Paranoides Lesen und reparatives Lesen, oder, Du bist so paranoid, dass Du denkst, dieser Essay ist über Dich

Im Jahr 2003 veröffentlichte Eve Kosofsky Sedgwick das Essay «Paranoid Reading and Reparative Reading. Or, You’re So Paranoid, You Probably Think This Essay Is About You» als Teil der Anthologie Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity. Darin fragt Sedgwick, warum die westliche Kritik vor allem mit paranoiden Lesarten operiert, Lesarten, die darauf abzielen, verborgene Gewaltstrukturen aufzudecken. Sie schlägt einen «reparativen» Ansatz vor, der sich nicht nur darauf konzentriert, was geschrieben, gesagt oder getan wird, sondern auch darauf, wie es getan wird und zu welchem Zweck. Das Essay wird zum ersten Mal auf Deutsch veröffentlicht. Der Text diente als Ausgangspunkt für Geraldine Tedders Essay «You Are Probably Completely Oblivious That This Text Actually Is About You» und wird den Auftakt zu einer Reihe von Texten im Einklang mit Sedgwicks Denken darüber bilden, was es bedeuten könnte, «reparativ» zu lesen und zu schreiben – oder eben genau nicht.
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Stranger Days

Irgendwann in der ersten Dekade der Aids-Epidemie habe ich Cindy Patton, Aktivistin und Freundin von mir, über die natürliche Geschichte von HIV ausgefragt. Zu dieser Zeit kursierten überall Spekulationen darüber, ob der Virus vorsätzlich gezüchtet oder verbreitet wurde, ob HIV ein Komplott oder Experiment des U.S. Militärs war, das ausser Kontrolle geraten war oder vielleicht sogar genau nach Plan verlief. Nachdem ich eine Menge über die geographischen und ökonomischen Aspekte des globalen Handels von Blutkonserven von ihr erfahren hatte, fragte ich sie endlich, nicht ohne einen gewissen Eifer, was sie von diesen dunklen Gerüchten über die Herkunft des Virus hielt. «Jeder einzelne Schritt der Verbreitung könnte entweder versehentlich oder absichtlichen passiert sein», sagte sie, «aber ich habe Schwierigkeiten, mich dafür zu interessieren. Ich meine, selbst wenn wir jedes Element einer Verschwörung nachweisen könnten – dass die Leben von Afrikaner*innen und Afro-Amerikaner*innen in den Augen der Vereinigten Staaten nichts wert sind; dass schwule Männer und Drogenkonsument*innen auf billige Weise dort gehalten werden, wo niemand sie aktiv hasst; dass das Militär vorsätzlich Möglichkeiten erforscht, Nichtkämpfer*innen zu töten, welche es als Feind sieht; dass die Leute an der Macht der Wahrscheinlichkeit von Naturkatastrophen und Bevölkerungswandel ruhig ins Auge sehen. Nehmen wir mal an, wir wären uns all dieser Dinge totsicher – was wüssten wir dann, was wir nicht sowieso schon wissen?»

In den Jahren seit unserer Unterhaltung habe ich viel über die Antwort von Patton nachgedacht. Das was mich, abgesehen von einem gewissen kongenialen, steinerden Pessimismus, am stärksten nachhaltig beeindruckt hat, war das Suggerieren der Möglichkeit, einige der verschiedenen Elemente des intellektuellen Ballasts, den viele von uns unter dem Etikett «Hermeneutik des Verdachts» mit uns herumtragen, freizulegen und aus ihrer ausgeprägten und überdeterminierten historischen Beziehung zueinander zu lösen. Pattons Bemerkung legt nahe, dass jemand mit einer entmystifizierten, wütenden Sicht auf die flächendeckende und von Grund auf systemische Unterdrückung nicht zwangsläufig oder notwendigerweise auf einen bestimmten Zug erkenntnistheoretischer oder narrativer Konsequenzen aufspringen muss. Zu wissen, dass HIV realistischerweise aus einer staatlich geförderten Verschwörung heraus entstanden und verbreitet sein könnte – dieses Wissen kann, wie sich herausstellt, von der Frage getrennt werden, ob die Energien und Ressourcen einer*s bestimmten Aids-Intellektuellen oder -Gruppe tatsächlich am besten dafür verwendet werden, einen solchen möglichen Plot aufzudecken und zu verfolgen. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Obwohl ethisch sehr geladen, ist die Entscheidung nicht selbstverständlich; ob man dieses sehr verlockende Projekt der Verfolgung und Aufklärung durchführen sollte oder nicht, stellt eine strategische und lokale Entscheidung dar und nicht unbedingt einen kategorischen Imperativ. Pattons Antwort schien für mich einen Raum zu öffnen, durch den wir uns von der ziemlich festgefahrenen Frage ‹Ist ein bestimmter Teil von Wissen wahr und wie können wir das feststellen?› wegbewegen können, um uns anderen Fragen zu widmen: Was kann Wissen bewirken – das Streben danach, das Besitzen und das Sichtbarmachen davon und das Wiederlangen von Wissen über das, was man schon weiss? Kurz: Inwiefern ist Wissen performativ und wie bewegt man sich am besten zwischen seinen Ursachen und Wirkungen?

Ich nehme an, dass dies eine recht unspektakuläre Epiphanie zu sein scheint: Festzustellen, dass Wissen eher macht als einfach ist, ist inzwischen Routine. Es scheint jedoch, dass viel von der wirklichen Stärke solcher Entdeckungen durch die gewohnheitsmässigen Praktiken genau jener Methoden kritischer Theorie, die diesen Formeln so weit verbreitet haben, abgestumpft wurde. Insbesondere ist es möglich, dass die sehr produktiven kritischen Gewohnheiten, verkörpert in dem, was Paul Ricoeur denkwürdigerweise die «Hermeneutik des Verdachts» nannte – weit verbreitete kritische Gewohnheiten, die inzwischen beinahe zum Synonym mit der Kritik selbst geworden sind – eine unbeabsichtigt lähmende Nebenwirkung hatten: Eventuell haben sie die Entschlüsselung der lokalen, zufälligen Beziehungen zwischen einem bestimmten Wissen und seinen narrativen/epistemologischen Konsequenzen für den Suchenden, Wissenden oder Erzählenden eher erschwert als erleichtert. 

Ricoeur führte die Kategorie der «Hermeneutik des Verdachts» ein, um die Position von Marx, Nietzsche, Freud und ihren intellektuellen Nachkommen in einem Kontext zu beschreiben, der auch alternative Disziplinen der Hermeneutik, wie zum Beispiel die philologisch-theologische «Hermeneutik der Wiederherstellung von Bedeutung» einschliesst. Seine Absicht, die erste der beiden Begriffe zur Verfügung zu stellen, war eher deskriptiver und taxonomischer als imperativer Natur. Im Zusammenhang mit der neueren kritischen Theorie in den USA, in der Marx, Nietzsche und Freud für sich genommen als durchaus hinreichende Genealogie für den Mainstream der neohistoristischen, dekonstruktiven, feministischen, queeren und psychoanalytischen Kritik angesehen werden, wird die Anwendung einer Hermeneutik des Verdachts meiner Meinung nach jedoch weithin als eine zwingende Verfügung und nicht als eine Möglichkeit unter anderen verstanden. Die Bezeichnung hat genau wie das «Immer historisieren» von Fredric Jamesons so etwas wie einen heiligen Status bekommen – und merkwürdigerweise passen beide gut zusammen. Immer historisieren? Was könnte weniger mit Historisieren zu tun haben als das gebieterische, atemporale Adverb «immer»? Es erinnert mich an die Autoaufkleber, die Leute in anderen Autos dazu auffordern, «Autorität [zu] hinterfragen». Ein ausgezeichneter Ratschlag, aber vielleicht etwas verschwendet an diejenigen, die genau das tun, was man ihnen durch einen im Auto befestigten Papierstreifen befiehlt! Das imperative Framing macht mit einer Hermeneutik des Verdachts die komischsten Dinge. 

Es überrascht nicht, dass die methodologische Schlüsselrolle des Verdachts in der gegenwärtigen kritischen Praxis mit einer begleitenden Privilegierung des Begriffs der Paranoia einherging. In den letzten Absätzen von Freuds Aufsatz über den paranoiden Dr. Schreber diskutiert er eine «auffällige Ähnlichkeit» zwischen Schrebers systematischem Verfolgungswahn und Freuds eigenen Theorie. In der Tat verallgemeinerte Freud später bekanntlich, dass «die Wahnvorstellungen von Paranoikern eine unschätzbare äussere Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft mit den Systematiken unserer Philosophen haben», zu denen er sich selbst zählte.[1] Bei aller Raffinesse mag es durchaus gestimmt haben, dass die vermeintliche Kongruenz zwischen Paranoia und Theorie Freud nicht gefallen hat; aber selbst wenn – sie scheint ihren unangenehmen Beigeschmack inzwischen verloren zu haben. Die Artikulation einer solchen Kongruenz war wahrscheinlich ohnehin unvermeidlich; Ricoeur bemerkt: «Für Marx, Nietzsche und Freud ist die grundlegende Kategorie des Bewusstseins die Beziehung von verstecken-zeigen oder, wenn Sie so wollen, simulieren-manifestieren. Das kennzeichnende Merkmal von Marx, Freud und Nietzsche ist also eine generelle Hypothese, die sowohl den Prozess des falschen Bewusstseins als auch die Methode der Entzifferung betrifft. Beides gehört zusammen, da der Mann des Verdachts umgekehrt das Werk der Falsifizierung des Mannes der Täuschung ausführt».

Der Mann des Verdachts blufft den Mann der Täuschung doppelt: Offenbar ist Paranoia für die Denker*innen nach Freud inzwischen weniger eine Diagnose als ein Rezept geworden. In einer Welt, in der man nicht verblendet sein muss, um Beweise für systemische Unterdrückung zu finden, scheint es mittlerweile naiv, unaufrichtig oder gefügig zu sein, aus etwas anderem als einer paranoiden kritischen Haltung heraus zu theoretisieren. Ich selbst habe keinerlei Bedürfnis, auf den Gebrauch von «paranoid» als pathologisierende Diagnose einzugehen. Aber es scheint mir ein grosser Verlust, wenn die paranoide Forschung völlig mit der kritischen theoretischen Forschung gleichgesetzt wird, anstatt als eine Art von kognitiver/affektiver theoretischer Praxis unter anderen Praktiken.  

Insbesondere die Queer Studies haben eine sehr intime Historie mit dem paranoiden Imperativ, ganz abgesehen von dem Prestige, das der Hermeneutik des Verdachts heute gesamtheitlich anhaftet. Freud führte natürlich jeden Fall von Paranoia auf die Unterdrückung von spezifisch gleichgeschlechtlichem Begehren zurück, sei es bei Frauen oder bei Männern. Und im Allgemeinen wurde von dieser Freud’schen Assoziation in der Psychoanalyse traditioneller, homophober Gebrauch gemacht, indem Homosexuelle als paranoid pathologisiert wurden oder Paranoia als eine charakteristisch homosexuelle Krankheit betrachtet wurde. In seinem Buch Le Desire Homosexuel, das 1972 veröffentlicht und 1978 ins Englische übersetzt wurde, knüpfte Guy Hocquenghem jedoch noch einmal an Freuds Formulierungen an. Er zog daraus eine Schlussfolgerung, welche die schädlichen Ungereimtheiten nicht reproduzieren würde. Wenn Paranoia die Unterdrückung gleichgeschlechtlichen Begehrens widerspiegelt, so argumentiert Hocquenghem, dann ist Paranoia ein einzigartig privilegierter Ort, um nicht wie in der Freud’schen Tradition die Homosexualität selbst zu beleuchten, sondern vielmehr die Mechanismen der homophoben und heterosexistischen Durchsetzung gegen sie. Was durch ein Verständnis von Paranoia veranschaulicht wird, ist nicht das Wesen von Homosexualität, sondern das von Homophobie und Heterosexismus – kurz: Wenn man diese Unterdrückungen als systemisch versteht, versteht man, wie die Welt funktioniert.

Und so wurde Paranoia Mitte der 1980er Jahre zum beliebtesten Objekt antihomophober Theorie. Wie konnte sich Paranoia von ihrem Status so schnell zu einer ausdrücklich legitimierten Methode entwickeln? Ich habe mir mein eigenes Material der 1980er Jahre und das einiger anderer Kritiker noch einmal angeschaut und habe versucht, diesen Übergang nachzuvollziehen – einen Übergang, der heute bemerkenswert erscheint, damals aber, so scheint es mir, die natürlichste Entwicklung der Welt war. Ein Teil der Erklärung liegt in einer Eigenschaft der Paranoia selbst. Mit anderen Worten: Paranoia neigt zur Ansteckung. Genauer gesagt, Paranoia wird von gespiegelten Verhältnissen angezogen und tendiert dazu, diese zu konstruieren – insbesondere symmetrische Epistemologie. Leo Bersani schreibt: «Interesse zu wecken, bedeutet, eine paranoide Lesart zu garantieren, und so müssen wir zwangsläufig misstrauisch gegenüber den Interpretationen sein, die wir anregen. Paranoia ist eine unausweichliche interpretatorische Verdoppelung der Präsenz».[2] Sie setzt einen Dieb darauf an (und wird, wenn nötig, selbst zu einem), einen Dieb zu fangen; sie mobilisiert List gegen Verdacht, Verdacht gegen List; «es braucht einen, um einen zu erkennen.» Eine paranoide Freundin von mir, die glaubt, dass ich ihre Gedanken lese, weiss das, weil sie meine liest. Sie – ebenfalls eine paranoide Schriftstellerin – taucht immer wieder an Tatorten des Plagiats auf, als Täter*innen oder Opfer gleichermassen; eine ebenso streitbare Kollegin, stellt sich mich nicht nur als genauso vertraut mit den Gesetzen der Verleumdung vor wie sie, sondern lässt mich schliesslich auch so werden. (Alle diese Beispiele sind übrigens fiktiv). 

Wenn man bedenkt, dass Paranoia in einem besonders engen Zusammenhang mit der phobischen Dynamik rund um die Homosexualität zu stehen scheint, mag es strukturell unvermeidlich gewesen sein, dass die Auslegungspraktiken, die in antihomophoben Arbeiten am zugänglichsten und fruchtbarsten wurden, oft wiederum paranoid waren. Es muss neben den strukturellen jedoch auch historische Gründe für diese Entwicklung gegeben haben, denn die häufige Begünstigung paranoider Methodologie in neueren nicht-queer-kritischen Projekten, wie die der feministischen, psychoanalytischen und konstruktivistischen Theorie, der marxistischen Kritik oder des Neuen Historismus, ist strukturell weniger leicht zu erklären. Eine kürzlich veröffentlichte Diskussion über Paranoia beruft sich auf «eine populäre Maxime der späten 1960er Jahre: ‹Nur weil man paranoid ist, heisst das nicht, dass sie es nicht auf einen abgesehen haben›».[3] In der Tat scheint es durchaus plausibel, dass eine Version dieses Axioms (so etwas wie Henry Kissingers: «Selbst ein Paranoiker kann Feinde haben») so unauslöschlich in die Gehirne der Babyboomer eingeschrieben ist, dass es uns die fortwährende Illusion bietet, einen besonderen Einblick in die Epistemologie des Feindbildes zu haben. Auch hier habe ich den Eindruck, dass wir diese konstitutive Formulierung so nachdrücklich vertreten, als hätte sie eine selbstverständliche imperative Kraft: Die Feststellung, dass selbst paranoide Menschen Feinde haben, wird so gehandhabt, als ob ihre absolut notwendige Konsequenz die einstweilige Verfügung wäre, «dass man nie paranoid genug sein kann».

Wenn man davon ausgeht, dass das ursprüngliche Axiom wahr ist, macht auch dessen Wahrheitsgehalt einen paranoiden Imperativ noch nicht zur Selbstverständlichkeit. Aus «nur weil man paranoid ist, heisst das nicht, dass man keine Feinde hat», könnte jemand folgern, dass Paranoia kein wirksames Mittel ist, um Feinde loszuwerden. Anstatt zu dem Schluss zu kommen, «dass man nie paranoid genug sein kann», könnte diese Person auch reflektieren: «es heisst also nicht, dass man paranoid sein muss, nur weil man Feinde hat». Noch einmal: Wenn jemand eine unverstellte Sicht auf systemische Unterdrückung hat, bedeutet das nicht, dass sich diese Person an sich oder notwendigerweise für einen bestimmten Zweig erkenntnistheoretischer oder narrativer Konsequenzen verpflichtet. Nicht paranoid zu sein (und natürlich müssen wir diesen Begriff viel genauer definieren) und auch andere Formen des Wissens neben der paranoiden zu praktizieren, bedeutet an sich noch nicht, die Realität oder die Tragweite von Feindschaft oder Unterdrückung zu leugnen. 

Wie können wir Paranoia so verstehen, dass wir sie als eine Art erkenntnistheoretische Praxis unter weiteren, alternativen Praktiken einordnen? Neben Freud scheinen Melanie Kleins (insofern, als dass Paranoia sowohl einen affektiven als auch kognitiven Modus darstellt) und Silvan Tomkins’ Ansätze für diesen Zweck am besten geeignet zu sein. Bei Klein gefällt mir ganz besonders, dass sie das Konzept der Positionen – der schizoiden/paranoiden Position, der depressiven Position – im Gegensatz z.B. zu normativ geordneten Stadien, stabilen Strukturen oder diagnostischen Persönlichkeitstypen verwendet. In Hinshelwoods Dictionary of Kleinian Thought findet man hierunter: «Der Begriff ‹Position› beschreibt die charakteristische Haltung, die das Ego in Bezug auf seine Objekte einnimmt. Mit der Idee der Position wollte [Klein] ein viel flexibleres Hin-und-Her zwischen dem einen und dem anderen vermitteln, als es normalerweise mit der Regression auf Fixpunkte in den Entwicklungsphasen beabsichtigt ist».[4] Die flexible Hin-und-Her-Bewegung, die in den Klein’schen Positionen impliziert ist, wird für meine Diskussion paranoider und reparativer kritischer Praktiken von Bedeutung sein, und zwar nicht als theoretische Ideologie (und schon gar nicht als stabile Persönlichkeitstypologie von Kritikern), sondern als eine sich verändernde und heterogene, relationale Haltung.

Das grösste Interesse von Kleins Konzept liegt meines Erachtens darin, dass sie die paranoide Position immer im oszillierenden Kontext einer möglichen anderen Position sieht: der depressiven Position. Für das Kind oder den Erwachsenen bei Klein ist die paranoide Position – nachvollziehbar geprägt von Hass, Neid und Angst – eine Position der schrecklichen Wachsamkeit gegenüber den Gefahren, die von den hasserfüllten und neidischen Teilobjekten ausgehen, die man defensiv in die Welt um einen herum projiziert, aus ihr herausschneidet und von ihr aufnimmt. Im Gegensatz dazu ist die depressive Position eine angstlösende Errungenschaft, die es dem Kind oder dem Erwachsenen nur manchmal und oft nur kurzzeitig gelingt einzunehmen: Dies ist die Position, von der aus es wiederum möglich ist, die eigenen Ressourcen zu nutzen, um die mörderischen Teilobjekte zu etwas wie einem Ganzen zusammenzufügen oder zu «reparieren» – allerdings, das möchte ich betonen, ist das nicht das Gleiche wie irgendein bereits bestehendes Ganzes. Sobald es nach den eigenen Kriterien zusammengesetzt ist, steht ein angenehmeres Objekt zur Verfügung, mit dem man sich identifizieren kann und das einem im Gegenzug Nahrung und Komfort bietet. Unter anderem gehört zu diesem reparativen Prozess bei Klein auch die Liebe.

Angesichts der Instabilität und der gegenseitigen Einschreibung in die Klein’sche Vorstellung von Positionen, bin ich im vorliegenden Projekt auch daran interessiert, den weitreichenden reparativen Praktiken gerecht zu werden, die, davon bin ich überzeugt, selbsterklärend paranoide kritische Projekte durchdringen, ebenso wie den paranoiden Notwendigkeiten, die oft für nicht-paranoides Wissen und Äusserungen erforderlich sind. So stützte sich Pattons ruhige Reaktion auf meine Frage bezüglich der Ursprünge von HIV zum Beispiel auf eine Menge eigener und fremder Forschung, die zum grossen Teil paranoid strukturiert sein musste.

Der Einfachheit halber leihe ich mir meine kritischen Beispiele im Folgenden von zwei einflussreichen Studien aus dem letzten Jahrzehnt – die eine könnte man grob dem Bereich der Psychoanalyse und die andere ungefähr dem Neuen Historismus zuordnen. Ich tue dies jedoch nicht nur aus Gründen der Einfachheit, denn beide Bücher (Judith Butlers Gender Trouble und D. A. Millers The Novel and the Police) haben eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung meines eigenen Denkens und der kritischen Bewegungen, die mich am meisten interessieren. Sie sind Beispiele bemerkenswerter Kraft und Vorbildlichkeit. Interessanterweise stehen auch sie in einem stillschweigenden oder scheinbar marginalen, aber im Nachhinein originellen und autorisierenden Verhältnis zu verschiedenen Strömungen der Queer-Theorie. Schliesslich erlaube ich mir Zuspruch aus der Tatsache zu holen, dass keines der beiden Bücher mehr sehr repräsentativ für das jüngste Werk ihrer Autor*innen ist, so dass Beobachtungen über die Lesepraxis beider Bücher, so hoffe ich, nicht allegorisch an den Namen des Autors/der Autorin haften bleiben müssen.

Ich möchte damit beginnen, jede Überschneidung zwischen Paranoia an sich und den Zuständen, die vielfach als Dementia praecox (Kraepelin), Schizophrenie (Bleuler) oder allgemeiner als Wahn oder Psychose bezeichnet werden, aus dieser Diskussion auszuschliessen. Wie Laplanche und Pontalis anmerken, hat die Geschichte der Psychiatrie sich an verschiedenen Modellen dieser Überschneidungen versucht: «Kraepelin unterscheidet klar zwischen Paranoia auf der einen Seite und der paranoiden Form der Dementia praecox auf der anderen Seite; Bleuler behandelt Paranoia als eine Unterkategorie von Dementia praecox oder der Gruppe der Schizophrenien; Freud hingegen war durchaus bereit, bestimmte so genannte paranoide Formen von Dementia praecox unter das Dach der Paranoia einzuordnen. Zum Beispiel ist Schrebers Fall von «paranoider Demenz» in Freuds Augen in ihrem Wesen eine tatsächliche Paranoia [und daher keine Form von Schizophrenie]».[5] In Kleins späteren Schriften wird das Auftreten von psychotisch-artigen mentalen Ereignisse inzwischen sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen als universell angesehen, so dass Mechanismen wie Paranoia einen klaren ontologischen Vorrang vor diagnostischen Kategorien wie Demenz haben. Der Grund, warum ich im Voraus auf diesen Schritt bestehe, ist, dass ich noch einmal versuche möchte, die Frage des Wahrheitswertes hypothetisch von der Frage der performativen Wirkung zu trennen.

Der Hauptgrund, warum ich paranoide Praktiken infrage stelle, ist ein anderer, als dass ihr Verdacht irreführend oder einfach falsch sein könnte. Gleichzeitig könnten die Hauptgründe für das Praktizieren paranoider Strategien andere sein als die Möglichkeit, dass sie einen einzigartigen Zugang zu wahrem Wissen bieten. Sie stellen u.a. eine Möglichkeit dar, Wissen zu suchen, zu erlangen und zu organisieren. Paranoia kennt sich mit einigen Dinge gut aus und mit anderen schlecht.

Ich möchte jetzt so etwas wie eine Phantomzeichnung dessen anfertigen, was ich in diesem Zusammenhang unter Paranoia verstehe - nicht als ein Instrument der Differentialdiagnose, sondern als ein Instrument, die Differenzen der unterschiedlichen Praktiken besser erkennen zu können. Meine Haupttitel sind: 

Paranoia ist antizipatorisch.
Paranoia ist reflexiv und mimetisch
Paranoia ist eine starke Theorie.
Paranoia ist eine Theorie der negativen Affekte
Paranoia vertraut auf Enthüllung.

PARANOIA IST ANTIZIPATORISCH

Dass Paranoia antizipatorisch ist, geht aus jeder Darstellung und Theorie des Phänomens hervor. Das erste Gebot der Paranoia lautet: Es darf keine bösen Überraschungen geben. Und in der Tat scheint die Abneigung gegen Überraschungen das zu sein, was die Intimität zwischen Paranoia und Wissen an sich zementiert, einschliesslich der Epistemophilie und des Skeptizismus. D. A. Miller schreibt in The Novel and the Police: «Die Überraschung ... ist genau das, was der Paranoiker zu beseitigen sucht. Im Ernstfall jedoch überlebt er sie dadurch, dass er sie als abschreckenden Ansporn liest: Man kann nie paranoid genug sein»[6].

Die einheitlich zukunftsorientierte Wachsamkeit der Paranoia erzeugt paradoxerweise ein komplexes Verhältnis zur Zeitlichkeit, das sich sowohl rückwärts als auch vorwärts windet: Weil es keine bösen Überraschungen geben darf und weil das Erkennen der Möglichkeit einer bösen Überraschung selbst eine böse Überraschung darstellen würde, verlangt die Paranoia, dass schlechte Nachrichten immer schon bekannt sind. Wie Millers Analyse ebenfalls suggeriert, sind sowohl der zeitliche Fortschritt als auch der zeitliche Rückschritt der Paranoia prinzipiell unendlich. Daher, so vermute ich, kommen vielleicht Butlers wiederholte und äusserst gründliche Darstellungen in Gender Trouble darüber, dass es keinen Zeitpunkt vor der Auferlegung des totalisierenden Gesetzes der Geschlechterdifferenz gegeben haben kann; daher ihre unruhige Wachsamkeit für Spuren in der Nostalgie anderer Theoretiker*innen, die auf einen solchen unmöglichen früheren Zeitpunkt hinweisen könnten. Kein Zeitpunkt kann zu früh sein für das Schon-Gewusst-Haben, dass etwas Schlimmes passieren würde, oder dessen Bereits-Unvermeidlich-Gewesen-Sein. Und kein Verlust könnte so weit in der Zukunft liegen, ihn präventiv zu vernachlässigen.

PARANOIA IST REFLEXIV UND MIMETISCH

Bei der Feststellung des offenbar ansteckenden Tropismus der Paranoia in Hinblick auf die gleichgeschalteten Strömungen der Erkenntnistheorie habe ich mich, wie bereits erwähnt, auf die doppelte Funktion der Paranoia als reflexiv und mimetisch gestützt. Um verstanden zu werden, muss Paranoia anscheinend imitiert werden, und andersherum scheint Paranoia nur durch Nachahmung zu verstehen. Paranoia unterbreitet Folgendes: Egal, was du (mir) antun kannst – ich kann noch viel Schlimmeres tun. Und: Alles, was du (mir) antun kannst, kann ich zuerst antun – und zwar mir selbst. In The Novel and the Police wird Miller viel expliziter als Freud, indem er sich zwei Behauptungen zu eigen macht. Erstens, dass man Paranoia nur versteht, wenn man selbst paranoides Wissen praktiziert, und zweitens, dass die Art und Weise, wie Paranoia etwas versteht, darin liegt, es zu imitieren und zu verkörpern. Dass Paranoia sich weigert, lediglich entweder eine Art zu wissen oder ein Objekt des Wissens zu sein, und sich anstatt dessen durch einen beharrlichen Tropismus gegenüber der Besetzung beider Positionen abgrenzt, wird auf gewitzte Weise auf der ersten Seite dieser massgeblichen Studie über Paranoia in Szene gesetzt: Ein Vorwort mit dem Titel «Aber Offizier ...» beginnt mit einem bereits-nachträglich-angezweifelten Satz, in welchem es darum geht, wie «selbst die langweiligste (oder beherzteste) ‹wissenschaftliche Arbeit› befürchtet, in Schwierigkeiten zu geraten» – einschliesslich jener Schwierigkeiten «mit den Gegnern, deren einzelnen Angriffe sie nicht aufhört, vorauszusehen».[7] Wie der letzte Absatz des Buches über David Copperfield festhält, imitiert auch Miller «überall ein ... Muster, in dem das Subjekt sich selbst ‹gegen› Disziplin konstituiert, indem es diese Disziplin in seinem eigenen Namen» oder sogar seinen eigenen Körper übernimmt.[8] 

Es ist also nicht verwunderlich, dass Paranoia, sobald das Thema in einem nicht-diagnostischen Kontext angesprochen wird, wie ein Kristall in einer übersättigten Lösung zu wachsen scheint und jeden Gedanken an die Möglichkeit alternativer Verständnisweisen oder anderweitig zu verstehender Sachverhalte auslöscht. Ich werde später noch auf einige Implikationen des Stellenwerts der Paranoia als in diesem Sinne zwangsläufig «starke Theorie» eingehen. Noch wichtiger ist aber vielleicht das Ausmass, indem der Nachahmungscharakter der Paranoia ihr Potenzial als Medium des politischen oder kulturellen Kampfes umschreibt. In einem Essay von 1986 (in dem ich mich zufällig ganz implizit auf eines der Essays bezog, die später in The Novel and the Police gesammelt wurden) verwies ich auf Folgendes: «Das Problem hier ist nicht einfach, dass Paranoia eine Form der Liebe ist, denn was ist – in gewissen Sprachen – nicht Liebe? Das Problem ist vielmehr, dass von allen Formen der Liebe die Paranoia die asketischste ist – die Liebe, die seinem Objekt am wenigsten abverlangt. Die wunderbare Erzählung des Foucault’schen Paranoikers, der das gleichzeitige Chaos der Institutionen in ein fortlaufendes, todernst-elegantes Diagramm von spiralförmigen Fluchten und Wiedereroberungen verwandelt, ist auch das Angebot des paranoiden Subjekts an sich selbst und seine kognitive Begabung. Es ist nun zu allem bereit, was es in Form von Schmeicheleien oder Gewalt präsentieren kann, als ein ‹Ordnung der Dinge›-Mosaik, dem bis dahin nur die Erzählbarkeit, ein Körper und eine Erkenntnis gefehlt hatte».[9]

Auf die Gefahr hin, schrecklich reduktiv zu sein, vermute ich, dass dieser antizipatorische, mimetische Mechanismus uns auch einen Einblick in ein wichtiges Merkmal der jüngsten feministischen und queeren Formen der Psychoanalyse gewähren könnte. Abgesehen von Lacan träumen nur wenige wirkliche Psychoanalytiker davon, so rigoros, wie es viele widerständige Theoretiker*innen tun – und von denen Butler bei weitem nicht die zielstrebigste ist – darauf zu bestehen, die unerbittliche, nicht reduzierbare, nicht umschiffbare, allgegenwärtige Zentralität der Fakten (wie fiktiv sie auch sein mögen) der «sexuellen Differenz» und des «Phallus» an jedem psychischen Punkt zu statuieren. Diesen oft tautologischen Arbeiten ist nur schwer zu entnehmen, dass die Geschichte des psychoanalytischen Denkens – von Freud an, einschliesslich u.a. späterer Schriften von Melanie Klein – reichhaltig divergierende, heterogene Werkzeuge für das Denken über Aspekte der Persönlichkeit, des Bewusstseins, des Affekts, der Abstammung, der sozialen Dynamik und der Sexualität bietet, die zwar für die Erfahrung von Geschlecht und Queerness relevant sind, die aber oft keineswegs zentral um die «sexuelle Differenz» herum strukturiert sind. Nicht, dass sie unbedingt vor der «sexuellen Differenz» angesiedelt sein müssen: Vielleicht wurden sie auch einfach nur irgendwo am Rande davon konzeptualisiert, lediglich indirekt, bedingt oder sogar gar nicht mit ihr verwandt.

Augenscheinlich könnte das Reservoir solchen Denkens und solcher Spekulationen eine wichtige Ressource für Theoretiker darstellen, die sich dem Nachdenken über das menschliche Leben auf andere Weise verpflichtet fühlen, als durch die vorurteilhaften geschlechtsspezifischen Verdinglichungen, die in der Psychoanalyse sowie in anderen Projekten der modernen Philosophie und Wissenschaft üblich sind. Was stattdessen passiert ist, ist meiner Meinung nach das Folgende: Als erstes haben Feminist*innen und Queers durch, nennen wir es, aufmerksames Durchleuchten zu Recht verstanden, dass kein Thema oder Bereich des psychoanalytischen Denkens a priori für immun gegen den Einfluss solcher geschlechtsspezifischen Verdinglichungen erklärt werden kann. Zweitens jedoch – und das scheint mir unnötig und oft schädlich – hat das Fehlen einer solchen a priori-Immunität, das Fehlen eines garantierten nicht-vorurteilsfreien Ausgangspunkts für feministisches Denken innerhalb der Psychoanalyse dazu geführt, dass einige Denker eine vorausschauende mimetische Strategie anwenden, bei der eine bestimmte, stilisierte Gewalt der sexuellen Differenzierung immer vorausgesetzt oder unterstellt – wenn nötig sogar aufgezwungen – werden muss, einfach mit der Begründung, dass sie niemals endgültig ausgeschlossen werden kann. (Mit der Verwendung von «mimetisch» möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass der Einsatz von psychoanalytischen Geschlechterkategorien entweder unkritisch oder identisch mit den Originalen sein müssen. Butler, um nur ein Beispiel zu nennen, hat uns einen viel weniger abgestumpften Gebrauch des «Mimetischen» beigebracht.) Aber in dieser post-Lacan’schen Tradition muss psychoanalytisches Denken in etwa, das nicht in erster Linie die phallische «sexuelle Differenz» in seinem Zentrum hat, scheinbar erst in diese Sprache übersetzt werden – mit was für verzerrten Ergebnissen auch immer – bevor es für irgendwelche anderen theoretischen Zwecke verwendet werden kann. Die bedingt möglichen Alternativen zum Denken durch «sexuelle Differenz» werden dem paranoiden Imperativ untergeordnet, sodass die Gewalt einer solchen Verdinglichung der Geschlechter, wenn sie nicht im Voraus definitiv gestoppt werden kann, zumindest nie als Überraschung auf irgendeiner konzeptuellen Bildfläche ankommen darf. In einer paranoiden Sichtweise ist die Gefahr, dass eine solche Verdinglichung jemals unvorhersehbar wäre, schwerwiegender, als dass sie oft unangefochten bleiben könnte.

PARANOIA IST EINE STARKE THEORIE

Aus eben solchen Gründen führt Silvan Tomkins Paranoia in seinen Texten als das Beispiel schlechthin für seine Starke Affekttheorie an – in diesem Fall eine starke Theorie der Erniedrigung und der Erniedrigungsangst. Wie in Kapitel 3 erläutert wird, hat Tomkins’ Verwendung des Begriffs «starke Theorie» – und tatsächlich seine Verwendung des Begriffs «Theorie» überhaupt – so etwas wie eine doppelte Wertigkeit. Er geht über Freuds Überlegungen zu möglichen Ähnlichkeiten, etwa zwischen Paranoia und Theorie, hinaus; nach Tomkins, der stark durch das Interesse der frühen Kybernetik an Rückkopplungsprozessen geprägt ist, ist das kognitive/affektive Leben aller Menschen nach alternativen, sich verändernden, strategischen und hypothetischen Affekttheorien strukturiert. Folglich gäbe es von Anfang an keinen ontologischen Unterschied zwischen den theorisierenden Handlungen eines Freud und denen etwa eines*r seiner Analysierten. Tomkins behauptet nicht, dass es in Freuds Theorie keine Metaebene der Reflexion gibt, sondern dass der Affekt selbst, der gewöhnliche Affekt, zwar irreduzibel körperlich ist, aber durch den Rückkopplungsprozess auch zentral von seinem Zugriff auf eben solche theoretischen Metaebenen geprägt wird. Nach Tomkins gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen jener Affekttheorie im Sinne der wichtigen expliziten Theoretisierung, die einige Wissenschaftler und Philosophen in Bezug auf Affekte vornehmen, und jener Affekttheorie im Sinne der weitgehend stillschweigenden Theoretisierung, die alle Menschen vornehmen, wenn sie ihre eigenen oder die Affekte anderer erleben und versuchen, mit ihnen umzugehen.

Paranoia als eine starke Theorie zu bezeichnen, heisst also gleichzeitig, sie als eine grosse Errungenschaft zu beglückwünschen (sie ist eine starke Theorie, so wie Milton für Harold Bloom ein starker Dichter ist), aber sie auch zu klassifizieren. Sie ist eine Affekttheorie unter vielen und Tomkins’ Darstellung zufolge ist es wahrscheinlich, dass eine Reihe von zusammenhängenden Affekttheorien unterschiedlicher Art und Stärke das psychische Leben eines jeden Individuums ausmachen. Am deutlichsten zeigt sich, dass die starke Theorie bei Tomkins im Gegensatz zur schwachen Theorie steht, wobei sich der Kontrast nicht in jeder Hinsicht positiv auf die starke Sorte auswirkt. Die Reichweite und Reduzierbarkeit einer starken Theorie, d.h. ihre konzeptuelle Ökonomie oder Eleganz, haben sowohl Vorteile als auch Defizite. Was die starke Theorie bei Tomkins ausmacht, ist letztendlich nicht, wie gut sie negative Affekte vermeidet oder positive Affekte aufspürt, sondern die Grösse und Topologie des Bereichs, den sie strukturiert. «Jede Theorie von grosser Allgemeingültigkeit», schreibt er,  

ist in der Lage, ein breites Spektrum von Phänomenen zu berücksichtigen, die sehr weit voneinander entfernt zu sein scheinen, eines vom anderen und von einer gemeinsamen Quelle. Dies ist ein allgemein akzeptiertes Kriterium, anhand dessen die Aussagefähigkeit jeder wissenschaftlichen Theorie bewertet werden kann. In dem Masse, in dem die Theorie nur «nahe» Phänomene erklären kann, ist sie eine schwache Theorie, kaum besser als eine Beschreibung der Phänomene, die sie zu erklären vorgibt. Indem sie immer mehr weiter voneinander entfernte Phänomene unter einer einzelnen Formel zusammenbringt, wächst ihre Macht. Eine Theorie der Erniedrigung ist in dem Maße stark, in dem sie es einerseits ermöglicht, immer mehr Erfahrungen als Erfahrungen der Erniedrigung zu erfassen, oder aber in dem Masse, in dem sie es ermöglicht, solche Eventualitäten mehr und mehr zu antizipieren, bevor sie tatsächlich eintreten.[10]

Wie aus dem Beitrag hervorgeht, wird eine Theorie der Erniedrigung bei weitem nicht dadurch stärker, dass sie die Erniedrigung vermeidet oder mildert, sondern genau dann, wenn sie es nicht tut. Tomkins’ Schlussfolgerung ist nicht, dass jede starke Theorie ineffektiv ist – sie könnte sich im Gegenteil geradezu als zu effektiv erweisen – sondern dass «die Affekttheorie effektiv sein muss, um schwach zu sein»: «Es wird jetzt etwas klarer, dass eine beschränkte und schwache Theorie das Individuum zwar nicht immer erfolgreich vor negativen Auswirkungen schützen kann, es aber schwierig ist, schwach zu bleiben, wenn sie dies nicht tut. Umgekehrt gewinnt eine negative Theorie des Affekts paradoxerweise an Stärke, aufgrund des andauernden Scheiterns ihrer Strategien, Schutz durch die erfolgreiche Vermeidung der Erfahrung des negativen Affekts zu bieten. … Es ist die wiederholte und scheinbar unkontrollierbare Ausbreitung der Erfahrung des negativen Affekts, welche die zunehmende Stärke einer ideo-affektiven Struktur ausmacht, die wir eine Theorie des starken Affekts nennen.».[11] 

Eine Affekttheorie ist unter anderem ein Modus des selektiven Abtastens und Verstärkens; aus diesem Grund läuft jede Affekttheorie Gefahr, gewissermassen tautologisch zu sein. Wegen ihrer grossen Reichweite und ihrer rigorosen Exklusivität läuft eine starke Theorie jedoch Gefahr, stark tautologisch zu sein:

Wir haben festgestellt, dass die monopolistische Theorie der Erniedrigung überstrukturiert ist. Damit meinen wir nicht nur, dass es eine übersteigerte Integration zwischen Teilsystemen gibt, die normalerweise unabhängiger voneinander sind, sondern auch, dass jedes Teilsystem im Interesse der Minimierung der Erfahrung von Erniedrigung übermässig spezialisiert ist. … Der gesamte kognitive Apparat befindet sich in ständiger Wachsamkeit gegenüber Möglichkeiten, ob unmittelbar oder entlegen, mehrdeutig oder klar.

Wie bei jeder hochgradig organisierten Bemühung um Aufdeckung wird auch hier so wenig wie möglich dem Zufall überlassen. Die Radarantennen werden überall dort angebracht, wo ein Angriff des Feindes möglich erscheint. Geheimdienstler können selbst unwahrscheinliche Gespräche überwachen, wenn die Chance besteht, dass von aussen etwas Relevantes entdeckt werden kann oder wenn die Aussicht besteht, dass zwei unabhängige Teilinformationen zusammengenommen einen Hinweis auf die Absichten des Feindes geben könnten. … Vor allem aber gibt es eine durchstrukturierte Methode, Informationen so zu interpretieren, dass das möglicherweise Relevante schnell abstrahiert und vergrössert und der Rest verworfen werden kann.[12]

So kommt es vor, dass eine Erklärungsstruktur, die dem Leser als tautologisch vorkommen mag – da sie weder hilft, noch jemals endet, noch sonst irgendetwas tut, abgesehen davon, dieselben Annahmen zu beweisen, mit denen sie begonnen hat – vom Fachmann als ein triumphaler Fortschritt in Richtung Wahrheit und Rechtfertigung erlebt werden kann.

Meistens sind die Rollen in diesem Drama jedoch vielfältiger oder weitläufiger verteilt. Ich nehme an, dass nicht viele Leser – und in diesem Zusammenhang auch nicht der Autor – sehr überrascht wären, wenn sie hören würden, dass das Hauptargument oder die starke Theorie in The Novel and the Police vollkommen kreisförmig ist: Alles kann als ein Aspekt des Gefängnishaften verstanden werden, deshalb ist das Gefängnishafte überall. Aber wer liest The Novel and the Police, um herauszufinden, ob das Hauptargument wahr ist? Ähnlich wie bei den Tautologien der «sexuellen Differenz», öffnet auch in diesem Fall gerade jene Reichweite, die die Theorie stark macht, den Raum für einen Reichtum an klanglichen Nuancen, Attitüde, weltlicher Beobachtung, performativem Paradoxon, Aggression, Zärtlichkeit, Witz, erfinderischer Lektüre, obiter dicta und schriftstellerischem Elan – und dies macht sich Millers Buch zunutze. Die Anreize sind so lokal und häufig, dass man sagen könnte, dass eine Fülle nur lose verwandter schwacher Theorien eingeladen wurde, sich in der übersteigerten Umarmung der starken Theorie zu verstecken, die das gesamte Buch umfasst. In vielerlei Hinsicht ist ein solches Arrangement von Vorteil – es ist suggestiv, unterhaltsam und höchst produktiv; das Beharren darauf, dass alles die gleiche Sache bedeutet, erlaubt gewissermassen ein geschärftes Gespür für alle möglichen Arten und Wege, wie es dies bedeutet. Aber man braucht gar nicht die unendlich vielen von Student*innen und anderen Kritiker*innen abgeleitete Umformulierungen dieser verbissen starken Theorie des Buches zu lesen, um an die Grenzen der unausgesprochenen Beziehung zwischen starken und schwachen Theorien zu stossen. Als starke Theorie und Ort reflexiver Mimese ist Paranoia ausgesprochen lehrreich. Die gewaltig umfassende und reduktive Kraft einer starken Theorie macht es schwer, tautologisches Denken zu identifizieren, auch wenn es gerade dadurch zwingend und nahezu unvermeidlich wird; als Folge dessen kann es vorkommen, dass sowohl Verfasser*innen als auch Leser*innen auf fatale Weise missverstehen, ob und wo wirkliche konzeptuelle Arbeit geleistet wird und was genau diese Arbeit ist.

PARANOIA IST EINE THEORIE NEGATIVER AFFEKTE

Während Tomkins zwischen einer Reihe qualitativ unterschiedlicher Affekte unterscheidet, gruppiert er für bestimmte Zwecke einige Affekte auch lose als positiv oder negativ zusammen. In diesem Sinne ist Paranoia nicht nur dadurch zu definieren, dass sie eine starke Theorie im Gegensatz zu einer schwachen Theorie ist, sondern auch dadurch, dass sie eine starke Theorie eines negativen Affekts ist. Dies erweist sich als wichtig im Hinblick auf die übergeordneten affektiven Ziele, die Tomkins in jedem Individuum als potenziell widersprüchlich zueinander betrachtet: Er differenziert in erster Linie zwischen dem allgemeinen Ziel auf der einen Seite, negative Auswirkungen zu minimieren, und auf der anderen Seite, positive Auswirkungen zu maximieren. (Die anderen bzw. anspruchsvolleren Ziele, die er nennt, sind die Minimierung der Affekthemmung und die Maximierung der Fähigkeit, die vorhergehenden drei Ziele zu erreichen.) In den meisten Praktiken – sowie Leben – gibt es kleine und subtile (wenn auch in der Summe schlagkräftige) Verhandlungen zwischen und unter diesen Zielen. Die ausufernde, sich selbst bestätigende Macht einer monopolistischen Strategie der Antizipation negativer Affekte jedoch, kann laut Tomkins dazu führen, dass das potenziell operative Ziel – die Suche nach positiven Affekten – völlig blockiert wird. «Der einzige Punkt, an dem [der Paranoide] überhaupt nach positivem Affekt streben kann, ist der Schutz, den dieses Streben gegen die Erniedrigung in Aussicht stellt», schreibt er. «Die Strategie der Maximierung des positiven Affekts ernst zu nehmen, anstatt ihn einfach zu geniessen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, kommt überhaupt nicht in Frage».[13]

Auch in Kleins Texten aus den 1940er und 1950er Jahren stellt sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen der Übergang zur anhaltenden Suche nach Wohlbefinden (durch die reparativen Strategien der depressiven Position) eine wahre Errungenschaft dar. Diese ausgeprägte, oft riskante Positionsverschiebung tritt anstelle der ansonsten weiterhin selbstverstärkenden, weil selbstzerstörerischen Strategien zur Verhinderung von Schmerz, welche die paranoid/schizoide Position bietet. Wahrscheinlich ist es bei Diskussionen über die depressive Position bei Klein eher üblich, zu betonen, dass diese Position ethische Möglichkeiten eröffnet – in Form einer schuldigen, einfühlsamen Sicht des anderen als gleichzeitig gut, beschädigt, wesentlich sowie Liebe und Fürsorge verlangend und hervorrufend. Eine solche ethische Möglichkeit beruht jedoch auf – und ist deckungsgleich mit – der Bewegung des Subjekts hin zu dem, was Foucault als «Sorge um das Selbst» bezeichnet. Es handelt sich hierbei oft um das sehr zerbrechliche Anliegen, das Selbst mit Wohlbefinden und Nahrung in einer Umgebung zu versorgen, die als nicht besonders geeignet dafür empfunden wird.

Kleins und Tomkins’ konzeptuelle Ansätze sind hier ausgefeilter und entscheidend weniger tendenziös als die entsprechenden Annahmen bei Freud. Zunächst einmal fasst Freud die Suche nach Befriedigung und die Vermeidung von Schmerz zusammen unter dem vermeintlich urtümlichen «Lustprinzip», als ob sich die beiden Motive selbst nicht radikal voneinander unterscheiden würden.[14] Zweitens ist es allein die schmerzhemmende Strategie bei Freud, die (als Angst) in die Entwicklungsleistung des «Realitätsprinzips» hinein erweitert wird. Damit bleibt die Suche nach Wohlbefinden eine lediglich vermutliche, unüberprüfbare und gleichzeitig unerschöpfliche unterirdische Quelle vermeintlich «natürlicher» Motive, die nur die Frage aufwirft, wie man ihre unbändigen Ausbrüche unter Kontrolle halten kann. Noch problematischer ist vielleicht sogar, dass dieses Freud’sche Schema den ängstlichen paranoiden Imperativ, die Unmöglichkeit, aber auch die vermeintliche Notwendigkeit, Schmerz und Überraschung zu verhindern, stillschweigend als «Realität» einführt. So wird dieser paranoide Imperativ unvermeidlich und alleinig zu Modus, Motiv, Inhalt und Beweis für wahres Wissen.

Bei Freud wäre also kein Platz für die Proust’sche Erkenntnistheorie – wenn nicht als Beispiel der Selbsttäuschung. Der Erzähler von À la Recherche du Temps perdu fühlt im letzten Band in sich «eine ganze Reihe von Wahrheiten über menschliche Leidenschaften und Charaktere und Verhaltensweisen aufeinander prallen», und erkennt sie insofern als Wahrheiten an, als dass ihm «die Wahrnehmung von ihnen Freude bereitete».[15] In der paranoiden Freud’schen Erkenntnistheorie würde man sich mit der Annahme, dass die Wahrheit zufällig zu einem Anlass der Freude werden könnte, unglaubwürdig machen. Es wäre also unvorstellbar, sich die Freude als Garant der Wahrheit vorzustellen. In der Tat führt jeder Standpunkt zu einem Zirkelschluss oder so etwas in der Art, wenn man annimmt, dass die Freude, etwas zu wissen, als Beweis für die Wahrheit dieses Wissens angesehen werden könnte. Aber eine starke Theorie des positiven Affekts, auf die sich Prousts Erzähler in «Die wiedergefundene Zeit» zuzubewegen scheint, ist nicht tautologischer als die starke Theorie des negativen Affekts, die zum Beispiel durch seine Paranoia in «Die Gefangene» dargestellt wird. (In dem Masse, in dem das Streben nach positivem Affekt weitaus unwahrscheinlicher ist, zur Bildung einer sehr starken Theorie zu führen, mag es tatsächlich auch weniger stark zur Tautologie tendieren). Wenn man jedenfalls jeder Theorie ihr eigenes, unterschiedliches Hauptmotiv zugesteht – die Antizipation von Schmerz im einen Fall, das Gewähren von Wohlbefinden im anderen – kann keine von beiden als realistischer als die andere bezeichnet werden. Es ist nicht einmal unbedingt wahr, dass beide die «Realität» unterschiedlich beurteilen: Es ist nicht so, dass das eine Motiv pessimistisch ist und das Glas als halb leer sieht, während das andere es optimistisch als halb voll sieht. In einer Welt voller Verlust, Schmerz und Unterdrückung dürften beide Erkenntnisweisen auf tiefem Pessimismus beruhen: Das reparative Motiv der Suche nach Wohlbefinden tritt nach Kleins Sichtweise schliesslich erst mit dem Erreichen einer depressiven Position ein. Aber das, was beide suchen – also das Motiv, was sie jeweils für die Suche haben – weist sehr unterschiedliche Wege. Von beiden ist es jedoch nur das paranoide Wissen, das seine affektiven Motive und Kräfte so gründlich verleugnet und sich als der eigentliche Quell der Wahrheit ausgibt.

PARANOIA VERTRAUT AUF ENTHÜLLUNG

Was auch immer sie über ihre eigene Motivation preisgibt, ist Paranoia dadurch charakterisiert, dass die Wirksamkeit des Wissens an sich in der Praxis eine übergeordnete Rolle spielt – Wissen in Form von Enthüllung. Vielleicht ist das der Grund, warum paranoides Wissen so unausweichlich narrativ ist. Genau wie die geächtete Person auf der Strasse, die von allen anderen in der Stadt verraten und hintergangen wurde, einem immer noch das zerfledderte Dossier mit ihrer kostbaren Korrespondenz aufdrängen will, so verhält sich die Paranoia mit all ihren wichtigen Verdächtigungen, ganz so als ob ihre Arbeit erst dann vollendet wäre, wenn sie nur endlich diesmal irgendwie ihre Geschichte wirklich ans Licht bringen könnte. Dass ein voll eingeweihter Zuhörer immer noch gleichgültig oder sogar abweisend bleiben könnte oder einfach nicht bereit wäre, Hilfe zu leisten, wird kaum als Möglichkeit erachtet.

Es ist merkwürdig, dass sich eine Hermeneutik des Verdachts so sehr über die Wirkungsweisen der Enttarnung zeigt. Nietzsche, Marx und Freud repräsentieren jedoch (durch die Genealogie der Moral, durch die Theorie der Ideologien und durch die Theorie der Ideale und Illusionen) bereits das – in Ricoeurs Worten – «konvergente Verfahren der Entmystifizierung» und damit einen vermeintlichen, in ihren eigenen Begriffen unerklärlichen Glauben an die Wirkungen eines solchen Verfahrens.[16] So eröffnet Butler in den einflussreichen Schlussseiten von Gender Trouble ein programmatisches Plädoyer für die Entmystifizierung als «normativen Schwerpunkt der schwul-lesbischen Praxis».[17] Darin u.a. die folgenden Argumente: «Drag zeigt implizit die imitierende Struktur des Geschlechts selbst»; «wir sehen, wie Sex und Gender durch performative Mittel entfremdet werden»;  «die Parodie von Gender zeigt, dass die ursprüngliche Identität … eine Imitation ist»; «Gender Performance inszeniert und offenbart die Performativität von Gender selbst»; «parodisierte Wiedergabe … entlarvt die trügerische Wirkung des Beharrens auf Identität»; «die parodisierte Vervielfätigung von Gender entlarvt … die Illusion der geschlechtlichen Identität»; und «überhöhte Darstellungen des ‹Natürlichen› … offenbaren dessen grundlegend trügerischen Zustand» und «entblössen seine fundamentale Unnatürlichkeit».[18] 

Was den paranoiden Impuls auf diesen Seiten charakterisiert, ist weniger die Betonung der reflexiven Mimesis als der augenscheinliche Glaube an Aufdeckung. Der erzverdächtigende Autor von The Novel and the Police setzt sich in diesem Fall auch für die Äusserungen vieler weniger interessanter Kritiker der jüngeren Zeit ein, indem er ankündigt, «den notwendigen ‹Lichtblitz› für eine erhöhte Visibilität zu liefern, um die moderne Disziplin zu einem eigenständigen Problem zu machen» – ganz so, als sei dies vielleicht kein Sprung, aber dennoch ein Schritt in Richtung Sichtbarkeit des Problems.[19] In dieser, wenn auch nicht in jeder Hinsicht, schreibt Miller in The Novel and the Police vorbildlich aus der Perspektive des Neuen Historismus. Denn die Erkenntnisse der neuhistoristischen Forschung beruhen in erstaunlichem Ausmass auf dem Prestige eines einzelnen, allumfassenden Narrativs: der Aufdeckung und Problematisierung versteckter Gewalttaten in der Genealogie des modernen liberalen Subjekts.

Seit der Zeit, als der Neue Historismus neu war, erkennen wir immer mehr Möglichkeiten, auf welche Art so ein paranoides Projekt der Enthüllung historisch spezifischer sein kann, als es scheint. Inzwischen scheint «das moderne liberale Subjekt» keineswegs eine offensichtliche Wahl als der einzige Terminus ad quem der historischen Narrative zu sein. Wo sind denn all diese vermeintlich modernen liberalen Subjekte? Täglich begegne ich Hochschulabsolvent*innen, denen es gelingt, die verborgenen historischen Gewalttaten zu enthüllen, die einem säkularen, universalistischen, liberalen Humanismus zugrunde liegen. Doch sie haben ihre sentimentalen Studentenjahre im Gegensatz zu den prägenden Jahren ihrer Lehrer*innen  gänzlich in einem fremdenfeindlichen Reagan-Bush-Clinton-Bush-Amerika verbracht, wo «liberal» eher eine Tabukategorie ist und wo der «säkulare Humanismus» routinemässig als eine marginale religiöse Sekte behandelt wird, während eine grosse Mehrheit der Bevölkerung behauptet, in direktem Kontakt mit zahlreichen unsichtbaren Wesen wie Engeln, Satan und Gott zu stehen. 

Darüber hinaus scheint die Schlagkraft eines jeden interpretativen Projekts der Enthüllung verborgener Gewalt auf einen kulturellen Kontext angewiesen zu sein, wie er in Foucaults frühen Werken vermutet wird, ein Kontext, in dem Gewalt missbilligt und damit überhaupt erst verborgen wird. Warum sollte man sich die Mühe machen, den Machtmissbrauch in einem Land aufzudecken, in dem konstant 40 Prozent der jungen schwarzen Männer im Strafvollzug sitzen? In den Vereinigten Staaten und international gibt es zwar reichlich verkappte Gewalt, die enttarnt werden muss, aber es gibt in zunehmendem Masse auch einen Ethos, der Formen der Gewalt, die von Anfang an extrem sichtbar sind, als beispielhaftes Spektakel begünstigt und somit gar nicht als skandalöses Geheimnis aufgedeckt werden können. Die Menschenrechtskontroverse um Folter und Verschleppungen in Argentinien oder die Massenvergewaltigungen als Teil der ethnischen Säuberung in Bosnien zeigen beispielsweise nicht die Enthüllung von Praktiken auf, die versteckt oder verharmlost worden waren, sondern ein Ringen um verschiedene Massstäbe der Sichtbarkeit. Das heisst, dass der Gewalt, die von Anfang an exemplarisch und spektakulär war und zielgerichtet als öffentliche Warnung oder Terrorisierung von Mitgliedern einer bestimmten Gemeinschaft eingesetzt wurde, Bestrebungen entgegengesetzt werden, die Blende der Sichtbarkeit, zu verschieben und umzulenken (und schlicht zu erweitern).

Ein weiteres Problem dieser kritischen Praktiken: Was hat eine Hermeneutik des Verdachts und der Enthüllung zu gesellschaftlichen Gebilden zu sagen, in denen die Sichtbarkeit selbst einen Grossteil der Gewalt ausmacht? Bei der Wiedereinführung von Chain Gangs in einigen Südstaaten geht es weniger darum, den Verurteilten harte körperliche Arbeit abzuverlangen, als vielmehr darum, dass sie dies unter den Augen der Öffentlichkeit tun müssen. Und der Enthusiasmus für Justiz im singapurischen Stil, der in den Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit der Prügelstrafe gegen Michael Fay populär zum Ausdruck kam, offenbarte das wachsende Gefühl, dass ein gut propagiertes Scham-Stigma genau das ist, was ein Arzt für widerspenstige Jugendliche anordnen würde. Hier ist ein bemerkenswerter Indikator für historischen Wandel: Früher waren es die Gegner*innen der Todesstrafe, die dafür eintraten, dass Hinrichtungen, wenn sie überhaupt praktiziert werden, in der Öffentlichkeit vollzogen werden sollten, um Staat und Zuschauer durch die Verbreitung von zuvor verborgener richterlicher Gewalt zu beschämen. Heute sind es nicht mehr die Gegner*innen, sondern die mit triumphalen Begierden erfüllten Befürworter*innen der Todesstrafe, die der Meinung sind, der richtige Ort für Hinrichtungen sei das Fernsehen. Welchen Preis hat nun die hart erkämpfte Fähigkeit der Kulturkritiker*innen, die verborgenen Spuren von Unterdrückung und Verfolgung in toleranten Erscheinungsbildern sichtbar zu machen?

Das paranoide Vertrauen in Enthüllung scheint ausserdem von einem unendlichen Reservoir an Naivität bei denen abzuhängen, die das Publikum für diese Enthüllungen bilden. Worauf gründet sich die Annahme, dass es jemanden überrascht oder stört, geschweige denn motiviert, wenn er oder sie erfährt, dass eine bestimmte soziale Erscheinungsform künstlich, widersprüchlich, imitierend, trügerisch oder sogar gewalttätig ist? Wie Peter Sloterdijk aufzeigt, stellt Zynismus oder «aufgeklärtes falsches Bewusstsein» – falsches Bewusstsein, das sich selbst als falsch anerkennt und «seine Falschheit bereits reflexartig abfedert» – «die universell verbreitete Art und Weise dar, in der aufgeklärte Menschen dafür sorgen, dass sie nicht für Trottel gehalten werden».[20] Wie fernseh-verhungert müsste jemand sein, es schockierend zu finden, dass Ideologien sich widersprechen, Simulakren keine Originale haben oder Geschlechterdarstellungen künstlich sind? Ich persönlich vermute, dass ein solch populärer Zynismus, obwohl zweifellos weit verbreitet, nur eine der vielfältigen, konkurrierenden Theorien ist, die die psychische Ökologie der meisten Menschen ausmachen. Einige Enthüllungen, Entmystifizierungen und Zeugenaussagen haben grosse Wirkungskraft (wenn auch oft von ungeahnter Art). Viele, die ebenso wahrheitsgetreu und überzeugend sind, haben jedoch überhaupt keine, und solange das so ist, müssen wir uns eingestehen, dass die Wirksamkeit und Zielgerichtetheit solcher Akte woanders liegen als in ihrem Verhältnis zum Wissen an sich. 

Im Jahr 1988 – also nach zwei vollen Amtszeiten Reaganismus in den Vereinigten Staaten – schlägt D. A. Miller vor, mit Foucault «die intensive und kontinuierliche ‹pastorale› Fürsorge zu entmystifizieren, die die liberale Gesellschaft für jeden einzelnen ihrer Schützlinge zu übernehmen gedenkt».[21] Als ob! Ich mache mir viel weniger Sorgen darüber, von meinem Therapeuten pathologisiert zu werden, als darüber, dass meine Krankenversicherung die Leistungen für mentale Gesundheit einstellt – und das bei dem grossen Glück, überhaupt krankenversichert zu sein. Seit Beginn der Steuerrevolte hat sich die Regierung der Vereinigten Staaten – und zunehmend auch die von anderen so genannten liberalen Demokratien – mit aller Kraft dafür eingesetzt, sich von der Verantwortung für die Versorgung ihrer Schützlinge zu entbinden, ohne dass andere Institutionen vorgeschlagen hätten, die Lücke zu füllen. 

Diese Entwicklung ist jedoch das Letzte, was man hätte erwarten können, wenn man die Prosa des Neuen Historismus mitverfolgte. Diese stellt eine vollständige Genealogie des säkularen Wohlfahrtsstaates dar, der in den 1960er und 1970er Jahren seinen Höhepunkt erreichte, zusammen mit einem hieb- und stichfesten Beweis dafür, warum die Dinge immer mehr und für immer so bleiben müssen. Niemand kann einem Autor aus den 1980er Jahren vorwerfen, dass er die Auswirkungen des republikanischen Vertrags mit Amerika von 1994 nicht vorhergesehen hat. Aber wenn man wie Miller davon ausgeht, dass «Überraschung … genau das ist, was der Paranoide zu beseitigen sucht», muss man zugeben, dass der Neue Historismus als eine Form der Paranoia spektakulär gescheitert ist. Während sein allgemeiner Tenor «die Dinge stehen schlecht und werden immer schlechter» nicht widerlegt werden kann, ist jeder Mehrwert für eine spezifischere Prognose – und damit wohl auch der Mehrwert für jegliche oppositionelle Strategie – gleich null. Solch ein ständiges Versagen, Wandel vorherzusehen, liegt, wie ich bereits erörtert habe, ganz in der Natur des paranoiden Prozesses. Dessen Einflussbereich kann sich (wie der des Neuen Historismus) nur dann erweitern, wenn jede unvorhergesehene Katastrophe immer nachvollziehbarer beweist, dass man, ja genau: nie paranoid genug sein kann

Wenn man aus heutiger Sicht auf Richard Hofstadters immens einflussreichen Essay The Paranoid Style in American Politics von 1963 blickt, erkennt man das Ausmass eines starken diskursiven Wandels. Hofstadters Essay ist ein hervorragender Beleg für den selbstgefälligen, zwanghaft-liberalen Konsens, der praktisch um die Art paranoider Entmystifizierung bettelt, mit der beispielsweise D. A. Miller seine Leser belehrt. Sein Stil ist mechanisch ausgewogen: Hofstadter findet Paranoia sowohl links als auch rechts: unter Abolitionist*innen, Antifreimaurer*innen, Antikatholik*innen und Antimormon*innen, Nativist*innen und Populist*innen und unter denen, die an Verschwörungen von Bankiers oder Waffenproduzent*innen glauben; er findet sie bei jedem, der bezweifelt, dass JFK von einem Einzelkämpfer getötet wurde, «in der populären linken Presse, in der zeitgenössischen amerikanischen Rechten und auf beiden Seiten der heutigen Rassenkontroverse».[22] Obwohl viele Menschen in diese Kategorien zu passen scheinen, gibt es dennoch ein angenommenes «Wir», dass anscheinend immer noch praktisch alle sind. Dieses «Wir» kann sich darauf einigen, solche Extreme von einem ruhigen, verständnisvollen und umfassenden Mittelweg aus zu betrachten, wobei «wir uns» alle darauf einigen können, dass beispielsweise zwar «unzählige Entscheidungen des ... Kalten Krieges fehlerhaft sind», sie aber «einfach nur die Fehler wohlmeinender Männer» darstellen.[23] Hofstadter räumt ohne weiteres ein, dass paranoide Menschen oder Bewegungen durchaus wahre Dinge wahrnehmen können, obwohl «ein verzerrter Stil ... ein mögliches Signal ist, das uns auf ein verzerrtes Urteilsvermögen aufmerksam machen kann, so wie in der Kunst ein hässlicher Stil ein Hinweis auf grundlegende geschmackliche Mängel ist»[24]:

Einige einfache und relativ unumstrittene Beispiele mögen [die Unterscheidung zwischen Inhalt und Stil] veranschaulichen. Kurz nach der Ermordung von Präsident Kennedy fand ein Gesetzentwurf ... zur Verschärfung der Bundeskontrollen für den Schusswaffenverkauf auf dem Postweg grosse Beachtung. Als Anhörungen zu dieser Angelegenheit stattfanden, fuhren drei Männer 2.500 Meilen von Bagdad, Arizona, nach Washington, um dagegen auszusagen. Nun gibt es Argumente gegen den Dodd-Gesetzentwurf, die, so wenig überzeugend man sie auch finden mag, den Anstrich von konventioneller politischer Argumentation haben. Einer der Männer aus Arizona widersetze sich dem wiederum mit Argumenten, die man als repräsentativ paranoid bezeichnen könnte. Er bestand darauf, dass es «ein weiterer Versuch einer subversiven Macht sei, uns zu einem Teil einer sozialistischen Weltregierung zu machen», und dass dies drohe, «Chaos zu schaffen», das «unseren Feinden» helfen würde, die Macht zu ergreifen.[25] 

Ich werde nicht leugnen, dass man nostalgisch werden und sich zu der Zeit zurücksehnen könnte, als die paranoide Rhetorik der Waffenlobby einfach nur verrückt klang – als sie als «einfaches und relativ unumstrittenes» Beispiel für «verzerrtes Urteilsvermögen» galt, anstatt die fast unangefochtene Plattform einer dominanten politischen Partei zu repräsentieren. Die spektakuläre Veraltung von Hofstadters Beispiel ist aber nicht nur ein Indiz dafür, wie weit sich das amerikanische politische Zentrum seit 1963 nach rechts verschoben hat. Es ist auch ein Zeichen dafür, wie normbildend das paranoide Denken überall auf dem politischen Spektrum geworden ist. Auf seltsame Weise fühle ich mich heute dem paranoiden Herrn aus Arizona näher als Hofstadter – obwohl oder vielleicht auch gerade weil ich davon ausgehe, dass der Arizoner ein homophober, rassistischer weisser Milizsoldat der christlichen Identität ist, der mich schneller umlegen würde, als ich gucken kann. Peter Sloterdijk nennt nicht explizit, dass der weise Volkszynismus oder das «aufgeklärte falsche Bewusstsein», das seiner Ansicht nach heute fast allgegenwärtig ist, eine paranoide Struktur hat. Aber diese Schlussfolgerung scheint unausweichlich. Ein solch schmalspuriger, alltäglicher, recht uneinheitlicher Zynismus ist es wohl, wie Paranoia aussieht, wenn sie als schwache Theorie und nicht als starke Theorie agiert. Immer wieder mit den «Neuigkeiten» einer Hermeneutik des Verdachts auf dieser hyperentmystifizierten, paranoiden Bildfläche zu erscheinen, ist jedenfalls ein ganz anderer Akt als es solche Enthüllungen in den 1960er Jahren gewesen wären.

Subversive und entmystifizierende Satire, ahnungsvolle Archäologie der Gegenwart, das Aufspüren verborgener Gewaltmuster und ihre Entlarvung: Wie ich bereits ausgeführt habe, sind diese unendlich möglichen und lehrreichen Protokolle der Enthüllung zur gemeinsamen Währung der kulturwissenschaftlichen und historistischen Forschung geworden. Wenn es eine offensichtliche Gefahr im Siegeszug der paranoiden Hermeneutik gibt, dann ist es diejenige, dass der breite Konsens über die methodologischen Annahmen – die gegenwärtig nahezu berufsweite Übereinstimmung darüber, was Erzählung oder Begründung oder eine adäquate Historisierung ausmacht – den Genpool literarisch-kritischer Perspektiven und Fähigkeiten ungewollt verarmen lassen könnte, wenn er weiterhin nicht hinterfragt wird. Das Problem mit einem flachen Genpool ist natürlich seine verminderte Fähigkeit, auf die Veränderungen der Umgebung (z.B. politische) zu reagieren.

Noch akkurater könnte man den gegenwärtigen paranoiden Konsens damit beschreiben, dass er andere Wissensformen vielleicht nicht völlig verdrängt hat, aber dennoch eine gewisse Nicht-Artikulation, Verleugnung und Fehleinschätzung von Wissensformen angewendet hat, die tatsächlich praktiziert werden, teilweise sogar von denselben Theoretiker*innen als Teil derselben Projekte. Das monopolistische Programm des paranoiden Wissens verbietet systematisch jeden expliziten Rückgriff auf reparative Motive, die erst artikuliert werden dürfen, wenn sie einer methodischen Entwurzelung unterliegen. Reparative Motive sind in der paranoiden Theorie unzulässig, sobald sie explizit werden, weil es ihnen einerseits um Wohlbefinden geht («lediglich ästhetisch») und auch, weil sie aufrichtig bessern wollen («lediglich reformistisch»).[26] Warum das «lediglich» bei Wohlbefinden und Verbesserung? Nur die Exklusivität des Glaubens der Paranoia in die entmystifizierende Enthüllung; nur ihre grausame und verächtliche Annahme darin, dass das Einzige, was für eine globale Revolution, eine Explosion der Geschlechterrollen – oder was auch immer – fehlt, eine ausreichende Verschlimmerung der schmerzhaften Auswirkungen der Unterdrückung, Armut oder Verblendung durch die Menschen (d.h. durch andere Menschen) ist, damit der Schmerz bewusst (als ob er es sonst nicht gewesen wäre) und unerträglich (als ob unerträgliche Situationen dafür berühmt wären, hervorragende Lösungen hervorzubringen) wird. 

Solche unschönen Formeln werden von den meisten paranoiden Theorien nicht ernsthaft vorgeschlagen, aber viele der heutigen Theorien scheinen dennoch regelrecht von ihnen gestaltet zu sein. Die Art von Aporie, die wir bereits in The Novel and the Police diskutiert haben, wo die Leser*in durch eine düstere monolithische Struktur starker paranoider Theorie durch kontinuierliche Beschäftigung mit recht unterschiedlichen, oft scheinbar stark genussorientierten, kleineren literarischen und intellektuellen Ansätzen getrieben werden, erscheint auch in vielen anderen guten Kritiken. Ich erkenne es gewiss als charakteristisch für einen grossen Teil meiner eigenen Texte an. Spielt es eine Rolle, wenn solche Projekte sich falsch darstellen oder von den Leser*innen nicht richtig erkannt werden? Ich würde nicht behaupten, dass die Kraft eines starken Textes jemals völlige Transparenz für sich selbst erlangen kann oder sich auf der konstatierende Ebene des Textes angemessen verantworten kann. Aber nehmen wir mal an, man nimmt die Vorstellung (wie jene von Tomkins aber auch andere) ernst, dass die Alltagstheorie das Alltagswissen und die Alltagserfahrung qualitativ beeinflusst; und nehmen wir an, dass man nicht viel ontologische Unterscheidung zwischen akademischer Theorie und Alltagstheorie machen will; und nehmen wir an, dass man sich viele Gedanken um die Qualität der Wissens- und Erfahrungspraktiken anderer Menschen macht. In diesen Fällen wäre es nicht sinnvoll – hätte man die Wahl – die Notwendigkeit einer systematischen, sich selbst beschleunigenden Spaltung zwischen dem, was man tut, und den Gründen, aus denen man es tut, zu kultivieren. 

Während paranoide theoretische Verfahren sowohl von der strukturellen Dominanz der monopolistischen «starken Theorie» abhängen als auch diese untermauern, könnte es auch nützlich sein, die extrem unterschiedlichen, dynamischen und historisch bedingten Wege zu erforschen, in denen starke und schwache theoretische Konstrukte in der Ökologie des Wissens interagieren – eine Untersuchung, die offensichtlich nicht ohne respektvolles Interesse an sowohl schwachen als auch an starken theoretischen Handlungen durchgeführt werden kann. Tomkins schlägt weit mehr Modelle für die Herangehensweise an ein solches Projekt vor, als ich zusammenfassen konnte. Aber die Geschichte der Literaturkritik kann auch als Repertoire an alternativen Modellen betrachtet werden, die starke und schwache Theorie ineinandergreifen lassen. Was könnte eine schwache Theorie, die «kaum besser [ist] als eine Beschreibung der Phänomene, die sie zu erklären vorgibt», besser repräsentieren als die abgewertete und nahezu obsolete Neue Kritische Kompetenz der phantasievollen, eingehenden Lektüre?[27] Aber was schon bei Empson und Burke galt, gilt heute in anderer Weise: Es gibt wichtige phänomenologische und theoretische Fragestellungen, die nur durch lokale Theorien und Nonce-Taxonomien gelöst werden können; die potenziell unzähligen Mechanismen ihrer Beziehung zu stärkeren Theorien bleiben Gegenstand von Kunst und spekulativem Denken. 

Paranoia stellt, wie ich bereits erwähnt habe, nicht nur eine Theorie des starken Affekts, sondern eine Theorie des starken negativen Affekts dar. Die Frage nach der Stärke einer bestimmten Theorie (oder nach der Beziehung zwischen starker und schwacher Theorie) kann orthogonal zu der Frage nach ihrer affektiven Qualität stehen. Dabei kann jede Theorie unterschiedliche Mittel anwenden, um Untersuchungen durchzuführen. Eine starke Theorie (d.h. eine umfassende, weitreichende und restriktive Theorie), die nicht in erster Linie darauf ausgerichtet ist, die negativen Auswirkungen von Erniedrigung vorherzusehen, zu erkennen und abzuwehren, würde Paranoia in mancherlei Hinsicht ähneln, sich aber auch von ihr unterscheiden. Eine solche starke Theorie könnte zum Beispiel eine angemessene Beschreibung des vorangegangenen Abschnitts des vorliegenden Kapitels sein. Da selbst die Einordnung von Paranoia als Theorie negativer Affekte die Unterschiede zwischen oder unter den negativen Affekten offenlässt, bietet sich zusätzlich die Möglichkeit, mit einem Vokabular zu experimentieren, das einem breiten affektiven Spektrum gerecht wird. Auch hier gilt dies nicht nur für die negativen Affekte: Es könnte auch anschaulich und sogar tatsächlich zwingend sein, nur ein einziges, umfassendes Modell des positiven Affekts an genau der Stelle zu positionieren. Ein erschreckend grosser Teil der Theorie scheint ausdrücklich nur einen oder vielleicht zwei Affekte, welcher Art auch immer, verbreiten zu wollen – ob Ekstase, Erhabenheit, Selbstzerstörung, Vergnügen, Misstrauen, Ablehnung, Wissen, Schrecken, dunkle Genugtuung oder aufrichtige Empörung. Ganz nach dem uralten Witz: «Wenn die Revolution kommt, Genosse, darf jeder jeden Tag Roastbeef essen.» «Aber Genosse, ich mag kein Roastbeef.» «Wenn die Revolution kommt, Genosse, wirst du Roastbeef mögen.» Wenn die Revolution kommt, Genosse, werden dich diese dekonstruktiven Witze amüsieren; du wirst vor Langeweile sterben in jeder Minute, in der du nicht den Staatsapparat zerschlägst; du wirst zwanzig bis dreissig Mal am Tag heissen Sex wollen. Du wirst trauern und du wirst kämpfen. Nie wirst du Deleuze und Guattari sagen wollen: «Nicht heute Abend, meine Lieben, ich habe Kopfschmerzen.»

Das ausgeprägt rigide Verhältnis der Paranoia zur Zeitlichkeit zu erkennen – ein Verhältnis, das zugleich vorausschauend und rückwirkend ist und vor allem die Überraschung ablehnt – zieht auch einen Blick auf die Konturen anderer Möglichkeiten nach sich. Hier ist Klein vielleicht hilfreicher als Tomkins: Von einer reparativen Position aus zu lesen, bedeutet, jene wissende, ängstliche paranoide Entschlossenheit aufzugeben, dass kein noch so scheinbar unvorstellbares Grauen der Leserin jemals als neu erscheinen wird; einer reparativ eingestellten Leserin kann es realistisch und notwendig erscheinen, Überraschungen zu erleben. Denn es kann schreckliche Überraschungen geben – es kann aber auch gute Überraschungen geben. Hoffnung ist ein Erlebnis, das oft brüchig oder traumatisch sein kann. Sie gehört zu den Energien, mit denen die reparativ eingestellte Leserin versucht, die Fragmente und Teilobjekte, denen sie begegnet oder die sie schafft, zu organisieren.[28] Weil die Leserin den Raum bekommt, zu erkennen, dass die Zukunft anders als die Gegenwart sein kann, ist es ihr auch möglich, sich mit den zutiefst schmerzhaften, zutiefst erleichternden und ethisch bedeutsamen Möglichkeiten zu beschäftigen, dass die Vergangenheit wiederum anders hätte verlaufen können, als sie tatsächlich geschehen ist.[29]

Wo in dieser Argumentation bleiben insbesondere die Projekte einer queeren Lektüre? Mit dieser relativen Entschärfung der Frage nach «sexueller Differenz» und «sexueller Gleichheit» und der Möglichkeit, von einem Freud’schen, homophob-zentrierten Verständnis von Paranoia zu einem anderen Verständnis von Paranoia zu gelangen – wie dem von Klein oder Tomkins, die nicht besonders ödipal und weniger antriebs- als affektorientiert sind –  schlage ich auch vor, dass die gegenseitige Einbeziehung queeren Denkens in das Thema der Paranoia weniger notwendig, definierend und grundlegend sein könnte, als frühere Texte über das Thema angenommen haben – darunter viele von meinen eigenen. Eine eher ökologische Sichtweise der Paranoia würde nicht die gleiche transhistorische, beinahe automatisch-konzeptuelle Privilegierung von schwul-lesbischen Themen bieten, wie sie eine Freud’sche Sichtweise bietet. Andererseits glaube ich, dass wir dadurch einer ganzen Menge charakteristischer, kulturell zentraler Praktiken wesentlich besser gerecht werden können, von denen viele durchaus als reparativ bezeichnet werden können. Sie gehen aus queeren Erfahrungen hervor, werden aber in einer paranoiden Sichtweise unsichtbar oder unleserlich. Wie Joseph Litvak (er schrieb es in einer persönlichen Mitteilung, 1996), scheint es auch mir,

dass die Rolle von «Fehlern» beim queeren Lesen und Schreiben … viel damit zu tun hat, die traumatische, scheinbar unvermeidliche Verbindung zwischen Fehlern und Erniedrigung zu lockern. Damit meine ich Folgendes: Wenn eine Menge queerer Energie, sagen wir um die Adoleszenz herum, in das fliesst, was Barthes «le vouloir-être-intelligent» nennt (in etwa «Wenn ich schon unglücklich sein muss, dann lass mich wenigstens klüger sein als alle anderen»), was wiederum zu einem grossen Teil für das enorme Ansehen der Paranoia als Signum von Schlauheit (einer Schlauheit, die schlau ist) verantwortlich ist, dann fliesst später eine Menge queerer Energie in ... Praktiken, die darauf abzielen, dem Irrtum den Schrecken zu nehmen und das Fehlermachen sexy, kreativ oder sogar kognitiv wertvoll zu machen. Bedeutet queeres Lesen unter anderem nicht auch, dass man lernt, dass Fehler eher gute als schlechte Überraschungen sein können?

Ich denke, es ist angemessen, diese Einsichten eher als ungewisse Entwicklungen einzuordnen, als sie definitorisch oder transhistorisch zu nennen: Sagen wir, sie tauchen nicht unweigerlich in der Erfahrung jeder frauenliebenden Frau oder jedes männerliebenden Mannes auf. Denn wenn die paranoide Lesepraxis, wie ich gezeigt habe, eng mit einer Vorstellung vom Unvermeidlichen verbunden ist, gibt es noch andere Merkmale des queeren Lesens, die sich wunderbar mit der Kontingenz verstehen.

Die verbissene, defensive und steife Narration paranoider Zeitlichkeit, in der sich das Gestern nicht vom Heute unterschieden haben darf und das Morgen noch mehr das gleiche sein muss, nimmt schliesslich die Gestalt an einer generationsübergreifenden Erzählung an, die von einer ausgeprägt ödipalen Regelmässigkeit und Wiederholung geprägt ist: Es ist dem Vater meines Vaters passiert, es ist meinem Vater passiert, es passiert mir, es wird meinem Sohn passieren, und es wird dem Sohn meines Sohnes passieren. Aber ist es nicht ein Merkmal der queeren Chance – zwar nur ein kontingentes Merkmal, aber eines, das real ist und wiederum die Kraft der Kontingenz selbst verstärkt – dass unsere Generationenbeziehungen nicht immer im Gleichschritt verlaufen?

Denken Sie an den epiphanischen, überschwänglich reparativen Schluss im letzten Band von Proust. Der Erzähler geht nach einer langen Zeit des Rückzugs aus der Gesellschaft auf eine Party. Er denkt zunächst, dass alle aufwendig kostümiert sind und so tun, als ob sie alt seien, bis er erkennt, dass sie tatsächlich alt sind – und er auch. Daraufhin überkommen ihn ein halbes Dutzend verschiedener mnemotechnischer Schockwellen von einer Reihe freudiger «Wahrheiten» über das Verhältnis von Schreiben und Zeit. Der Erzähler spricht es nicht aus, aber ist es nicht wert, darauf hinzuweisen, dass die völlige zeitliche Desorientierung, die ihn in diesen Offenbarungsraum geführt hat, einem heterosexuellen Familienvater, der in Form von unaufhaltsam «fortschreitender» Identitäten und Rollen die regelmässige Ankunft von Kindern und Enkeln verkörpert hätte, unmöglich gewesen wäre?

Und nun begann ich zu verstehen, was das Alter ist – das Alter, das vielleicht von allen Realitäten diejenige ist, von der wir am längsten in unserem Leben eine rein abstrakte Vorstellung bewahren. Wir schauen Kalender an, datieren unsere Briefe, sehen unsere Freunde heiraten und dann die Kinder unserer Freunde, und doch verstehen wir aus Angst oder Faulheit nicht, was all dies bedeutet – bis zu dem Tag, an dem wir eine unbekannte Silhouette betrachten ... die uns lehrt, dass wir in einer neuen Welt leben; bis zu dem Tag, an dem der Enkel einer Frau, die wir einst kannten, ein junger Mann, den wir instinktiv wie einen Zeitgenossen von uns behandeln, lächelt, als würden wir uns über ihn lustig machen, weil wir anscheinend alt genug sind, um sein Grossvater zu sein – und da begann ich auch zu verstehen, was der Tod und die Liebe und die Freuden des geistlichen Lebens, die Nutzbarkeit des Leidens, Bestimmung usw. bedeuten.[30]

Dieser Effekt wird nur noch verstärkt durch eine aktuellere Kontingenz, die in der brutalen Verkürzung so vieler queerer Lebensdauern die Zeitlichkeit vieler von uns deroutiniert hat. Ich denke da an drei sehr queere Freundschaften von mir. Einer dieser Freunde ist sechzig, die beiden anderen sind dreissig, und ich bin mit fünfundvierzig genau in der Mitte. Wir sind alle vier Akademiker*innen und wir haben viele gemeinsame Interessen, Stärken und Ambitionen; wir alle haben uns vielfältig und intensiv aktivistisch engagiert. In einem «normalen» Generationennarrativ würden unsere Identitäten durch die Erwartung aneinander angeglichen werden, dass ich fünfzehn Jahre später in einer ähnlichen Situation sein würde wie mein sechzigjähriger Freund, während meine dreissigjährigen Freunde in einer ähnlichen Situation sein würden wie ich.

Aber wir sind uns alle bewusst, dass die Basis solcher Freundschaften heute wahrscheinlich von diesem Modell abweicht. Dies gilt für das Leben in Stadtzentren und für Menschen, die rassistischer Gewalt ausgesetzt sind, für Menschen, die der Gesundheitsversorgung beraubt sind oder in gefährlichen Branchen arbeiten und für viele andere; und es gilt für meine Freunde und mich. Ganz konkret habe ich im Stadium fortgeschrittenen Brustkrebses kaum eine Chance, jemals das Alter zu erreichen, in dem mein Freund jetzt ist. Meine 30-jährigen Freunde werden wahrscheinlich auch nie das mittlere Alter erleben, in dem ich jetzt bin: Der eine leidet unter einem durch ein massives Umwelttrauma verursachten fortgeschrittenen Krebs, (er ist sozusagen auf einer Giftmülldeponie aufgewachsen); der andere ist HIV positiv. Von uns vieren ist es mein gesunder 60-jähriger Freund, der am ehesten noch fünfzehn Jahren leben wird.

Es ist schwer zu sagen oder überhaupt zu wissen, inwiefern sich diese Beziehungen von jenen unterscheiden, welche die verschieden alten Menschen in einer Landschaft verbinden, deren perspektivische Ausrichtungen an einem gemeinsamen Fluchtpunkt zusammenlaufen. Ich bin mir sicher, dass unsere Beziehungen stärker motiviert sind: Was immer wir sonst noch wissen, wissen wir vor allem, dass es keine Zeit für Blödsinn gibt. Aber auch, was es bedeutet, sich miteinander zu identifizieren, ist sehr anders. Hier liebt man als älterer Mensch einen jüngeren nicht als jemanden, der eines Tages dort sein wird, wo man selbst gerade ist – oder umgekehrt. Niemand gibt, wenn man so will, den Familiennamen weiter; von einem bestimmten Standpunkt aus gesehen überschneiden sich unsere Lebensgeschichten kaum. Aber es gibt noch diesen anderen Standpunkt, von dem aus man sehen kann, dass unsere Leben enger mit einander verbunden vorwärts schliddern als all’ die Leben, die nach dem geregelten Zeitplan der Generationen verlaufen. In dieser Verbindung sind wir unmittelbar miteinander, in einer gegenwärtigen Fülle eines Werdens, dessen Bogen sich eventuell nicht weiter spannen darf und dessen Gesellschaft jeder von uns zu erfassen, auszufüllen und ertragen lernen muss.

Auf textlicher Ebene scheint es mir, dass zusammenhängende Praktiken des reparativen Wissens kaum erkannt und wenig erforscht im Herzen vieler Geschichten schwuler, lesbischer und queerer Intertextualität liegen mögen. Die als queer eingestufte Praxis des Camps kann zum Beispiel ernsthaft verkannt werden, wenn sie wie von Butler und anderen durch paranoide Linsen betrachtet wird. Wie wir wissen, wird Camp meistens lediglich als Projekte der Parodie, Denaturalisierung, Entmystifizierung und der spöttischen Blossstellung von Elementen und Annahmen einer dominanten Kultur verstanden. Und das Mass, in dem Camp durch Liebe motiviert ist, scheint oft mit dessen Mass an sich selbst hassender Komplizenschaft mit dem unterdrückenden Status quo verwechselt zu werden. So gesehen durchschaut der Röntgenblick des paranoiden Impulses im Camp ein fleischloses Skelett der Kultur; die hier gezeigte paranoide Ästhetik ist eine Ästhetik minimalistischer Eleganz und konzeptueller Ökonomie.

Der Wunsch nach einem reparativen Impuls ist dagegen ergänzend und zunehmend. Seine durchaus realistische Befürchtung ist, dass die Kultur, die ihn umgibt, unzureichend oder für seinen Nährboden schädlich ist; er möchte einem Objekt Fülle und Vielfalt verleihen, das dann jene Ressourcen bietet, die es seinem unfertigen Selbst anbieten kann. Camp unter anderem als eine gemeinschaftliche, historisch dichte Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von reparativen Praktiken zu betrachten, wird vielen der charakteristischen Elemente der klassischen Camp-Performance besser gerecht: die verblüffende, saftige Zurschaustellung von überschüssiger Belesenheit zum Beispiel; der leidenschaftliche, oft urkomische Antiquarismus, die verschwenderische Produktion alternativer Geschichtsschreibung; die «über»-Anhänglichkeit an fragmentarische, marginale, Abfall- oder Restprodukte; die reiche, äusserst unverhoffte affektive Vielfalt; die unbändige Faszination für bauchrednerische Experimente; die verwirrende Gegenüberstellung von Gegenwart und Vergangenheit und populärer Hochkultur.[31] Wie schon in den Texten von D. A. Miller zementiert und belebt auch in den Texten von Ronald Firbank, Djuna Barnes, Joseph Cornell, Kenneth Anger, Charles Ludlam, Jack Smith, John Waters und Holly Hughes ein Gemisch aus überschüssiger Schönheit, überschüssigen stilistischen Investitionen, unerklärlichen Aufwallungen von Bedrohung, Verachtung und Sehnsucht das Amalgam aus einflussreichen Teilaspekten.

Die blosse Erwähnung dieser Namen, von denen einige mit fast schon legendär «paranoiden» Persönlichkeiten verbunden sind, bestätigt auch Kleins Beharren darauf, dass nicht Menschen, sondern wandelbare Positionen – oder, wie ich sagen möchte, Praktiken – zwischen dem Paranoiden und dem Reparativen aufgeteilt werden können; es sind manchmal die paranoidesten Leute, die die reichhaltigsten Reparationspraktiken entwickeln und verbreiten können und dies auch meisten benötigen. Und wenn die paranoiden oder depressiven Positionen auf kleineren Dimensionen als der Ebene der individuellen Typologie operieren, dann operieren sie gleichzeitig auch auf einer grösseren: der Ebene der gemeinsamen Geschichte, der wachsenden Gemeinschaften und der Vernetzung intertextueller Diskurse.

Wie Proust hilft sich der reparative Leser «immer wieder selbst»; es ist nicht nur wichtig, sondern auch möglich, Wege zu finden, sich mit solchen reparativen Motiven und Positionierungen auseinanderzusetzen. Das Vokabular für die Artikulation der reparativen Motive der Leser gegenüber einem Text oder einer Kultur ist seit jeher so kitschig, ästhetisierend, defensiv, anti-intellektuell oder reaktionär, dass es kein Wunder ist, dass nur wenige Kritiker*innen bereit sind, ihre Vertrautheit mit solchen Motiven zu beschreiben. Das verhindernde Problem lag jedoch eher in der Beschränktheit des bestehenden theoretischen Vokabulars als in dem reparativen Motiv selbst. Nicht weniger akut als die paranoide Position, nicht weniger realistisch oder relevant an ein Überlebensprojekt gebunden, und im gleichen Masse wahnhaft oder phantasmatisch, deckt die reparative Leseposition ein anderes Spektrum von Affekten, Ambitionen und Risiken ab. Was wir am besten von solchen Praktiken lernen können, sind vielleicht die vielen Möglichkeiten, wie ein Selbst oder eine Gemeinschaft es schaffen können, aus den Gegenständen einer Kultur Nahrung zu gewinnen – und dies sogar aus einer Kultur, deren erklärter Wunsch es oft nicht gerade war, diese Individuen oder Gemeinschaften zu erhalten.

 

Aus dem Englischen von Theresa Patzschke.

Alle Zitate wurden von Theresa Patzschke übersetzt. Die Verweise auf Seitenangaben beziehen sich auf die englische Version und wurden in der deutschen Version den Anmerkungen angefügt. Die Kursivsetzung wurde aus dem Original übernommen und nur da weggelassen, wo sie im Englischen, nicht aber im Deutschen, rhetorische Bedeutung trägt.

Herausgegeben von Geraldine Tedder und Lucie Kolb.

«Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re So Paranoid, You Probably Think this Essay is About You,» in Touching Feeling, Eve Sedgwick Kosofsky, S. 123-151. Copyright, 2003, Duke University Press. Alle Rechte vorbehalten. Veröffentlicht mit Erlaubnis des Urheberrechtsinhabers. www.dukeupress.edu

 

[1] Freud, Sigmund. The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud. Hrsg. von James Strachey. Übers. von James Strachey et al. London: Hogarth Press, 1953-1975. 24 Bände, (Band 12, 79 / Band 17, 271).

[2] Bersani, Leo. The Culture of Redemption. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1990 (188).

[3] Adams, James Eli. Dandies and Desert Saints: Styles of Victorian Manhood. Ithaca. N.Y.: Cornell Universtiy Press, 1995 (15).

[4] Hinshelwood, R.D., A Dictionary of Kleinian Thought. 2d ed. Northvale, NJ: Aronson, 1991 (394).

[5] Freud 1953-1975 (297).

[6] Miller, D. A. The Novel and the Police. Berkeley: University of California Press, 1988 (164).

[7] Sedgwick, Eve Kosofsky. The Coherence of Gothic Conventions. New York: Methuen, 1986 (vii).

[8] Miller 1988 (220), (191).

[9] Sedgwick 1986 (xi).

[10] Tomkins, Silvan S. Affect Imagery Consciousness. 4 Bände. New York: Springer, 1962-1992 (Band 2, 433-34).

[11] Ebd. (Band 2, 323-24).

[12] Ebd. (Band 2, 433).

[13] Ebd. (Band 2, 458-59).

[14] Laplanche und Pontalis zeigen in ihrem Eintrag unter «Lustprinzip», dass Freud sich dieses Problems schon lange bewusst war. Sie paraphrasieren: «Müssen wir uns daher mit einer rein ökonomischen Definition begnügen und akzeptieren, dass Lust und Unlust nichts anderes als die Übersetzung von quantitativen Veränderungen in qualitative Begriffe sind? Und was ist dann der genaue Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten, dem qualitativen und dem quantitativen? Nach und nach kam Freud mit grossem Nachdruck auf die enorme Schwierigkeit zu sprechen, auf die man bei dem Versuch stiess, eine einfache Antwort auf diese Frage zu geben» (323). In Kapitel 3 erläutern Adam Frank und ich Tomkins’ Arbeit über den Affekt in Begriffen, mit denen wir versuchen, auf diese Art, das Problem darzustellen, zu antworten» (323).

[15] Freud 1953-1975 (Band 6, 303; mit Nachdruck).

[16] Ricoeur, Paul. Freud and Philosophy: An Essay on Interpretation. Übers. von Denis Savage. New Haven: Yale University Press, 1970 (34).

[17] Judith Butler, Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge, 1990 (124).

[18] Ebd. (137-149, 149 mit grossem Nachdruck).

[19] Sedgwick 1986 (ix).

[20] Sloterdijk, Peter. Critique of Cynical Reason. Übers. von Michael Eldred. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1987 (5).

[21] Sedgwick 1986 (viii).

[22] Hofstadter, Richard. The Paranoid Style in American Politics and Other Essays. New York: Knopf, 1965 (9).

[23] Ebd. (36).

[24] Ebd. (6).

[25] Ebd. (5).

[26] Der Spott, mit dem Leo Bersani den Begriff «Erlösung» in der gesamten «Kultur der Erlösung» gebraucht, könnte ein gutes Beispiel für die letztere Art der Verwendung sein – ausser, dass Bersanis Abscheu nicht ganz an der Vorstellung festzuhalten scheint, dass die Dinge verbessert werden könnten, sondern eher an der frommen Verdinglichung der Kunst als dem ernannten Vertreter eines solchen Wandels.

[27] Mein Dank geht an Tyler Curtain, der mich darauf hingewiesen hat.

[28] Ich denke an dieser Stelle daran, wie Timothy Goulds 1994 in einer persönlichen Unterhaltung ein Gedicht von Emily Dickinson interpretierte. Es beginnt mit den Worten: ‹Hoffnung ist das Ding mit den Federn -/ Das in der Seele sitzt-› (116, Gedicht Nr. 254). Gould ist davon überzeugt, dass die Symptome der flatternden Hoffnung denen der posttraumatischen Belastungsstörung ähneln, mit dem Unterschied, dass die scheinbar fehlende Ursache der Störung in der Zukunft und nicht in der Vergangenheit liegt.

[29] Ich will hier weder hypostasieren, «was tatsächlich geschah», noch leugnen, dass eine Sache, die «tatsächlich geschah» – innerhalb gewisser Zwänge – konstruiert ist. Der Bereich dessen, was hätte geschehen können, aber nicht geschah, ist normalerweise jedoch noch weiter gefasst und noch weniger eingeschränkt. Und es scheint konzeptionell bedeutsam zu sein, dass dies beides nicht zusammenfällt; andernfalls läuft man Gefahr, dass die gesamte Möglichkeit davon, dass Dinge auch anders geschehen können, verloren geht.

[30] Proust, Marcel. In Search of Lost Time. 6 Bände. Hrsg. von D. J. Enright. Übers. von Andreas Mayor und Terence Kilmartin. New York: Modern Library, 1992 (Band 6, 354–55).

[31] Das Buch A Small Boy and Others von Michael Moon vermittelt dieses reiche Gefühl der queeren Kultur wunderbar.