Als Kind wurden mir nicht viele Märchen erzählt. Da die Märchenschallplatte aufgekommen war, sass ich eher vor diesem Modell «Plattenspieler mit eingebauten Lautsprecher» und lauschte der schönen Stimme des Erzählers, anstatt Abends auf Vatis Dornröschen zu warten. Wenn dann mal ein Märchen «in echt» erzählt wurde, hatte dies natürlich prägenden Charakter. «Einer der auszog, das Fürchten zu lernen» kostete mich daher unzählige Wochen Angstträume, oder ein anderes dessen Titel mir so gar nicht mehr einfallen will, beschäftigte mich gar meine ganze Kindheit lang, – und «Voilà», wie wir hier sehen werden, bis heute. In diesem Märchen gibt es einen Kerl, der aus Gründen, die ich alle nicht mehr weiss und mich auch nicht zu interessieren schienen, einen Sack besass, in dem ein Knüppel versteckt war. Wenn er rief: «Knüppel aus dem Sack», sprang tatsächlich ein Knüppel aus diesem Sack heraus und vermöbelte die, die ihm an den Kragen oder anderes Übles wollten.
Ich glaube, es war derselbe Kerl, der auch einen Esel Golddukaten scheissen lassen konnte. Dieser märchenhafte Mr. Hyde war eigentlich ein lieber armer Kerl, dem das Leben, d.h. die bestehenden (Macht) Verhältnisse, ziemlich zugesetzt hatten. Einer ohne Chancen. Der Knüppel, der Dukatenesel und sonst noch was (schaut selbst bei Grimm mal nach) gab dieser Person Macht, die er aufgrund seiner sozialen und ökonomischen Situation nicht besessen hätte. In den philosophieschwangeren Momenten der Adoleszenz wurde dieses Thema von mir immer wieder durchkonjugiert. Was könnte mit dem «Knüppel aus dem Sack» gemeint sein? Wie könnte beispielsweise, ich selbst, die sich zumindestens als zutiefst Missverstandene fühlte, in den Besitz solch eines Instrumentes gelangen? In den wachen Momenten kurz vor dem Einschlafen erträumte ich mir Fähigkeiten, um mit Worten und Taten die Lehrerinnen, Eltern, den Bruder und dessen bescheuerte Freunde so richtig vermöbeln zu können.
Mein Grossvater, der mir diese Geschichte erzählt hatte, weihte mich kurz vor meinem 18. Geburtstag in die Hintergründe dieser Geschichte ein. Sein eigener Grossvater hatte ihm diese nämlich ebenso erzählt, allerdings mit der Zusatzinformation, dass sich im 19. Jahrhundert die SozialistInnen bei den Strassenkämpfen im Ruhrgebiet, das «Knüppel aus dem Sack» als Parole zu riefen. Mein Grossvater erzählte mir auch, wie er einmal als kleiner Junge bei einem Strassenkampf dabei war und sein Grossvater eine Holzlatte mit langem Nagel hervorholte und auf das Pferd eines Polizisten eindrosch, bis der Reiter vom scheuenden, aufgebrachten und blutenden Tier auf die Strasse stürzte, um dort von anderen vermöbelt zu werden. Die sehr plastische Erzählung meines Grossvaters hatte etwa die selbe Wirkung, wie vor Jahren noch «Einer der auszog, das Fürchten zu lernen», und löste gleichzeitig eine unglaubliche Faszination aus.
Genau 18 Jahre später beschäftigt mich die Metapher des «Knüppels» aus einem anderen Grund. Wir befinden uns hier in einem der Zeitschriftenprojekte, die von Künstlerinnen oder besser Kulturproduzentinnen lanciert wurden. Und da das k-Bulletin sich dem Feld der bildenden Kunst noch einmal über dessen Subjektkonstruktionen kritisch nähern will, stellte ich mir die Frage, welche Subjektivität mit der Herausgabe einer oppositionellen Zeitschrift, und dem Schreiben von kritischen Texten gekoppelt ist? Die Tatsache, das die Idee selbst Zeitschriften herauszugeben wieder so attraktiv geworden ist und damit auch die layoutenden, aus alten Illustrierten Bildmaterial sammelnden Menschen rings um mich herum, ebenfalls zunehmen, ist mir persönlich alles andere als unangenehm. Wie steht es aber in diesem Zusammenhang mit dem Vorwurf, dass die Vertreterinnen einer «kritischen kulturellen Praxis» vor allem innerhalb von Texten stattfanden? Hat sich die Kritikerln/Journalistin in dieser Szene zu einem attraktiven Rolemodel gemausert, oder handelt es sich hier um eine Produktionsform, die mit der Kritikerln/JounalistIn gar nicht so viel gemein hat, wie man annehmen möchte?
Homme de Lettre
Die Geste des Kritikers, «Es endlich aussprechen zu können» (die Missstände in den Verhältnissen, die strukturelle Gewalt innerhalb der Systeme und die entsprechenden Gegenentwürfe), sowie die Organe dafür selbst zu erfinden, ähnelt der o.g. Märchenerzählung. Während sie dort mit Geld und Waffen für das Volk – für die macchiavellischen Vorstellung von Machtergreifung – operiert, stützt sich das Herausgeben von oppositionellen Organen auf die Tradition der klassischen Intellektuellen, die im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts, ihre Blüte erlebte. Die Dreyfussaffäre gilt als Geburtsstunde dieser neuen Subjektivität des Intellektuellen – in persona der Künstler/Schriftsteller Emile Zola – der sich in die Belange des Staates schreibend und handelnd einzumischen traute. Während Gustav Courbet und die «Commune» unlängst noch Denkmäler umwarfen und auf die Barrikaden gingen, entwickelte sich aus dem Skandal der Anklage des jüdischen Offiziers Dreyfuss und dem schreibenden Protest Zolas eine neue Figur die den Gestus des Zerstörenden, Rebellierenden, umdeutete in ein «dagegen-anschreiben-Können».
Der Typus des universellen Intellektuellen, des gesellschaftlichen Korrektors, ermöglichte vielen meist männlichen Akteurinnen zu schreiben und damit auch selbstverständlich anzunehmen, dass es immer eine klar zu umreissende AdressatIn dieser Gedanken/Ideen geben würde. Der universelle Intellektuelle war gekoppelt an die Vorstellung der Einheit von Staat, Volk (Masse), Bildungsauftrag und Parlamentarismus. Die Vorstellung von Öffentlichkeit, die mit dieser Subjektivität gekoppelt war, findet sich auch im Modell der Avantgarde und in der Formulierung von Manifesten wieder. Auf die selbsterschaffene Vorreiterrolle des «Aus-Sprechers» folgten der Leitartikel oder der Essay, als neue Gattungen des Schreibens, sowie das Layout, die Vermarktung von Information/Zeitungen, wie auch das Entwerfen von Flugblättern oder Agitprop-Zügen – den fahrenden Organen der russischen Revolution, die Textinformation und Bildinformation zu gestalten begannen. So entstanden auch neue sog. kreative Berufe und Subjektivitäten: Vom Setzer zum Typografen (heute Desktoppublishing), oder vom Illustrator zum Reportagefotographen/Grafiker (heute digitale Bildbearbeitung).
Nach dem zweiten Weltkrieg hatten sich die Rolemodels des universellen Intellektuellen modifiziert und fanden nicht nur allein in der Position des Schreibenden statt, sondern traten auch als politisch handelnde Subjekte in Erscheinung, die an sehr spezifische und dissidente biographische Selbstentwürfe gekoppelt waren (z.B. Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Roland Barthes u.a.).
Dreckige Sprache
Viele Jahre später – nach Monsieur Zola und der Dreyfussaffäre – galt allerdings der schreibende und analysierende «kluge Kopf» aus der Perspektive einer Nach-68er-Generation nicht mehr unbedingt als das Subjekt mit dem «Revolution» zu machen sei. Im Gegenteil hatte sich der Gestus des schreibenden universellen Intellektuellen und das Paradigma von Realismus/Aufklärung und der dazu äquivalenten visuellen Sprache des dokumentarischen verbraucht, oder eher war Konsensmodell und zum Akademismus geworden. Der Popstar/Poet, ein eher Artaud-Rimbaudsches Widerstandsmodel, ersetzte seit den späten 1970er in die Mitte der 1980er Jahre hinein, den analysierenden «Kopf». Diese Entwicklung kann als Prozess der Rückaneignung von Sprache verstanden werden: Die eigenen Sprechakte sollten nicht allein über lehreronkelhaftes Wissen legitimiert werden können.
Seit den späten 1970er Jahren wurde für das Konzept der «dreckigen Sprache», das Umcodieren von Bedeutung/Sinn zur direkten Handlungsmöglichkeit plädiert, um das Projekt der «Aufklärung» und seine institutionell festgeschriebenen Verteilungsstrukturen zu unterlaufen. Diese Ansätze sind als direkte Reaktion auf die noch aus der 68er-Revolte stammende Vorstellung von der Macht der Gegen- Information zu verstehen, die mit ihrem Anspruch auf eine «wahrere und richtigere» Information auf den selben aufklärerischen Grundpfeilern aufbaute, wie die bürgerlichen Organe und Institutionen, die sie kritisierte. Darüberhinaus hatte sich gezeigt, dass über die Verbreitung von «besserem» Wissen allein sich Gesellschaft nicht verändert.
Radio Alice und die OperaistInnen in Italien der späten 70er Jahre, aber auch Malcom McLarren und die Sex Pistols in England, sowie viele Leute anderswo setzten jener Geste des «Besser-Wissens» zwei Strategien gegenüber: Gesellschaftsverändernd zu wirken bedeutete, sich vor allem an eine spezifische Szene (das eigene soziale Umfeld, die eigene Stadt) und nicht an eine Masse oder gar das Volk (die ArbeiterInnen) zu richten. Sprechakte waren immer auch als Selbstermächtigungsakte erkannt worden und eine radikalere Form der Selbstermächtigung hiess dann, dass auch die, die nicht im Bildungssystem verhangen waren (arbeitslose Jugendliche/schlechte SchülerInnen) sich unterschiedlicher Sprachen bedienen konnten. So zielten die provokativen Aktionen wie Jonny Rottens «Fuck the Queen» im Fernsehen, Gitarre spielen mit zwei Griffen und selber Radio machen in das Herz der bürgerlichen und klassenspezifischen Wissensverteilung. Das «Aus-Sprechen» adressierte sich nun nicht mehr an einen breiten Konsens, sondern zielte auf das Überschreiten dieses Konsenses. Das Rolemodel des «Provokateurs» wurde auch in der Kunst schnell aufgegriffen. Sich selbst wichsend im Kino zu malen, oder «an der Gitarre lecken» und Ähnliches versuchte die verzweifelte Adaption der dreckigen Sprache, den Tabubruch in das Visuelle zu überführen.
Der sehr stark männlich besetzte Typus, des sich schlecht benehmenden «Popstarts/Künstlers» löste sich in den 80er Jahren durch seine hypersubjektivistische Ambivalenz letztendlich in den gesellschaftlichen Widersprüchen auf. So waren es gegen Ende der 80er Jahre nicht nur Frauen, die diesen Helden, des sich selbst legitimierenden, radikalsubjektiven Widerstands satt hatten, sondern auch Leute, die sahen wie über Themen wie AIDS öffentlich gleichgeschlechtliche Lebensformen diskriminiert wurden, oder sich der immer alltäglicher werdende Rassismus (in Deutschland) bis zu Brandsätzen und Morden steigerte. Hier konnte es nicht mehr um dreckige Sprache gehen, hier ging es einfach um dreckige Politik.
Theorie, Texte, Layout, Shedhalle (z.B.)
«Ganz grob würde ich versuchen Theorie als den Versuch kennzeichnen, Bedeutung nicht im Gegenstand zu suchen, sondern die Formen seiner Produktion und Rezeption als ausschlaggebend zu betrachten. Für Theorie ist jede Wirklichkeit auch immer Effekt des Diskurses. Ist eine Diskurs-Tatsache einmal geschaffen, dann hat sie spürbare, reale Auswirkungen.» Was die «Texte zur Kunst» Herausgeberin Isabelle Graw hier in dem 1993 gehaltenen Vortrag «Für Theorie» auf dem «Ersten Kongress zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels» bezeichnete, steht für eine ganze Generation, die sich Ende der 80er Anfang der 90er Jahre repolitisierte und Theorieproduktion nicht als akademisches Projekt, sondern als Selbstdenkertum, zurückaneignete. Diese eigene Theorieproduktion oder das Approprieren von Theorie ist gekoppelt an ein neues Subjektverständnis, dessen AkteurIn nicht Schauplatz/Stellvertreterln/Schreibfolie, also Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse ist, und daher «Fuck You» schreit, sondern sich als ein handelndes und politisches Subjekt begreift, das Subjektivität, das eigene Geschlecht, kulturelle oder ethnische Differenz nicht als gegeben annimmt. Die Ich-Form wurde ebenso wie die Rasterfolien Klasse, Rasse und Geschlecht auf ihre gesellschaftliche, politische und kulturelle Konstruiertheit zurückgeführt, und auf ihre Performanz, – das alltägliche Wiedererleben und – praktizieren, der immer selben Diskursanordnungen und Rollen, – der Bedeutung von Institutionen, aber auch Gesetzestexten und Staatskonstruktionen zur Aufrechterhaltung der Unterschiede. Vor dem Hintergrund des französischen Poststrukturalismus und den Texten von Judith Butler und Donna Haraway waren es jetzt vor allem Frauen und Homosexuelle, für die es möglich wurde, sich auch ohne akademische Ausbildung als «Sprechende» und «Theoriebildende» zu begreifen. Auch hier handelte es sich vorerst wieder darum den Akt der Wissensverteilung zu enthierarchisieren.
Diese «Revolution» des Subjektbegriffes Ende der 80er Anfang der 90er Jahre, hatte auch neue Darstellungstechniken und Produktionsmethoden zur Folge. Sie hat neue Text- und Bildformen, aber auch neue Kritikerlnnen- und KünstlerInnenpositionen hervorgebracht.
Es ging darum das Kunstsystem als Teil der gesellschaftlichen Realität zu begreifen und seine Machtverhältnisse (Einschlüsse/Ausschlüsse) thematisierbar zu machen. Das bedeutete auch mitzubestimmen, was Kultur überhaupt sein könnte und führte so zu Formen der Selbstorganisation, wie zu inhaltlich orientierten Ausstellungen, die gesellschaftliche und politische Themen aufgriffen und Akteurinnen aus dem Feld der Nicht-Kunst in diese Auseinandersetzung mit einbezogen. Die Künstlerinnen in den 90er Jahren traten nun nicht mehr nur als «ebensolche» auf, sondern auch als Kritikerln, Vermittlerln und Organisatorln und sprengten so die Enge der Zuständigkeiten des (Kunst) Systems. Statt einzelkünstlerischer Leistungen wurden verschiedene Strategien kollektiver und kollaborativer Arbeit entwickelt. Entweder als Label/Gruppe/Band, als temporärer Zusammenschluss für ein Projekt oder als längerfristig angelegter Arbeitszusammenhang (Schröderstrasse Berlin u.a.). Methodisch wurden Diskussionen aufgegriffen, die bereits in der feministischen Theorie und in anderen linken Zusammenhängen entwickelt worden waren und hierarchisierte Arbeitsverhältnisse zu durchbrechen versuchten. Zeitschriftenprojekte wie «A.N.Y.P.» Berlin, oder «ArtFan» und «Vor der Information» aus Wien müssen in diesem Zusammenhang trotz ihrer inhaltlichen und visuellen Unterschiedlichkeit als Beispiele für ein neues Subjektverständnis der ProduzentIn und ein neues Praxisfeld genannt werden.
Für die Produktion von Ausstellungen entwickelte sich auf der Ebene der Ästhetik, – etwa im Rahmen von «Kontextkunst» und «lnstitutional Critic» oder den Cultural Studies verwandte Praxen – , «die die Bedeutung nicht im Gegenstand suchten, sondern die Formen seiner Produktion und Rezeption als ausschlaggebend betrachteten», eine sehr stark an textuelle Veröffentlichungen erinnernde Darstellungsform. Layout, also Text- und Bildkombinationen, sowie eine neue Liebe zur Typographie und nicht zu vergessen die sog. Zettel- und Aktenästhetik, für die die Shedhalle Mitte der 90er Jahre so «berühmt» geworden ist, bildeten das Verhältnis von Theorie zu Produktion selbst mit ab und wurden Teil eines gesamten Ausstellungslayouts.
Kassandra in der Krise
Diese Präsentationsformen und Darstellungsmethoden, der oben beschriebenen Praxen wurden in der Folge immer wieder als Abgrenzungsargument verwendet, – um diese zu «bashen», als entweder nicht verständlich, zu intellektuell, didaktisch, zu «unkunstig» oder sie wurden einfach nur als «schlecht gemacht» beschrieben, um gleichwohl approbiert und von GaleristInnen und Institutionen vermarktet zu werden.
Die Kritik an der zu stark an Text orientierten Ästhetik und dem damit verbundenen edukativen oder auch «Dienstleistungslook», wie er nicht nur für die Shedhalle Zürich kritisiert wird, geht davon aus, dass es sich im Falle von kulturellen Produktionen (Ausstellungen, Büchern, Zeitschriften) ganz grundsätzlich immer um sehr unterschiedliche Produktionsmethoden und Rezeptionsmuster handeln würde. Das Argument, «Ich lese nun mal nicht in einer Ausstellung, ich lese lieber ein Buch zuhause» vergisst voreilig, dass es die sogenannten «Bücher» die hier ausgestellt waren, so gar nicht gibt, da es sich vorerst einmal um illegitimes Wissen handelte, um jenes dass aus der bürgerlichen Wissensproduktion herausfällt. Darüber hinaus unterstellt es dem Texte-Lesen immer wieder eine völlig andere wahrnehmungstheoretische Dimension gegenüber dem Bild-Anschauen, was nur durch äusserst biologistische Modelle überhaupt zu beweisen wäre und die Performativität dieser Handlungs- und Wahrnehmungsmuster, also ihre diskursive Verhandlung (das Lesen zuhause und das Betrachten von Kunstwerken will gelernt sein) völlig aussen vorlässt. Darüber hinaus muss die Vorstellung «wie eine Ausstellung zu sein hab, um als solche gelesen werden zu können, die Existenz von autonomen visuellen Werken, wie auch universellen Kunsträumen aufrechterhalten und klammert die in diesen «Räumen» (Institutionen, Kunstzeitschriften, Selfmade Projekten) stattfindenden sozialen, ökonomischen und politischen (Tausch) Verhältnisse aus, die jeden Ort oder kulturellen Gegenstand mitbestimmen. Die Perspektive einer «Entweder / Oder» - Produktion (Text/Bild) unterschlägt, dass jedes kulturelle Objekt, will es veröffentlicht sein, immer visuell in Erscheinung treten muss und darüber hinaus an soziale Zusammenhänge gebunden ist. Auch ein Text wird gestaltet und ist letztendlich ein Artefakt. Bei einer Zeitschrift beispielsweise sind äussere Aufmachung und ihr Inhalt schwer voneinander zu trennen, ebensowenig wie von den Autorinnen und deren Subjektivität, die in ihr schreiben und denen die layouten/gestalten. Der Umgang mit Texten und Bildern ist immer auch Teil einer sozialen Sphäre (Szene) und deren Bewertungskanon, in denen sie überhaupt relevant werden. Die Tatsache, dass die Produktion einer Ausstellung wie auch einer Zeitschrift mehr ist als ihre Produkt- und Erscheinungsform, galt am augenfälligsten für die Projekte, an denen sich ProduzentInnen zu längerfristigen Arbeitszusammenhängen zusammengeschlossen haben. Es scheint mir daher interessant zu sein in Zukunft darüber nachzudenken, inwieweit der Produktcharakter selbst, von einer eher performativen Praxis eingeholt wurde und was es für dieses «Produkt» und unserer Rezeption dessen, genau bedeutet.
Für die Kritikerinnen einer «kritischen kulturellen Praxis» schien es bisher bedeutungslos zu sein, dass zumindest bis Mitte der 90er Jahre Ausstellungsprojekte aus der Auseinandersetzung mit den Subjektpositionen der Gendertheorie entstanden sind, und sich «nicht nur mit der Semantik von ‹Geschlecht› befassten, sondern auch zu erfassen versuchten, wo Geschlecht zu Realität wird oder reale Effekte nach sich zieht» (Graw, s.o.). Für KünstlerInnen galt es sich daher auch mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass feministische Projekte über Jahre hinweg mit Körperlichkeit assoziiert worden waren, mit Spiritualität, Wärme, Materialität. Weibliche Ästhetik als sensualistische Bildhaftigkeit hatte sich in den Kunstkörper und die Rezeption von feministischen Positionen eingeschrieben. Subjektivität, Emotionalität und Expressivität waren DIE gesellschaftlichen Gefässe, die Frau in der Kunst zu bespielen hatte. Wenn mit dem Aufkommen einer neuen feministischen Bewegung Anfang der 1990er-Jahre diese Konzepte verworfen wurden, so hatte das gute Gründe, durchaus politische und formale. Die neuen Subjektpostionen ermöglichten ein Überarbeiten und Approprieren des männlich dominierten Konzeptualismus und verliessen das Nähzimmer der Differenz. Gleichzeitig stellte die damit verbundene Praxis den Anspruch der bürgerlichen und eurozentristischen Definitionsmacht über Kunst und Kultur in Frage und damit auch den Anspruch, die Qualität eines kulturellen Produktes rein formal bestimmen zu können.
Das Einschreiben eines kulturellen Projektes, wie das der Shedhalle, in eine feministische Geschichte in den 90er Jahren, schliesst diese Entwicklung mit ein, ist ihr verpflichtet gewesen und hat sie mitbestimmt. Die Ausstellungsformate und -methoden der Umgang mit Theorie, Text, Layout wurde dort in den letzten Jahren überarbeitet, analysiert und diskutiert. Die entsprechende Kritik hat dies nicht getan, sondern verweist von der Beute bis zur Jungle World, bis heute immer auf dasselbe, auf die Ästhetik des Edukativen, Belehrenden, – ohne sich mit der Überarbeitung der Ausstellungsformate nur im geringsten auseinanderzusetzen.
Nun frage ich mich wirklich, was denn genau die ungeheure Provokation gewesen ist, die beispielsweise einen Aktenordner, Kopierer oder ein Flugblatt in einer Kunstinstitution zum vollkommenen Hassobjekt werden liess? Immerhin muss betreffend des Flugblattes gesagt werden, dass es als kulturelles und ästhetisches Objekt erkannt wurde. Das war vorher nicht der Fall. Der Aktenordner und der Kopierer standen nur sehr kurzfristig einmal nicht am «richtigen» Ort, nicht in der Uni, oder im privé Schreibzimmerchen der Kritikerlnnen. Wenn mir selbst die Schulästhetik, die das Environment schlussendlich immer ausstrahlte, ebenfalls auf die Nerven ging, so kann der Akt an sich, das Veröffentlichen von Wissen und Bezügen in diesem Zusammenhang, gerade nicht aus der Tradition der alleinigen Besser-Wisserln verstanden werden, sondern vorerst nur als ihr Gegenteil.
Die lnstitutionalisierung dieses Vergehens als Habitus muss dem gegenüber sehr viel kritischer betrachtet werden.
So müssen sich die warnenden Onkel- und Tantenfinger, die das «Besser-Bescheid»-Wissen zum Beruf gemacht haben, die vor allem schreibenden KritikerInnen, allerdings fragen lassen, welche «didaktische» und «edukative» Geste sich hinter ihrer eigenen Praxis, dem Lüften der Schleier von angeblich «schon längst Gescheitertem» verbirgt. Jetzt, am Ende der 90er Jahre scheint die Frage vielleicht wirklich angebracht, ob Texte/Thesen/Kritiken als letztendlich Diskurs bestimmend verstanden werden sollen. Wenn heute Künstlerlnnen/Kritikerlnnen die Auseinandersetzungen über das «Politische» in der Kunst vor allem, an in textuellen Veröffentlichungen geführten Diskursen festmachen, statt in den Widersprüchen der eigenen Praxis selbst, dann hat eine Verschiebung stattgefunden, die dem Text mehr Bedeutung zumisst, als allen anderen kulturellen Produktionsformen- und äusserungen. Ein allerorts anwesendes «Hast Du schon gelesen, was der oder die, über das oder jenes, geschrieben hat», beherrscht nicht nur die Diskussion um dissidente Ansätze, sondern spielt der eindimensionalen Text/Bildoppositions-These und am Ende der alten Kopf-Handarbeiterlnnendychotomie geradezu in die Arme.
So kann heute die Kritik an Ausstellungsprojekten, die sich inhaltlich mit theoretischen oder politischen Fragestellungen beschäftigen annehmen ins «Schwarze» getroffen zu haben, wenn sie diesen unterstellen können, sich immer nur an die «selben» zu richten. Dabei verlieren sie aber keine Zeile darüber, dass gerade Kunstzeitschriften und der Kunstmarkt ebenso funktionieren. Die traditionellen Organe der bildenden Kunst, der Kunstraum/die Kunstzeitschrift erhalten so, über den Vorwurf der angeblichen «Selbstreferentialität» von selbst- oder kollektiv organisierten Projekten, die Aura der universellen Öffentlichkeit zurück.
Ich will hier ganz und gar nicht eine Systemimanenz des «Oppositionellen» verteidigen, auch nicht die Möglichkeit Kritik zu äussern «bashen», – im Gegenteil! Ich sehe nur das Problem dort, wo die Geste der Selbstermächtigung, den anderen ihr «Nichtwissen» vorzuwerfen dazu führt, sich gegenseitig in nächster Nähe in die Defensive zu setzen und zum Differenzgewinn verkommt. Was zur Folge hat, dass die nächtliche Phantasie von «Knüppeln» (die sich am nächsten morgen als Tastatur des Laptops materialisieren), genau die kulturellen Momente zerstört, die nun mal einen hohen Anteil haben, an der Möglichkeit, Diskussionen und Auseinandersetzungen überhaupt führen, oder neue Methoden denken zu können. Damit meine ich gegenseitiges Interesse und so was wie «gute Momente», die zumindestens in meiner Erfahrung (für die Entwicklung von Ausstellungs-und Veranstaltungsprojekten) die Grundlage für das Vertrauen dargestellt haben, um sich überhaupt aufeinander einzulassen und weiterdenken zu können. Es scheint mir daher von Bedeutung zu sein, den unterschiedlichen Ansätzen oppositioneller Praxen genauer auf die Finger zu schauen, also beispielsweise zu fragen, warum die Haltung der Operaistischen Bewegungen, die das «Auf-sich-selbst- gerichtet- sein», noch als einen politischen Akt verstehen konnte, heute zum Vorwurf werden kann. Das schliesst die Frage mit ein, an wen wir uns selbst richten und an welchem Ort wir uns schlussendlich wieder finden wollen, – wenn es nicht das Lehrerinnenzimmer sein soll.
Kulturelle Produktionen haben neben ihrer physischen Erscheinung immer auch eine performative Bedeutung für soziale Zusammenhänge. Der Entstehungsprozess etwa einer selbstgemachten Zeitung, wie des k-Bulletin in Zürich ist nicht abzukoppeln von dem sozialen und diskursiven Raum, den er erzeugt. Diese Produktionsformen schaffen immerhin so etwas wie einen Ort an dem «gute Momente» möglich sind, an dem über Bilder und Texte als Formen der Auseinandersetzungen von Produzentinnen nachgedacht werden kann, – statt eine Lust daran zu entwickeln den anderen «Knüppel» zwischen die Beine zu werfen. Trotz dem gängigen Vorwurf der Textlastigkeit, findet selbst das Herausgeben von Zeitschriften nun einmal nicht allein über Texte statt.
Zuerst erschienen in: k-Bulletin, Nr. 1, 1999.
Dieser Text erscheint anlässlich der Ausstellung Studium, nicht Kritik im Corner College Zürich.