Gestern las ich in der «Let’s talk» WhatsApp-Gruppe, die Forschende an einer Schweizer Kunsthochschule für den Austausch über prekäre Arbeitsbedingungen initiiert haben:
«Honestly though just applying for (and unfortunately getting) grants and not doing ANY real work on a single project is really a disease. One that seems to afflict Swiss academia like no other I have seen before».
Die Autorin hatte gerade eine neue Stelle in einem vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekt begonnen. Ein vierjähriges Projekt, mit einer Reihe von Leuten, mit denen sie schon lange zusammenarbeiten wollte und einem Thema, das für sie relevant ist. Alles gut soweit.
Die Stelle ist wie üblich befristet, findet Forschung an Schweizer Kunsthochschulen doch weitgehend in durch Drittmittel finanzierten zeitlich beschränkten Projekten statt. Solche Projekte setzen voraus, dass vorgängig ein Antrag geschrieben, eingereicht und bis zu einem dreiviertel Jahr auf den Entscheid gewartet wird. Bei diesem Projekt kam der positive Entscheid nach einem halben Jahr. Aber irgendwie schien sich niemand für die eigentliche Durchführung des Projekts zu interessieren: Die Stelle begann mit einer gewissen Betriebsamkeit: einem, neue Konzepte, Kollaborationen und Möglichkeiten hervorbringenden Prozess, dessen Ende nicht absehbar war. Mit einer gewissen Ungeduld wandte sich die Autorin mit der Frage, wann es denn mit dem Projekt losginge, an den Projektleiter, der erstaunt erklärte: «Don’t you know? That’s the project».
Mein erster Impuls war, sie (oder vielleicht auch mich selbst) zu beschwichtigen.
«So far, I haven’t experienced anything alike …» tippte ich in das Textfeld.
Dann fiel mir eine Weiterbildung ein, die ich vor einigen Jahren zur Forschung an Schweizer Kunsthochschulen besucht hatte. Uns wurde eine Grafik gezeigt, in der ein Balken visualisierte, dass sobald das Projekt beginnt, das Antragschreiben für das nächste startet. Wenn ich die Augen zusammenkniff, sah ich nur noch den Balken der Antragstellung, der sich über die gesamte Projektionsfläche zog.
Ich legte das Handy auf den Tisch. Die nächsten Nachrichten ploppten auf: «the main product of this disease is power and power structures: power of definition, power of organization, power over infrastructure…», schreibt wer, dann «Yupp» und «If these granting bodies know about these specific people then it would not create the situation when precarity puts researchers in front of deciding abt being involved in research opportunities these ppl are a gateway to. There should be a black list SNF can consult.»
Noch eine Nachricht leuchtete auf: Ein Link zu einem Artikel der Projektleiterin und ein auf den Kopf gestelltes Smiley-Gesicht. Ich klickte und ein PDF öffnete sich, das auf den ersten Blick aussah wie ein Antrag, 15 Seiten, durchstrukturiert in «1. Summary», «2. State of the Art» und so weiter und am Schluss eine Bibliografie. Differenziert werden hier die Geschichte, Funktion und Methode des Antrags umrissen, und mit anderen literarischen Genres der grauen Literatur in Verbindung gebracht. Vor allem die literarische Eigenschaft des Antrags wird in den Vordergrund gerückt und beschrieben, wie sich ein Antrag immer auch auf dem Grat zwischen Theorie und Fiktion bewegt. Denn genau an diesem Grat macht die Projektleiterin ein Potential aus; ein Potential, sich der Einflussnahme der Geldgeber:innen zu entziehen; ein Potential, nicht dermassen regiert zu werden: indem der Antrag und die Durchführung radikal voneinander gelöst werden würden. Was im Antrag vorgeschlagen wird, und was konkret realisiert, ob etwas gemacht wird, sind voneinander getrennte Fragen. Über zwei, drei Seiten verortet er diesen Vorschlag kunsthistorisch in der Tradition von Institutionskritik, von künstlerischen Praktiken, die sich kritisch mit dem Modus des Vorschlagens beschäftigt haben und nach Wegen gesucht haben, sich der Greifzange der Institutionen zu entziehen, sie zu unterwandern.
«Proposing as a way of life…» leuchtete eine Nachricht auf.
«Proposing as an art form»
Mir fällt Rachel Maders Institutional Diary ein, in dem sie das strukturelle Paradox der Forschung an Kunsthochschulen darstellt, das sich zwischen prekärer inhaltlicher Projektarbeit und gut ausgebautem Verwaltungsapparat bewegt. Ein Paradox, das Forschende, wie sie schreibt, dazu zwingt, dem was sie sowieso tun, ein für die Verwaltung passendes Gewand überzuziehen. Was hier in der Whatsapp-Gruppe beschrieben wird, ist der umgekehrte Fall. Es gibt ein passendes Gewand, aber keine eigentliche Forschung mehr. Dieser Fall lässt sich als Kehrseite des von Rachel Mader angesprochenen Phänomens beschreiben. Die Logik der institutionellen Forschungslandschaften von Fachhochschulen fördert Karrieren solcher, die aufgehört haben Forschung zu machen und sich ganz der Gestaltung passender Gewänder widmen. Sie haben aufgegeben zu versuchen, das was sie mal an Forschung gemacht haben, in die Logik der Verwaltung zu übersetzen. Stattdessen machen sie die Verwaltung zum Gegenstand ihrer Forschung. Ihre Arbeit ist gewissermassen die logische Konsequenz, von der von Rachel Mader beschriebenen Verschiebung der Macht von der Forschung zur Verwaltung. Ist das ein neuer Typus Institutionskritik, den der Zwang zur Beherrschung der «Kunst des Antragsschreiben» wie ihn Rachel Mader nennt, hervorgebracht hat? Eine Institutionskritik, in der Künstler:innen sich der Institution «Antrag» gewidmet haben; dem Antrag als Untersuchungsgegenstand und Werk einer konzeptuellen Praxis, in welcher der Antrag zum Projekt wird und umgekehrt das Projekt zum Antrag.
Ob wir es hier mit einer neuen Form von Institutionskritik zu tun haben oder nicht, ich sehe ein anderes Problem: Ich bin skeptisch, ob in diesem Schritt hin zur Arbeit an/mit/durch den Antrag die Verwaltung tatsächlich unterwandert wird. Vielmehr lese ich aus dem Meta-Antrag der Projektleiterin die Identifizierung mit der Logik des New Public Managements – ist doch der Antrag, neben dem Aktualisieren der Publikationsliste auf der Institutswebsite, das zentrale Gefäss für die Übersetzung von Forschung in eine institutionelle Logik.
Ihr Text spricht zwar vom kreativen Potential, das durch die Praxis des Antragsschreibens als Kunst freigesetzt wird und von positiven Mehrdeutigkeiten, die hervorgerufen werden. Sie sieht darin die Möglichkeit, sich Zuschreibungen zu entziehen und selbst zu bestimmen. Sie spricht davon, sich nicht durch Analysen des administrativen Bollwerks oder oppositionelle Handlungen aufhalten zu lassen, sondern stattdessen, den Antrag zu nutzen, um neue Welten zu erfinden, die uns von der fatalen Dynamik zwischen Projektarbeit und Verwaltung befreien.
Aber was nützen uns diese neuen Welten, eingesperrt in ein autonomes Science-Fiction Universum grauer Literatur – die Antragsprosa – , die einer institutionellen Kleinstleser:innenschaft vorbehalten ist? Was nützen sie uns, wenn, sobald der Antrag bewilligt wird, «no real work» geleistet wird? Ist das die «Krankheit», von der die Autorin im Whatsapp-Chat schreibt? Das Antragsschreiben als künstlerische Praxis alleine ist nicht das Problem, sondern die Tatsache, dass diese Praxis sich nährt von Forschungsarbeit anderer, die in den Anträgen als Statist:innen auftauchen und an diese Auftritte Hoffnungen auf einen institutionellen Rahmen knüpfen, in dem sie ihre Forschung umsetzen können. Eine Forschungstätigkeit als Verwaltung/über die Verwaltung ist angewiesen darauf, Forschende einzubinden, die Forschung durchführen. Dieser Mechanismus erniedrigt diejenigen unter uns, die ihre Arbeit machen, die sich mit ihr identifizieren, die zu naiv waren, zu sehen, dass auch sie sich auf die Seite der Verwaltung hätten schlagen sollen.
Im Chat ist es still geworden, und wer sich der Antragstellung als Kunst gewidmet hat, ist längst weiter… beim nächsten Antrag.