Das Potential des Partizipatorischen

Stephen Willats’ «The Book as Interactive Tool: Modelling Book» (1975)

Ausgehend von einem Verständnis von Kunst als Kommunikationsform schuf der britische Künstler Stephen Willats mit seinen Modelling Books ein künstlerisches Medium, mittels dessen er das Beziehungsgeflecht zwischen Künstler*in, Kunstwerk, Publikum und Gesellschaft im Rahmen partizipatorischer Aktionen neu definierte.

Do you like Brand-New-Life?
Become a Member
West London Social Resource Project. 1972

Stephen Willats, The West London Social Resource Project, diagram, 1972-73

«Ultimately I am interested in the idea that reality is our own construction, that we build it and we create the reality we want in our life. There is not only one way of viewing reality.»[1] Beeinflusst von Kybernetik und Lerntheorie interessiert sich Willats für das Verhältnis des Individuums zu seiner Umwelt. Willats versteht seine Arbeit als «gesellschaftlichen Prozess»[2]. Das Kunstwerk als Objekt rückt dabei in den Hintergrund, im Fokus stehen die Teilhabe und Reaktionen der Betrachtenden. So entstehen seine Arbeiten vielfach gezielt außerhalb von klassischen Kunstinstitutionen und suchen in Wohnquartieren, Buchläden, Clubs sowie auf öffentlichen Plätzen die Nähe zu einem nicht primär kunstaffinen Publikum.

In seinem Essay The Book as Interactive Tool: Modelling Book aus dem Jahr 1975 erörtert Willats seine Überlegungen zur Notwendigkeit einer partizipativen künstlerischen Praxis und beschreibt verschiedene Methoden und Verfahren, die er entwickelt hat, um durch Mitbestimmung gekennzeichnete Prozesse zu befördern. Zentrales Motiv des Texts ist Willats` Auffassung, dass die Art und Weise, wie Menschen Informationen verarbeiten, niemals universalistisch gedacht werden kann, sondern von spezifischen sozialen, physischen und normativen Kontexten abhängt. Demzufolge muss Kunst, gerade wenn sie ein Publikum erreichen will, das nur einen mittelbaren Bezug zu ihr hat, in die jeweils spezifische soziale Realität eingreifen und innerhalb der jeweiligen Verhaltensroutinen operieren. Dabei ist für Willats entscheidend, dass seine Arbeit nicht nur das Leben bestimmter Menschen thematisiert, sondern diese Menschen aktiv an seinen Arbeiten mitwirken. Für Willats ist – wie er in The Book as Interactive Tool: Modelling Book beschreibt – das Buch als Medium besonders geeignet für eine partizipative Auseinandersetzung mit einem bestimmten Kontext.[3]

The West London Social Resource Project (1972–73) ist ein frühes Beispiel für Willats` Ansatz. In vier Wohngebieten im Westen Londons konnten sich die Bewohner*innen nach Bekanntmachung des Projekts freiwillig zur Teilnahme entscheiden und erhielten in der Folge ein Exemplar der Broschüre West London Manual. Die verschiedenen, jeweils auf das Projekt zugeschnittenen Modelling Booksregen eine Auseinandersetzung mit dem persönlichen Lebensumfeld der jeweiligen Teilnehmer*innen an, indem ihnen die Möglichkeit geboten wird, sich zu der Situation in ihrem Viertel zu äussern. Zu diesem Zweck enthalten die von Willats konzipierten Modelling Books verschiedene vom Künstler formulierte «problems», die von den Teilnehmer*innen aufgenommen und bearbeitet werden sollen. Diese Problemstellungen können Bilder, Diagramme oder Texte sowie eine konkrete Fragestellung sein, die sich auf die Bilder bezieht. Die «problems» sind dabei von Willats so auf einander abgestimmt, dass jede neue Problemstellung und deren Beantwortung sich auf die vorausgegangenen Fragen bezieht. Folglich baut sich im Verlauf der Arbeit mit dem Modelling Book ein Netz aus Feedbackloops auf. Je länger man mit dem Buch arbeitet, umso komplexer werden die formulierten Probleme sowie die Möglichkeiten diese zu bearbeiten.

Modelling Book

Stephen Willats, Modelling Book, 1975

So enthielt das Handbuch West London Manual (als zum The West London Social Resource Project gehörendes Modelling Book) beispielsweise eine Reihe von Hinweisen und Abbildungen von Objekten, die innerhalb der vier, zum Projekt gehörenden Wohngebiete zu finden waren und zu denen die Projektteilnehmer*innen ihre Assoziationen und Empfindungen notieren konnten. Diese individuellen Ausführungen wurden neben dem Modelling Book auch auf sogenannten Day Sheets notiert, welche von Willats in Form von Stellwänden für eine weitere Auseinandersetzung aufbereitet wurden. In den öffentlichen Bibliotheken der jeweiligen Wohnquartiere wurden die verschiedenen Sheets für alle Bewohner*innen einsehbar ausgestellt. In einem nächsten Schritt erhielten die Teilnehmenden ein weiteres Modelling Book, das West London Re-Modelling Book, mit der Frage, was an ihrem Zuhause und ihrer Nachbarschaft geändert werden sollte. Über die gesammelten Änderungswünsche und -vorschläge wurde abgestimmt und die Ergebnisse dieser «Meinungserhebung» wurden in einem Buch gesammelt, anhand dessen die Teilnehmer*innen die eigenen Wünsche und Vorstellungen für das Miteinander mit denen ihrer Mitteilnehmer*innen vergleichen konnten.[4] Das Modelling Book kann zu einem Blick auf das eigene Umfeld anregen, im Zuge dessen sich auch Möglichkeiten der Veränderung auftuen, um eine Umgebung zu schaffen, welche den eigenen Wünschen und Bedürfnissen entspricht.

West London S.R.Pro0005

Stephen Willats, The West London Social Resource Project, West London Re-Modelling Book, 1972-73

Stephen Willats

Stephen Willats, The West London Social Resource Project, display board, 1972-73

Stephen Willats, display board (detail), The West London Social Resource Project

Stephen Willats, The West London Social Resource Project, display board (detail), 1972-73

So entsteht aus Sicht von Willats mittels solcher, zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Umfeld einladenden, Prozesse eine andere Öffentlichkeit, eine gemeinschaftsorientierte Öffentlichkeit von unten, die gleichzeitig den Anspruch hat, gegen die Dominanz eines verordneten Gemeinwesens zu arbeiten. Für diese Form der Öffentlichkeit prägte Willats den Begriff des «Gegenbewusstseins». Die durch die Modelling Books angeregte Hinwendung zur eigenen Umgebung kann dazu dienen, gesellschaftliche Bedingungen, in denen man sich befindet, bewusster zu machen und im besten Fall Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen. 

Willats’ Praxis stützt sich auf die Ausführungen des Informationstheoretikers Donald M. MacKay, der untersucht hat, wie mentale Bilder und Vorstellungen zu einer Information werden können, die geteilt werden kann. Für MacKay sind Fragen Ausdruck eines unvollständigen Bildes der Welt. In der Beantwortung einer Frage versucht Person A, das Bild des Fragenden (Person B) zu vervollständigen. Das verlangt dabei von Person A, dass sie ihre internen Repräsentationen in einer bestimmten Weise ordnet, diese Ordnung externalisiert und so Person B als «Information» übermittelt. Wenn die Antwort die Lücke vom Fragenden (Person B) nicht schliessen kann, folgen weitere Fragen und Antworten. Es entwickelt sich ein interaktiver Feedback-Mechanismus, der zum Ziel hat, dass am Ende beide Parteien das gleiche Bild haben. Für Willats ist in diesem von MacKay theoretisierten Prozess in erster Linie entscheidend, dass – gerade durch den Einsatz der Modelling Books – die jeweiligen internalisierten Ordnungen und Vorstellungen explizit werden und sich so eine Möglichkeit bietet, die eigene Haltung zu revidieren, neu zu ordnen und zu kombinieren.[5]

Dieses kritische Bewusstsein für die eigene Meinung scheint vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen wichtiger denn je. Die öffentliche Debatte und die mit ihr verbundenen Meinungsbildungsprozesse sind vermehrt durch ein heftiges Aufeinanderprallen verschiedener Haltungen gekennzeichnet, in denen vereinfachende Argumentationsstruktur lediglich der (Selbst-)Vergewisserung der eigenen Position dienen und der Austausch mit dem Gegenüber nur selten ernsthaft angestrebt wird. Eine Verständigung über den bestehenden Dissens bleibt häufig aus. Wie lässt sich also zwischen unterschiedlich Denkenden vermitteln? Wie kann ein Austausch zwischen Gesprächspartner*innen unterschiedlicher Überzeugungen initiiert werden, insbesondere wenn die Themen stark emotional aufgeladen sind? 

Mit diesen Fragen vor Augen möchte ich dafür plädieren, die von Willats genutzte Methode der partizipativen Feedbackschlaufe zu erweitern: von einer Auseinandersetzung mit der konkreten, einen umgebenden Lebenswelt zu einem breiter angelegten Austausch zwischen Menschen mit verschiedenen (politischen) Ansichten. Das in den Modelling Books vorgestellte Wechselspiel aus Frage und Antwort bietet dabei eine Möglichkeit zur Verständigung. Das Ziel muss indessen keinesfalls die Bildung von Konsens oder die vollständige Aussöhnung konträrer Meinungen sein, vielmehr sehe ich das produktive Moment gerade im Bewusstsein um unterschiedliche Meinungen und in der Möglichkeit, Argumente und Haltungen des Gegenübers nachzuvollziehen, ohne sie zwingend teilen zu müssen. Solche Gesprächssituationen gehen von Willats` Idee eines Gegenbewusstseins insofern aus, als dass Gemeinschaft hier nicht als konfliktfreie Harmonie inszeniert wird, sondern die Brüche und Differenzen, die innerhalb einer Gesellschaft bestehen, als solche anerkannt werden. Gleichzeitig zeigen derartige Gesprächssituationen auf, dass der Dialog einen Handlungsspielraum einräumt, sodass die Möglichkeit besteht, durch gezielte Argumentation gegenseitig Einfluss auf die Sicht- und Handlungsweisen zu nehmen. Es wird ein Erleben von Gemeinschaft möglich, die nicht aus unverrückbaren Überzeugungen und Konventionen besteht, sondern vielmehr permanenter Veränderung unterliegt, die durch verschiedene Stimmen geprägt wird. Wenn im Sinne Willats` das Publikum durch ein derartiges Setting eingeladen wird, nicht nur zuschauend, sondern aktiv teilhabend zu sein, so kann man sich als Teil von etwas verstehen, das in sich kein geschlossenes Ganzes ist. Gleichzeitig wird deutlich, dass ein individueller Handlungsspielraum besteht, der sich als grundlegende Möglichkeit äussert, Einfluss auf unsere Umwelt zu nehmen. Eine solche Praxis grenzt sich dabei dezidiert ab von den in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen verbreiteten Einsatz von Partizipation als Teilnahme um der Teilnahme willen – einem reinen Mitmachen, statt Mitwirken.[6] Anders als interaktive Angebote, die zur Ausführung bestimmter Tätigkeiten innerhalb eines künstlerisch abgesteckten Handlungsrahmen einladen und als (theatrale) Inszenierung die (biosozialen) Rollen der Teilnehmenden fokussieren, soll das Partizipatorische – und das ist auch die Auffassung von Willats –die Teilnehmenden gerade nicht zu Statisten machen, sondern sich für eine «erhöhte Wahrnehmung und ein gesteigertes Bewusstsein»[7] auf Seiten des Publikums einsetzen.[8]

[1] Vgl. Stephen Willats, Contexthttp://stephenwillats.com/context/ (letzter Zugriff: 08.12.2018).

[2] Vgl. Anja Casser, Philipp Ziegler: Vorwort, in: Anja Casser, Philipp Ziegler (Hg.), Stephen Willats. Art, Society, Feedback, Nürnberg 2010, S. 12.

[3] Vgl. Stephen Willats, The Book as Interactive Tool, 1975, https://brand-new-life.org/b-n-l-de/book-as-interactive-tool-de/ (letzter Zurgriff: 09.12.2018).

[4] Stephen Willats, The West London Social Resource Project, 1972-3, http://stephenwillats.com/work/west-london-social-resource-project/ (letzter Zugriff: 9.12.2018).

[5] Vgl. Willats, The Book as Interactive Tool, 1975.

[6] Vgl. Anja Piontek, Museum und Partizipation. Theorie und Praxis kooperativer Ausstellungsprojekte und Beteiligungsangebote, Bielefeld 2017, S. 14ff.

[7] Elisabeth Fritz, Authentizität, Partizipation, Spektakel, Köln 2014, S. 28.

[8] Dieses Verständnis von Partizipation muss und kann es auch aushalten, wenn sich der Teilnahme verweigert wird. Die Entscheidung, nicht Teil der Diskussion sein zu wollen und die Auseinandersetzung zu verweigern, muss als gleichwertiger Entschluss begriffen werden, der im Zweifel Impuls für die Diskussion der anderen Teilnehmenden sein kann.