Von den Gespenstern der Institutionskritik

Institutionskritik heute? Von den Gespenstern des Museums – das war der Titel einer Diskussion mit Beate Söntgen von der Graphischen Sammlung der ETH im Rahmen einer Einzelausstellung vom Künstler/innen-Duo RELAX (Marie-Antoinette Chiarenza und Daniel Hauser). An diese Diskussion anknüpfend, fragt das anschliessende Gespräch nach den institutionskritischen Perspektiven in der Kunstkritik heute: Inwiefern sind institutionskritische Ansätze in der zeitgenössischen Kunstkritik produktiv? Wo liegen die Potentiale und wo die Schwierigkeiten solcher Ansätze? Beate Söntgen plädiert dafür, die Kunst wieder positiv zu bestimmen, und sieht vor allem in Beispielen jenseits eines von der Aufklärung geprägten Kritik-Begriffs eine vielversprechende Perspektive für die Kunstkritik.
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MoMA ProtestersMoMA Angestellte protestieren am Montag, 6. August 2018 im Museum of Modern Art, Fotografie: Local 2110.

Pablo Müller: Institutionskritische Ansätze in der Kunstkritik nehmen, vergleichbar der institutionskritischen Kunst, Machtverhältnisse, strukturelle Bedingungen und kunstbetriebliche Logiken in den Fokus ihrer Untersuchung. Diese Perspektive erlebt in letzter Zeit verstärkt Zuspruch. Heute gehören Artikel mit einem institutionskritischen Einschlag, neben Besprechungen, Essays und Künstler/innen-Features, zum Standardrepertoire internationaler Kunstzeitschriften. Auch die auf Verkauf und Kunstmarkt spezialisierte Plattform artnet berichtet entsprechend selbstverständlich von den laufenden Arbeitskämpfen am MoMA. Finden Sie auch, dass die Institutionskritik eine grosse Popularität in der aktuellen Kunstkritik geniesst?

Beate Söntgen: Diesen Befund teile ich durchaus. Die klassische Kunstkritik, die stärker werkbezogen arbeitet, ist heute etwas aus der Mode gekommen, leider. Kunstkritik, auch die ältere, hat aber immer schon die Rahmenbedingungen mit betrachtet. Sie bildete sich zeitgleich mit dem aus, was wir moderne Kunst nennen, und sie löste sich aus der Institution der Akademie heraus. Vorher war es lediglich Akademie-Mitgliedern vorbehalten, über Kunst zu reden und zu urteilen. Mit der Kunstkritik wird das ‹Laien›-Urteil etabliert, und mit ihm werden Fragen nach den institutionellen Rahmungen, nach potentiellen Käufern und nach dem Publikum gestellt. Erst um 1900, als in der deutschen Kunstschriftstellerei, in Anlehnung an die Romantik, die Vorstellung aufgegriffen wird, dass Kunstkritik einen Resonanzraum für das Kunstwerk bilden soll, da gerät das Institutionelle aus dem Blick. Ich denke hierbei zum Beispiel an jemanden wie Hermann Bahr. Er hat den Kritiker als einen Reizweiterleiter beschrieben, eine physiologische Vorstellung, die vor allem auf das nun leiblich verstandene Verhältnis von Werk und Betrachter setzt. Das Institutionelle ist sehr stark wiedergekommen in den 1960er Jahren, aber auch bereits mit Künstlern wie Marcel Duchamp.

Asher Claire CopleyMicheal Asher, Installation bei Claire Copley Gallery, Los Angeles, 1974

PM: Unter Institutionskritik wird heute viel gefasst. Die künstlerische Institutionskritik selber hat diese Grenzen immer wieder verschoben. Zuerst, zum Beispiel in Michael Ashers Arbeit von 1974 in der Claire Copley Gallery in Los Angeles oder im Manet-Projekt von Hans Haacke, waren wirklich die Kunstinstitutionen, die Galerie, das Museum, selbst im Fokus. Dann wurden ausgehend von den Kunstinstitutionen auch gesamtgesellschaftliche Fragen thematisiert. Ich denke hierbei zum Beispiel an Arbeit / Freizeit (1994-1996) von Maria Eichhorn an der Generali Foundation. Und schliesslich zum Beispiel im Projekt 8 Wochen Klausur, das 1994 in der Shedhalle in Zürich stattfand, intervenieren Künstler/innen direkt in eine gesellschaftspolitische Gemengelage und die Kunstinstitution ist nicht mehr der zentrale Bezugspunkt. Auch in Hinblick auf institutionskritische Ansätze in der Kunstkritik sind die Grenzen fliessend. Nicht nur Repräsentationsfragen, Zensur, Besitzverhältnisse in der Kunst können Thema einer solchen Analyse sein, auch ein Artikel zu neoliberaler Stadtentwicklung kann durchaus in einer solchen institutionskritischen Linie gesehen werden.

BS: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Institutionskritik verliert ein wenig an Fokus in dieser Ausweitung, auch wenn dies wichtige Themen sind. Das finde ich ein bisschen schade, denn ich halte Institutionskritik nach wie vor für wichtig. Es gibt den wunderbaren Aufsatz The Haunted Museum. Institutional Critique and Publicity von Frazer Ward.[1] Ward beschreibt dort in Bezug auf die künstlerische Institutionskritik zwei Stränge. Institutionskritik thematisiert zum einen die Wahrnehmungsbedingungen, unter denen wir Kunst anschauen. Der zweite Strang versucht noch einmal, das Museum als öffentlichen Raum geltend zu machen, als Raum der Auseinandersetzung und Diskussion, der auch Öffentlichkeit herstellt. Diese Unterscheidung fand ich sehr hilfreich. Anschließen würde ich dann auch die Frage, wie wir eigentlich Institution Building machen können. Ich finde es wichtig, auf Missstände hinzuweisen, aber genauso wichtig ist es zu fragen, wie denn eine gute Institution aussehen muss. Zumal Kunstinstitutionen, zumindest in ihrer Gründungsphase, zutiefst demokratisch bürgerliche Instrumente waren, die natürlich, wie Ward es so schön formuliert hat, von den Gespenstern des Staates, ja sogar des Feudalismus heimgesucht wurden, aber auf der anderen Seite immer auch Artikulationsfelder für Kritik bildeten. In der Kunst gibt es bereits zahlreiche interessante Projekte dazu. Eine institutionskritische Kunstkritik könnte versuchen, hier auch noch einmal aktiver vorzugehen und Modelle und Vorschläge zu entwickeln, was gute Institutionen sein können.

Wochenklausur PensionWochenklausur, Schlafgelegenheit für drogenabhängige Prostituierte, Züirch 1994, Fotografie: Wochenklausur

8 Wochen Klasur Boot aussen sw1Wochenklausur, Diskussionsrunde zu Drogenproblematik auf dem Zürichsee, Zürich 1994, Fotografie: Wochenklausur

PM: Institutionskritischen Ansätzen in der Kunstkritik wird vielfach vorgeworfen, vor lauter Bedingungen die Kunst zu vergessen. Und auch mir scheint in diesen Ansätzen die Gefahr zu bestehen, dass das Verhältnis zwischen Form, ästhetisch-sinnlichen Aspekten einerseits und gesellschaftlichen Bedingungen andererseits, von welchen dieses Ästhetische mitgeprägt sind, zuweilen etwas schematisch und unterkomplex behandelt wird. Julia Voss hat zum Beispiel Kunstwerke untersucht, die als Serie angelegt sind, und aufgezeigt, wie dieses Format gut in einer ökonomischen Wertsteigerungskette funktioniert.[2] Ich finde eine solche Analyse in Ordnung und auch durchaus interessant. Trotzdem fehlen mir etwas die formbezogenen, rezeptionsästhetischen Aspekte darin, und wie diese mit sozio-ökonomischen Bedingungen zusammenhängen. Wie kann eine institutionskritische Perspektive besser mit einer solchen ästhetischen, stärker werkbezogenen Perspektive verknüpft werden?

BS: In der älteren Kunstkritik gibt es das schon eher. Mein Lieblingskritiker ist Denis Diderot. In seinen Salons wechselt er immer wieder die Genres des Schreibens und die Kriterien seiner Kritik.[3] Er führt die Wirkung eines Bildes vor, verbindet dies mit einer Kaufempfehlung, dann folgt aber ein Kommentar wie ‹Das hängt aber ein bisschen hoch›. Immer wieder arbeitet er mit Brüchen und Umkehrungen. Ich glaube, diese Kluft zwischen einer ästhetischen Perspektive und einer, die die sozio-ökonomischen Aspekte mit bedenkt, ist erst im späten 19. Jahrhundert gekommen. Auf der einen Seite ist eine positivistische Kunstgeschichtsschreibung entstanden, die sortiert, vermisst, zuschreibt und katalogisiert. Daneben entwickelte sich aber eine aus der Philosophie kommende, stärker ästhetisch orientierte Kunstgeschichte, die all das weggeschnitten hat und eben nicht mehr fragt, wer bei wem gelernt hat, wer warum etwas kauft oder aus welchen Gründen ein Gemälde wo hängt. Hier zählt vor allem die Frage, was das Ding mit mir als wahrnehmendem und über den Sinneseindruck reflektierendem Wesen macht. Diese beiden Perspektiven zu verkreuzen, das ist die große, aber wichtige Herausforderung.

PM: Wo sehen Sie heute mit Denis Diderot vergleichbare Ansätze? Oder könnten Sie noch etwas erläutern, was genau die Herausforderungen sind, wie diese zwei Perspektiven zusammenkommen können?

BS: Was mir derzeit besonders gut gefällt, sind Versuche von Kritiker/innen, die eigene Position mit einzubeziehen und damit den Standort, die Bedingungen und die Möglichkeiten des Schreibens. Damit sind natürlich auch institutionelle und ökonomische Aspekte gemeint. Ruth Sonderegger hat mit einem Kreis von Kolleginnen darüber diskutiert, auf welche Weise die eigene Situiertheit zur Geltung gebracht werden kann, und sich für eine vielstimmige Form der Kritik, für den Polylog ausgesprochen – eine Form, die allerdings kollaboratives Arbeiten und Schreiben voraussetzt.[4] In unserem Graduiertenkolleg Kulturen der Kritik arbeitet Oona Lochner über US-amerikanische Kritikerinnen, die schon in den 1970er und 1980er Jahren gemeinsam gearbeitet haben. Isabelle Graw hat in ihrem neuen Buch Die Liebe zur Malerei mit neuen Formaten experimentiert und sich in zwei Stimmen aufgespalten, die unterschiedliche Aspekte zur Geltung bringen.[5] Das hat schon Louis Marin vor dreißig Jahren in seinem Essay Über das Kunstgespräch getan und eine in den Hintergrund gerückte Form der Kritik, eben das Gespräch, in Erinnerung gerufen.[6]

TzK Cover Nr 23 Texte zur Kunst zu Ausstellungspolitik, Heft 23, August 1996

PM: Die Zeitschrift Texte zur Kunst hat in den 1990er Jahren für den deutschsprachigen Raum eine stärker institutionskritische Perspektive in der Kunstkritik etabliert und immer wieder auch die Akteure und Logiken des Kunstbetriebs thematisiert. Wie unterscheiden sich heutige institutionskritische Ansätze – denken wir zum Beispiel an hyperallergic – zu denjenigen aus den 1990er Jahren?

BS: Ich glaube tatsächlich, dass in den 1990er Jahren die Institution Museum selbst im Vordergrund stand. Das Museum wurde, auch als Bildungsanstalt in einem positiven Sinne, noch einmal neu thematisiert und befragt. Heute ist das Feld diffundiert und ausgewuchert. Im Prinzip kann alles in die Institutionskritik hineingezogen werden, bis hin zur Frage nach Steuern. Ein Magazin wie hyperallergic geht gern auf das Skandalöse und nutzt die Erregungen über Missstände im Kunstfeld. Aber Erregungen sind ja nicht gleich als Kritik zu verstehen. Dazu braucht es Kriterien und Argumente.
An manchen Stellen sehe ich die Verlagerung von den künstlerischen Arbeiten selbst auf die Rahmenbedingungen auch als ein Fortwirken von Bilderfeindlichkeit. Als wäre das Visuelle schon an sich verwerflich, weil es sich an die Sinne richtet und das Potential zur Täuschung hat (so hat es z.B. Jean Jacques Rousseau gesehen oder auch Lessing). Kerstin Stakemeier hat die Tendenz der Kunst selbst, sich zum Verschwinden zu bringen, in ihrem Buch wunderbar herausgearbeitet.[7] Die in der Moderne immer wieder erhobene Forderung nach Entgrenzung der Kunst ins Leben bedeutet ja auch das Wegmachen von Kunst. Warum eigentlich? Wer hat etwas gegen Kunst? Warum ist sie ein Problem? Da reicht es mir nicht zu sagen: Kunst ist eine bildungsbürgerliche, subjektzentrierte Kategorie. Ich glaube, dass man mit Blick auf historische Konfigurationen diese Sache noch einmal anders verstehen und denken kann.

PM: Institutionskritische Fragen bieten eine gewisse Anschlussfähigkeit. Steuern, Arbeitsbedingungen, Besitzverhältnisse in der Kunst sind auch interessant für ein Nicht-Fachpublikum. Das ist doch durchaus positiv zu sehen.

BS: Diese Anschlussfähigkeit besteht durchaus, aber sie nährt sich häufig vom News- und Event-Charakter solcher Themen. Wichtiger wäre es in meiner Perspektive, aus einem einfachen Verwerfungsmodus, wie ihn der Skandal verwendet, herauszukommen und Kunst wieder positiv zu bestimmen. Denn nur so können wir ja erst Kriterien für ihre Kritik begründen. Aufgabe wäre es zu beschreiben, was ein bestimmtes Werk aus welchen Gründen heute bedeuten kann. Das gilt auch für historische Kunst, und zwar ohne einen solch blöden Aktualismus: das ist wie heute. Vielmehr geht es darum zu verstehen, wo es einen Aspekt gibt, der vielleicht erst einmal fremd ist, der sich aber erschließen lässt aus den spezifischen historischen Bedingungen. Dafür kann man nach meiner Erfahrung heute auch ein breiteres Publikum interessieren. Wichtig ist aber zu versuchen, das in einer einfachen und klaren und schönen Sprache darzulegen.

PM: Trotz dieser Tendenz zu Newswerten sehe ich in der institutionskritischen Perspektive doch noch ein vielseitiges, noch nicht ausgeschöpftes Potential für die Kunstkritik. Ich denke hierbei an Hintergrundberichte, investigative Recherchen, aber auch an andere Sprechweisen, ironische Interventionen, Arbeiten mit Pseudonym, Einbezug von Laien. Insbesondere die Kunsthochschulen könnten in diesem Zusammenhang interessant sein und einen Raum bieten für solche weitergehenden Analysen und Experimente. Auch besteht dort die Möglichkeit – wie der Kunstraum an der Leuphana Universität gezeigt hat –, eine künstlerische Institutionskritik mit einer kunstkritischen Praxis zusammenzubringen.

BS: Viele Tageszeitungen und Zeitschriften haben viel investiert in investigativen Journalismus. Julia Voss zum Beispiel hat über Jahre die Provenienz-Thematik verfolgt und sich ein enormes Wissen in diesem Feld erarbeitet. Damit ist eine Basis geschaffen für eine solide Kritik auch im raschen Geschäft von Tageszeitungen, die ja leider immer mehr unter ökonomischen Druck geraten. Kunsthochschulen, die zum Glück noch finanziert werden, bieten tatsächlich eine interessante Möglichkeit, verschiedene Formen der kritischen Analyse zusammenzubringen. Ich glaube, dass man institutionskritische Fragen am besten versteht, wenn man mit der künstlerischen Praxis auch konkret zu tun hat. Also auch tatsächlich zu sehen, wie Künstlerinnen und Künstler sich positionieren, wie sie im künstlerischen Feld agieren.

Contemporary AndContemporary And (C&), Screenshot Webseite, 2018

PM: Also wie diese mit den Bedingungen umgehen und was sie daraus machen.

BS: Genau. In Bezug auf die Kunstkritik ist eine weitere, zentrale Frage für mich die Ausdehnung des Kunstfeldes. Das von Julia Grosse, Yvette Mutumba und Aicha Diallo gegründete Kunstmagazin Contemporary& versammelt kritische Stimmen aus ganz Afrika, die wir sonst nie wahrnehmen würden. Alle drei Frauen haben familiären afrikanischen Hintergrund. In der Zeitschrift geht es um ein sensibles Austarieren: Einerseits bietet Contemporary& bislang kaum gehörten Stimmen ein Podium, andererseits arbeitet die Zeitschrift mit Maßstäben und Formaten, die im europäischen und US-amerikanischen Kontext entwickelt wurden. Von solchen Projekten erhoffe ich mir neue Impulse auch für meine eigene Arbeit. In unserem Graduiertenkolleg Kulturen der Kritik möchten wir uns in einer nächsten Phase stärker öffnen für kritische Praktiken, die sich am Kritik-Begriff der Aufklärung reiben oder gar nicht damit arbeiten.

PM: Vielleicht könntest du dies noch etwas erläutern. Was sind die Probleme mit dem aufgeklärten Kritik-Begriff? Und, in Bezug auf die Kunstkritik, welche ‚Kritik‘-Konzepte jenseits einer aufgeklärten Kritiktradition findest du aktuell besonders produktiv? Allenfalls kannst du dies auch an einem konkreten Beispiel erläutern.

BS: Problematisiert wurde am aufklärerischen Kritik-Begriff, dass er stark subjektzentriert ist und diese Perspektive auch für gerechtfertigt hält. Das heißt, der Gegenstand der Kritik kommt nur im Blick eines Subjektes zu Geltung, das sich zudem durch den Akt der Kritik als Subjekt konstituiert, als wahrnehmendes, fühlendes und vor allem reflektierendes Wesen. Gerade weil Kritik als eine Kulturtechnik gilt, die der Verständigung und der Demokratie dient, ist sie in Gefahr, selbstgerecht und hegemonial zu wirken, das heißt anderen die eigenen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit und von der Form, in der diese zur Geltung kommen sollen, aufzuzwingen. In der während der Aufklärung entwickelten Definition von Kritik zielte diese zudem auf Urteilen. Auch das wurde immer wieder, von Friedrich Nietzsche über Gilles Deleuze bis hin zu Rosi Braidotti, als problematisch beschrieben. Woher kommt die Autorität zu Urteilen? Wer oder was legitimiert diese? Und eine weitere Frage ist die, wie wir aus der Negativität herauskommen, um Alternativen zu schaffen.

PM: Mir scheint auch die Sprache selbst, der Einsatz sprachlicher Mittel und ihre Färbungen und Tönungen ein in der kunstkritischen Praxis und Theorie zu wenig berücksichtigter und untersuchter Bereich. Dort bieten sich noch viele Möglichkeiten.

BS: Neulich habe ich mit Monique Bellan gesprochen, die in Beirut am Orientinstitut arbeitet, und zwar über historische Kritiken aus den 1940er und 1950er Jahre im Nahen Osten und im Libanon. Sie sagt, das seien vor allem Lobreden. Das ist uns aus der Frühen Neuzeit, vor allem aus dem Barock vertraut. In der Lobrede kommt Kritik versteckt zum Ausdruck, und damit sind wir wieder bei der Form und ihrer Bedeutung für den Gehalt. Denn wenn ich etwas in anderer Form artikuliere, verändert sich der Gegenstand, den ich darstellen will. Der Einsatz von Rhetorik ist in Deutschland – und ich vermute auch in der Schweiz, beide Länder sind von der Reformation geprägt – verwerflich. Es ginge ja nur ums Überzeugen, und zwar im Sinne einer Täuschung über den ‹wahren› Sachverhalt durch die sprachliche Form. Die Form verdeckt, verstellt in dieser Perspektive den Gegenstand, statt dass sie ihn erst hervorbringt. Diese Rhetorik-Vergessenheit oder auch die Verfluchung von Rhetorik finde ich hoch problematisch, eben weil eine solche Verwerfung übersieht, dass jede Form der Darstellung ihren Gegenstand bestimmt. Für mich wäre es ein Gewinn, wenn Kunstkritik wieder mehr Aufmerksamkeit auf die sprachliche Form legen würde, um das, was wir doch noch versuchen als Kunst zu greifen, präziser beschreiben zu können. Und Beschreibung, also die differenzierende Erfassung des Wahrgenommenen und die Übersetzung dieser Wahrnehmung in Sprache, ist ja Anfang und Voraussetzung von Kritik.

 

[1] Frazer Ward, «The Haunted Museum. Institutional Critique and Publicity», in: October, Nr. 73, 1995, S. 71–89.
[2] Julia Voss, «Warum die Kunstkritik in Zukunft noch wichtiger wird», in: The Future Is Unwritten. Position und Politik kunstkritischer Praxis, hrsg. von Ines Kleesattel und Pablo Müller, Zürich 2018, 115 – 134.
[3] Denis Diderot, Salons, 3 Bde., hrsg. von Jean Secnec und Jean Adhémar, Oxford 1975, 1979, 1985.
[4] Sabeth Buchmann, Sonja Eismann, Ines Kleesattel, Ruth Sonderegger, „Involvements in Art Criticism. As We Experience It and as We Claim It», in: Spaces for Criticism. Shifts in Contemporary Art Discourses, Amsterdam 2015, S. 151–166.
[5] Isabelle Graw, Die Liebe zur Malerei. Genealogie einer Sonderstellung, Zürich 2017.
[6] Louis Marin, Über das Künstlergespräch, Zürich 2000.
[7] Kerstin Stakemeier, Entgrenzter Formalismus. Verfahren einer antimodernen Ästhetik, Berlin 2017.