern, den bürgerlich-kapitalistischen Produktionsapparat mit kritischen Inhalten zu beliefern, sondern stattdessen als Produzent_innen selbst tätig zu werden und den Produktionsapparat umzugestalten.
Informalität, Palaver, Nachtleben
In von Ostens Angriff auf den bürgerlichen Kunst- und Wissensapparat, aber auch in ihrem Vorschlag, das männliche und eurozentrische Wissenssubjekt in kollektiv-performativen Anordnungen zu dezentrieren – darin sind bereits vielversprechende Ansätze zur Deinstitutionalisierung und Enthierarchisierung von Wissen und zur Umgestaltung von Produktionsverhältnissen im kulturellen Feld angelegt. Doch im Text liegt auch ein Kippmoment; ihre Ansätze scheinen mir noch nicht entschlossen genug zu sein: Wenn es an Mut und Konsequenz fehlt, diese Ideen umzusetzen, so wird der Geist des Aufbruchs sich schnell in reguliertere und institutionalisiertere Bahnen bewegen und an widerständigem Potenzial verlieren. Hingegen liesse sich mit etwas Mut noch weiter an den Produktionsverhältnissen schrauben und das Spektrum der Wissensproduktion und Wissenssubjekte noch radikaler verschieben.
Fakt ist: Das Projekt der Umverteilung von Wissen bleibt unvollendet. Vis-à-vis der Corporate University, der paradigmatischen Bildungsinstitution dieser Tage, gewinnt es an Konturen und vor allem an Dringlichkeit. Doch anstatt also der spekulativen Frage nachzugehen, wo von Ostens Aufbruch hingeführt hat und ob er etwa in den Institutionen zum Erliegen gekommen ist, möchte ich ihre Ansätze mit der interessantesten mir bekannten Intervention in die Hierarchien des Wissens kontrastieren, oder eher: Ihre Ansätze durch eine Intervention aus den Reihen der Black Studies weiterführen und radikalisieren. Ich beziehe mich hier auf Fred Moten und sein Konzept study. Study im Sinne Motens ist näher an der Informalität, am Palaver und am Nachleben als an Curricula, an Lernzielen und an Graduiertenprogrammen:
«I think we are committed to the idea that study is what you do with other people, working, dancing, suffering, some irreducible convergence of all three, held under the name of speculative practice. The notion of a rehersal – being in a kind of workshop, playing in a band, in a jam session, or old men sitting on a porch, or people working together in a factory – there are these various modes of activity. The point of calling it study is to mark that the incessant and irreversible intellectuality of these activities is already present. […] to do these things is to be involved in a kind of common intellectual practice.»[1]
Wo bei von Osten noch die Ambivalenz besteht, ob das kulturell-soziale oder das repräsentative Moment von übergeordneter Wichtigkeit ist, so ist bei Moten diese Ambivalenz ganz auf die Seite des Performativ-Sozialen hin aufgelöst. Alle Intellektualität ist bei Moten sozial, und umgekehrt ist alles Soziale intellektuell. Und wo von Osten noch ringt mit der Diskursivität (oder gegen sie), da dezentriert Moten das okzidentale Moment der Schriftlichkeit und Diskursivität ganz. Text ist bei Moten gerade mal eine Gelegenheit, vielleicht ein Vorwand, um zusammenzukommen.
Die strategische Verschiebung des Begriffes study legt den Blick frei auf eine verschüttete, aber ebenso reiche und vielfältige Geschichte des Wissens – eine Geschichte des Wissens so ganz abseits der Kennzeichen europäischer Gelehrigkeit: Universität, Text und Archiv. Es findet eine Neubeschreibung dessen statt, was Orte der Intellektualität sind: der Friseur, der Tanzclub, die Versammlung, der Pausenraum der Krankenpfleger_innen, die Fabrik. Es braucht die radikale Umschreibung des kritischen Projekts, die die aktuellen Verteilungslogiken herausfordert, die doch nur die Reproduktion der bildungsbürgerlichen Klasse zu sichern suchen. Es braucht eine Anerkennung jener kritischer Praxen, die schon längst am Werk sind und sich dem Versuch, sie unter das Diktat der Institution, der Verwaltung und der Professionalisierung zu bringen, so kompromisslos entziehen.
[1] Fred Moten / Stefano Harney: The Undercommons. Fugitive Planning & Black Study, Minor Compositions 2013, p. 110
Dieser Text erscheint anlässlich der Ausstellung Studium, nicht Kritik im Corner College Zürich.