Der Sog der Neuen Peinlichkeit

Peinlichkeit hat das Zeug zur Selbstermächtigung. Vielleicht, weil sie etwas Flüchtiges ist und sich die Wertgefüge, die Peinliches mitproduzieren, ständig verschieben. Hier die Annäherung an eine Befindlichkeit, in welcher das Persönliche und Soziale kollidieren. Ausgangspunkt und Hauptinteresse liegen auf der Zürcher Veranstaltungsreihe Die Neue Peinlichkeit von 2015. Parallell dazu habe ich die Künstler/innen Silvia Popp und Jan Sebesta zu einem erweiternden Beitrag eingeladen. Es entstanden zwei Bildfolgen und ein Text, die Peinlichkeit als Handlungsraum nutzen. 
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Schon immer mehrheitsfähig 

Welche Bedeutung hat Peinlichkeit heute? Und was ist Peinlichkeit überhaupt? Das etwas nebulöse Gefühl, das sich mit dem Aufkommen einer peinlichen Situation einstellt, kann als ein intensiv erlebter Moment der Gehemmtheit, der Scham, ja der Panik davor, einen irreparablen Fehler zu machen, etwas nicht zu wissen und damit in den ganz grossen Fettnapf zu treten, beschrieben werden. Diese Angst vor dem Gesichtsverlust, davor sich zu blamieren, in die gesellschaftliche Isolation getrieben zu werden und den sozialen Tod am eigenen Leib zu erleben, besetzen das Peinliche vor allem negativ. Die Angst verstärkt den Drang zur Peinlichkeitsvermeidung, was das Gefühl der drohenden Peinlichkeit noch intensivieren kann. Christian Saehrendt, Kunsthistoriker und Autor des Buches Blamage! Geschichte der Peinlichkeit[1] hat solche und andere Ängste vor der Blamage untersucht. Saehrendt diagnostiziert, dass eine wachsende Zahl von Menschen ein so starkes Peinlichkeitsempfinden habe, dass sie in ihrem Verhalten davon eingeschränkt würde. Die Medien würden diese Ängste aufgreifen und Storys bringen über sich blamierende Protagonisten, die hohe Einschaltquoten verursachen und den trügerischen Eindruck entstehen lassen, dass es überall nur noch enthemmte Leute gebe. Seiner Meinung nach ist aber das Gegenteil der Fall. Saehrendt erklärt sich zum Freund der Peinlichkeit, der mit dem Aufruf «Blamiert Euch!» den Selbstversuch empfiehlt, etwa in einer gut gefüllten U-Bahn aufzustehen und eine Strophe eines Liedes laut vorzusingen, danach zu beobachten was passiert und vielleicht sogar von jemandem angelächelt zu werden. Peinlichkeit war somit eigentlich schon immer mehrheitsfähig, da sie aber meist als negativ besetzt gilt, will dies vorderhand niemand so richtig wahrhaben.

Slepenec - Jan Sebesta

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Drinnen war es ganz still. Nur der monotone Takt der Geleise drängte sanft in das Innere, als ich die Kopfhörer aus den Ohren nahm. Ich schaute mich um und musste feststellen, dass alles in Ordnung war. Fast alle hatten Verkehr mit dem Smartphone. Nur ein paar schauten in die Gratis-Lektüre, die zweimal täglich erscheint. Trotzdem wollte ich auf Nummer sicher gehen und wartete noch ein bisschen, bis ich die Stöpsel wieder in die Ohren schob. Nach einer Weile konnte ich erleichtert feststellen, dass mein Inneres nur für mich allein spielte und nicht für die anderen Zugreisenden.

Wieso passiert mir so etwas immer gerade dann, wenn es ganz still ist? Vielleicht hab ich aber auch einfach darauf gewartet. Ich vermute, dass jede und jeder von ganz eigenen Ängsten befallen ist. Vor allem wenn etwas nicht kontrollierbar ist.

Wir Konsumtiere haben den Hang masslos viele Informationen zu uns zu nehmen. Die Folgen können laut und einigermassen unangenehm sein. Und wir produzieren täglich Unikate. Deren molekulare Zusammensetzung variert, die Strenge des Geruchs auch. Wir können uns vergleichen mit einem Gehäuse, in dem viele Sachen ablaufen, ohne dass wir darüber wirklich nachdenken.

Bestehende Materie wird hineingestopft und bearbeitet. Heraus kommt ein Produkt, das inhaltlich viel besitzt, aber nicht zu gebrauchen ist. Deshalb durchläuft das Ganze häufig nochmals eine Art Röhrensystem und wird einer Prozedur unterworfen, bis fast nichts übrig bleibt. Das, was wir davon als sauber definieren, kommt später wieder zu uns zurück, allerdings in anderer Form.

Das Peinliche ist eine versteckte Kraft. Der Knackpunkt ist, diese Kraft zum richtigen Zeitpunkt einzusetzen. Ein Grund mehr, das Peinliche, das für Viele nicht in die Öffentlichkeit gehört, signalgelb in die Garderobe zu hängen und damit anzuerkennen, dass es uns lebenslänglich begleiten wird. Also strömt die laute Information ungebremst in den Raum und stellt sich selber zur Schau. 

Jan Sebesta, geboren 1979 in Jihlava, Tschechien, lebt in Winterthur und ist Künstler und Autor. Er ist Abgänger 2015 der F+F Schule für Kunst und Design.

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Den Text Slepenec hat Jan Sebesta zu seiner gleichnamigen künstlerischen Arbeit geschrieben, die er 2016 als Teil des Projekts Bridging Plays (*) erstmals öffentlich während einer mehrstündigen Performance eingesetzt hat. In einem weissen Ganzkörperanzug steckend hat er auf seinem Weg durch einen Teil der Sammlung im Kunsthaus Zürich jeweils eins seiner insgesamt vier signalgelben wurmfortsatzartigen Röhrensysteme um den Hals getragen. Die gelben Objekte gaben laute, aber auch diskretere, teils explizite, teils eher unspezifische Töne von sich, die mit denjenigen von Verdauungsgeräuschen nach einem zu üppigen Essen vergleichbar sind. Jan Sebesta hat sich selber bzw. seinen Körper als «weisse Wand» verstanden, die mal in Bewegung, mal statisch, ein Werk trägt, und sich damit zur Sammlung und zum Publikum in Beziehung stellt. In Slepenec gilt sein Interesse der Spannung zwischen dem Besuch von Kunstsammlungen als Betätigung und Zuschaustellung des wissenden und zugleich distanzierten Konsums und dem direkten, auch überfordernden Eintauchen. Egal, ob mit Abstand oder gefrässig unterwegs, Sebesta ist davon überzeugt, dass die Besucher/innen mit ihrem Inneren konfrontiert werden. Dieses Innere lässt sie Signale senden, die sie auffindbar und ihr Intimes zum lauten Thema machen. Für Viele noch ein Moment des peinlichen Ausgesetzseins, erkennt Jan Sebesta darin vor allem eine vitale positive Kraft.

Wortklärung: Slepenec – Konglomerat, Zusammengewürfelt, Zusammensetzung, Ballung, Anhäufung von Materien auf engem Raum, Gemisch, eine zusammengesetzte Masse.

(*) Ein Projekt der F+F Schule für Kunst und Design zum Thema «Übergänge», konzipiert und kuratiert von Iris Rennert in der verschachtelten und treppenreichen Architektur des Kunsthauses Zürich, Tag der offene Tür, 12. März 2016. Mit Rundgängen, Performances und Werken der Künstler/innen Gregory Hari und CRIMER, Silvia Popp, Theres Raschle, Tonjaschja Adler, Jan Sebesta, Sweeterland, Micha Reichenbach und Iris Rennert.

 

Die Idioten als das erfolgreiche Mass der klassischen Peinlichkeit

Wie aber grenzt sich diese neue Peinlichkeit von klassischer Peinlichkeit ab? Frei nach Richard Sennett muss klassische Peinlichkeit ein Relikt des 18. und 19. Jahrhunderts sein. Mit Verfall und Ende des öffentlichen Lebens[2] begann das sich frisch von der Aristokratie emanzipierende Bürgertum zwischen Öffentlichkeit und Privatraum zu trennen, wodurch gerade das Private von Privatpersonen für die Öffentlichkeit als das dem öffentlichen Blick Entzogene attraktiv wurde. Personen, die eine Karriere in der Öffentlichkeit anstrebten, etwa als Politiker, hatten plötzlich auratisches Charisma zu entwickeln, das Öffentliche und das Private zu verschleifen, zur Kollektivperson zu werden, um die gesuchte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Haben einflussreiche Privatpersonen als Politiker Skandale produziert, so wurden sie der gesellschaftlichen Katharsis unterzogen und es folgte der Ausschluss aus Amt und Würde oder sogar die Hinrichtung. Diese Personalisierung des Peinlichen hat sich bis heute gehalten, wenn auch nicht mehr überall gleich blutig. Bei Wahl- oder Abstimmungskampagnen etwa wird tief unter der Gürtellinie auf Personen eingedroschen und dies ausschliesslich von patriarchal agierenden Spezies, die dazu neigen, sich durch ihre massive Selbstüberschätzung hervorzutun und andere mit ebensolcher Neigung vor jubelnden Wahlkampf-Fans an die Wand zu spielen. 

Die Aktivistin und Autorin Laurie Penny nimmt in einem Zeitschriftenbeitrag die dystopische Fantasy-Serie Game of Thrones[3] zum Anlass, um die Vertreter/innen einer solchen klassischen Peinlichkeit ins Visier zu nehmen: «Die moralischen Lektionen sind düster, aber vernünftig. Drachen sind grossartig. Menschen sind ausnahmslos schrecklich. Religiösen EiferInnen ins Schlachtgetümmel zu folgen, ist eine schlechte Entscheidung fürs Leben. Ehre ist ein frei erfundenes Konzept, das dich ziemlich sicher den Kopf kosten wird. Die wichtigste Erkenntnis ist, dass es nur sehr wenige böse Menschen gibt in der Welt. Stattdessen gibt es dumme Menschen, verängstigte Menschen und kleinliche, nachtragende Menschen. Manchmal werden solche Menschen an die Spitzen von Armeen oder Nationen gestellt, und dann sind wir alle am Arsch. Darum geht es in Game of Thrones.» Laurie Penny meint weiter, dass die Fantasy-Serie uns dabei helfe, seelische Verletzungen «durchzuspielen». «Sie helfen, uns auf sie vorzubereiten. Man setzt sich hin, um dabei zuzuschauen, wie erfundenen Menschen schreckliche, peinliche Dinge widerfahren. Man stellt sich vor, wie man damit zurechtkommen würde, wenn man selber betroffen wäre oder jemand, den man liebt. Oder sogar wenn die Antwort lautet: ‹Das würde ich überhaupt nicht aushalten›, fühlt man sich ein bisschen besser. Im Moment ist das wirklich Besorgniserregende, dass die Welt von bösartigen Idioten regiert wird, die kaum einen Plan haben. Und weil sie so damit beschäftigt sind, sich gegenseitig zu bekriegen, ignorieren sie das Klima, was uns schliesslich alle umbringen wird.»

Daran anknüpfend und mit Bezugnahme auf Sennet und Saehrendt könnte gesagt werden, dass die bürgerliche Kultur, die sich in öffentlichen Institutionen wie Theaterhäusern, Museen, Schulen oder Gerichtssälen herausgebildet hat, an diesen Schauplätzen willig gelernt hat, die Werte des Charismatischen, des respektvollen Zuhörens und Schweigens im (teils abgedunkelten) Zuschauerraum bis heute höflich und ungebrochen zu verinnerlichen. Bei Saehrendt wäre dies der bürgerliche Mittelstand, der sich freiwillig in das Korsett der Angst vor einer Blamage eingezwängt hat, getrieben vom Eifer zwischen gutem und schlechtem Geschmack unterscheiden zu können. Dies mit Blick auf die chancenlosen Aussenseiter/innen der Unterschicht und die im Luxus und über den Dingen schwebende Oberschicht. Der Autor Georges Bataille[4] schliesslich beschreibt die Bourgeoise als eine gesellschaftliche Kraft, die Verschwendung hasst und auf der Basis der Buchhaltung einer ausgeglichenen Bilanz funktioniert. Erst das Bürgertum beginnt Bataille zufolge damit, den Gewinn zu horten, und nicht mehr in der Öffentlichkeit, sondern in den eigenen vier Wänden zu geniessen, ohne ihn gesellschaftlich im Umlauf zu halten. Alles grosszügige, orgiastische, masslose ist seit dem Ende der Aristokratie verschwunden. Die Bourgeoise tritt nur noch unscheinbar auf. Das Zurschaustellen von Reichtum geschieht diskret und in privaten exklusiven Räumen. Alles andere wäre unschicklich und damit peinlich.

 

Awkwardness und die Entpolitisierung des Öffentlichen

Seit einiger Zeit nun schon werden Versuche unternommen, Peinlichkeit umzudeuten. In den letzten Jahren ist entsprechend mehr als sonst über das Peinliche geschrieben worden. Christian Saehrendts Aufruf zur freiwilligen Blamage habe ich bereits erwähnt. Das vom Schriftsteller, Theologen und Übersetzer Adam Kotsko 2010 erschienene schmale Büchlein Awkwardness[5] ist inzwischen die prominenteste englischsprachige Quelle, auf die sich zahlreiche Autor/innen beziehen, die seither über Awkwardness bzw. Peinlichkeit  geschrieben haben. Kotsko stellt die Behauptung auf, dass wir heute in einem Zeitalter der Awkwardness leben. Grund dafür sei, dass die westliche Welt dem Postfordismus und dem Verlust klassischer Wertesysteme, die von den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er-Jahre geknackt worden sind, bisher keine Alternative entgegensetzen konnte. Denn unter Awkwardness versteht Kotsko gerade jene Stimmung, die sich einstellt, wenn unklar ist, welche Orientierung gebenden Regeln ein glaubhaftes Handeln ermöglichen. Dies schaffe eine verstörende Verhaltensunsicherheit.

Aram Lintzel deutet in seinem 2012 erschienenen Artikel Das Potenzial des Peinlichen[6] Kotskos Akwardness als Moment der Unklarheit, nach welchen Regeln und Codes man sich richten soll. Gerade in dieser Unklarheit erkenne Kotsko eine nicht reduzierbare, starke Qualität zeitgenössischer Gesellschaften, der sich niemand entziehen könne, für die sich aber auch keine Lösungen anbieten. Dieses Verständnis von Peinlichkeit stehe deshalb für mögliche Formen der sozialen Interaktion, die nicht einem festen Regulativ folgten, sondern viel Raum für Improvisation liessen und damit auch so etwas wie erste Kriterien für eine Politik des Peinlichen enthielten.

Anders als nach dem klassischen Verständnis von Peinlichkeit sind die bisher hier eingebrachten Ansätze zur Neubewertung des Begriffs der Peinlichkeit nicht mehr mit charismatischen Figuren (Politiker/innen etc.) verknüpft. Die «neue Peinlichkeit» ist auf gesellschaftliche Konstellationen, die auf Verhaltensunsicherheit fussen, ausgerichtet. Dies tönt vielversprechend. Saehrendts Aufruf zur Selbstblamage ist auch wirklich etwas abzugewinnen. Allerdings wäre zu schauen, ob dieser Appell über eine Idee für originelle Einzelaktionen hinausreicht. Kotskos Awkwardness wiederum lebt zwar sicher von einer virtuosen Denkweise, die in etwa besagt, dass Regeln oder Normen, die wir als Menschen entwickeln würden, nur dazu da seien, um mit den sich stets ändernden sozialen Ordnungen immer wieder neu zu Rande zu kommen. Oder anders formuliert: Peinlichkeit helfe uns vor allem dabei, soziale Ordnungen zu entwerfen und diese ständig wieder zu verändern. Denn, hätte soziale Ordnung Macht über jede tägliche Begegnung, so würde Peinlichkeit gar nie zu ihrem Auftritt kommen. 

Nach fortgeschrittener Lektüre wirkt der an sich interessante Ansatz zunehmend irritierend auf mich. Vor allem, weil bald klar wird, dass Kotskos Untersuchung, die auch ein philosophischer Essay sein will, sich vorwiegend aus Martin Heideggers philosophischem Text Sein und Zeit von 1927 speist. In meiner eigenen künstlerischen Praxis ist mir das Setzen von Bezügen zwar wichtig. Ebenso wichtig ist mir aber auch, welche Referenzen gesetzt werden und wie dies geschieht. Welche Gründe mag es für Kotsko gegeben haben, für den Begriff der Awkwardness auf Heidegger als Hauptreferenz zu setzen? Wie kommt es, dass er sich gerade für dieses Thema auf einen Denker kapriziert, der schon fünf Jahre später öffentlich für die nationalsozialistische Partei NSDAP eintritt? Kotsko arbeitet Heidegger ein wie jemanden, der zwar als Autor gedacht und formuliert hat, aber nicht als jemand, der als Hochschulprofessor auch eine gesellschaftliche Rolle spielte oder Anteil hatte an seiner Zeitgeschichte. Opfert Kotsko damit nicht die Möglichkeit, einen gesellschaftlichen Ansatz neu zu denken, einem philosophischen Problem? Zwar erwähnt Kotsko, dass wir heute auch deshalb in einem Zeitalter der Awkwardness leben würden, weil der Westen dem Verlust klassischer Wertesysteme, die unter anderem auch von den Bürgerrechtsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre aufgebrochen worden seien, bisher keine Alternative entgegensetzen konnte. Doch streift er diese Bürgerrechtsbewegungen nur knapp in seiner Annäherung. Weshalb diese reduzierte Annäherung? Daran krankt das Buch. Dadurch wirkt es auf mich vor allem unpolitisch.

Kotskos Spekulation schliesslich, dass die nun etablierte Peinlichkeit irreversibel sei und die diagnostizierte verstörende Verhaltensunsicherheit trotzdem nicht dazu führen werde, dass sich die modernen Gesellschaften vom Versprechen des Faschismus verführen lassen, erscheint mir ziemlich blauäugig. Offene, als komplex und widersprüchlich anerkannte gesellschaftliche Verhältnisse sind nie einfach so plötzlich gegeben und irreversibel, sondern wollen immer wieder von neuem gegen jene Erklärungsmodelle erstritten werden, die das süsse Gift des Eindeutigen vorgaukeln.

 

Die Neue Peinlichkeit als Verflüssigung der Grenzen

Was lässt nun Peinlichkeit zu einer künstlerischen und kuratorischen Möglichkeit werden, wie sie gerade in Zürich erprobt wurde? Wie können Projekte aussehen, die von politischem Bewusstsein, von Witz, Geistesgegenwart und zugleich von einer weiterhin möglichen Unbekümmertheit getragen sind?

Dass eine Veranstaltungsreihe, die von den fünf Zürcher Kunstinstitutionen Kunsthalle, Helmhaus, Migros Museum für Gegenwartskunst, Haus Konstruktiv, Shedhalle und dem selbstorganisierten Kunstraum Up State von Mai bis Juli 2015 durchgeführt wurde, Die Neue Peinlichkeit hiess, hat angesichts der in der Luft liegenden Neubewertung des gesellschaftlich relevanten Begriffs der Peinlichkeit eine gewisse, wenn auch kaum vorhersehbare Logik. Wichtig waren für die Initiant/innen zunächst einmal Anliegen wie Kooperation und Vielstimmigkeit. Die Veranstaltungsreihe fusste auf dem Gastprinzip: Helmhaus in der Kunsthalle, Kunsthalle in der Shedhalle, Up State im Helmhaus, Shedhalle im Haus Konstruktiv, Haus Konstruktiv im Migros Museum für Gegenwartskunst, Migros Museum für Gegenwartskunst bei Up State. Ein Team, bestehend aus Kurator/innen und Kunstvermittler/innen, hat die Möglichkeit einer Politik des Peinlichen aufgenommen und sich jeweils auf ein Publikum eingelassen, das den einzelnen Teamplayern unvertraut war. Mit Fragen zu Situationen, die das persönliche Erleben öffentlicher Veranstaltungsprogramme oft strukturieren, wurde die Erfahrung der Peinlichkeit offensiv thematisiert und provoziert: Bin ich hier richtig? Wer stellt die erste Frage? Weshalb sitzt eigentlich nie jemand in der ersten Stuhlreihe? Die gewählten Formate waren verschieden. Stattgefunden haben Gespräche zu Kunstvermittlung als Mutter der Peinlichkeit, zur Frage der Erwartungshaltung an die Kunst, ein Affentanz zu einem der konfliktreichsten und peinlichsten Protokolle: das Dinner nach der Eröffnung – wer wird geladen, wer sitzt neben wem, wem schmeckt‘s, wen stört‘s? – und Gastspaziergänge durch zwei Sammlungen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.[7] 

Das Kollaborationsprojekt birgt Spannendes für die weitere Diskussion. Zunächst scheint es der Forderung einer vermehrten Zusammenarbeit der kulturellen Institutionen entgegenzukommen. Jedoch nicht unbedingt so, wie es die kulturpolitische Maxime vorsieht, nämlich um höhere Publikumszahlen zu generieren und das Publikum besser erfassen und kennen zu können. Das Projekt ist stattdessen angelegt auf eine gemeinsam mit dem Publikum geteilte Erfahrung, sich mangels Vertrautheit mit den Bedingungen der jeweiligen Institution und dem dazugehörigen Hauspublikum, den jeweiligen Gast einer anderen Institution ungewohnt zu exponieren. Prädestiniert also für drohende Peinlichkeiten aller Art. Damit hat die Reihe auch versucht, Fragen nach der Zugehörigkeit zu Location, Diskurs und Publikum auflockernd ins Spiel zu bringen. Gerade die Kollaboration an sich hat auf recht unangestrengte Art die Frage nach der Ausrichtung der einzelnen Häuser gestellt und dabei auch spürbar gemacht, dass alle Orte zwar verschieden, die Berührungsflächen und geteilten Interessen aber zahlreicher sind, als bisher vermutet.

Ob Die Neue Peinlichkeit als kollaboratives Projekt nur auf einem Meta-Level funktioniert, hat bisher noch keine Antwort gefunden. Dass Die Neue Peinlichkeit die bei Veranstaltungsreihen häufig leer bleibenden ersten Stuhlreihen als Frage nochmals einbringt, verweist trotz Popkultur und gesellschaftlichem Wertewandel auf die weiterhin verinnerlichte Kultur des respektvollen Zuhörens bei gleichzeitig höflichem Schweigen. Verhaltensweisen, die in bürgerlich geprägten Kunstinstitutionen nach wie vor anzutreffen ist. Obwohl das klassische bürgerliche Kunstpublikum heute schon länger einer Vielfalt gewichen ist, bleibt der Kunstbetrieb weiterhin sehr hierarchisch strukturiert. Die Frage ist deshalb berechtigt, wie in der Kunst etwas verbindlich und ohne peinliches Schweigen geteilt werden soll, wenn trotz behaupteter Niederschwelligkeit hierarchische Macht weiterhin sehr ausgeprägt ist.

Eine mögliche Antwort auf diese Frage gibt die Arbeit Gypsum, welche die Künstlerin Lara Almarcegui aktuell im Casino Luxemburg noch bis Anfang September diesen Jahres zeigt. Almarcegui hat alle Gipswände des Forums für zeitgenössische Kunst zu über 20 Tonnen Gipspulver geschreddert und das Gebäude von den Einbauten entledigt, welche die Planung, Realisation und Wahrnehmung aller Ausstellungen, Projekte, Performances, Vermittlungs- und Führungsveranstaltungen der letzten 20 Jahre mitgeprägt haben. Weiter hat sie sämtliche Baumaterialien recherchiert, aus denen das Casino-Gebäude besteht, und diese als Liste auf einer Wand im Ausstellungsraum angebracht. Schliesslich hat sie den Boden von Luxemburg untersucht[8] und rechtliche Abklärungen zur Erwerbung des Schürfrecht von Ressourcen wie Erz oder Erdöl für ein Gebiet von bis zu 130 Meter unterhalb der Grundstücksfläche des Casinos getroffen. Almarcegui hat kaum die Absicht, nach Eisen oder Öl zu bohren. Doch macht sie mit diesem Aneignungsakt etwas sichtbar: Was unter dem Boden liegt, ist integraler Bestandteil der Stadt und des Wirtschaftssystems, die an der Oberfläche herrschen. Gypsum entledigt sich jener Wände, die, weiss strahlend, einerseits Projektionsraum für experimentelles künstlerisches Handeln jenseits der alltäglichen Koordinaten sein können und andererseits als Ausstellungsbetrieb immer auch Macht repräsentieren. Mit der Erforschung des Untergrunds erweitert die Arbeit den Umraum des Gebäudes in der Vorstellung. Inwiefern verschieben sich durch Gypsum in der Wahrnehmung auch die eingangs erwähnten Wertgefüge, die Peinlichkeit mitproduzieren? Die Panik vor dem Fehler und der Blamage hat mit der Macht von Autoritäten zu tun, die behaupten zu wissen, was stabil und fehlerfrei sei. Die Pulverisierung von weissen Wänden löst zwar keine Machtstrukturen auf, aber sie verweist auf weitere Mächte und Kräfte, die plötzlich entblösst sind.   

Dass es Leute gibt, denen nichts zu peinlich ist, ist langweilig. Hingegen ist Peinlichkeit als erfindungsreiche Lust an der Kollision der Widersprüche, da wo Unsicherheit und lebhaftes Durcheinander erzeugt werden, wirklich interessant. Hier kommt das kollaborative Team von Die Neue Peinlichkeit ins Spiel. Diesem geht es weniger darum, aus Peinlichkeit einen Witz zu machen und wieder alles über Ironie zu brechen. Sondern es geht darum, die seit dem eigenen Teenager-Alter immer wieder durchschwommenen Zwischenräume der kompletten Verunsicherung ernst zu nehmen als das, was sie sind: als Situationen, in denen wir nichts auseinanderhalten können. Statt die Dinge aber im eigenen Kämmerlein stillschweigend neu zu ordnen und zu stabilisieren, um sie danach wieder als sogenanntes Experiment szenografisch perfekt im White Cube zu präsentieren, könnte das Ungeordnete, das ineinander Verhakte und das nicht so recht zusammenpassen Wollende auch einfach so vorgestellt und dafür auch gleich die Sprache erfunden und weiterentwickelt werden. So etwa wie dies beispielsweise die Poetry-Slammerin und Autorin Hazel Brugger[9] tut, wenn sie beschreibt, welche schweisstreibenden inneren Konflikte und bildhaften Aggressionen sich als Zwischenraum in einen Satz schieben, der im Gespräch mit jemandem begonnen und irgendwann nach an Halluzinationen grenzenden Fluchtbewegungen auch beendet wird. Der Einsatz widersprüchlicher Denkweisen, wo das Involviertsein und das Distanz-Schaffen unvorhersehbar bleiben und das gleichzeitige Sprechen jenseits eines respektvollen Zuhörens nicht zu zähmen ist, da kann sich die Qualität von Beschreiben, Abbilden und Präsentieren nach und nach verändern, ohne dabei immer schon wissen zu müssen, ob das Gezeigte das Richtige oder das Falsche ist. Die Unsicherheit mag uns dabei noch mehr als bisher in ein Wechselbad der Gefühle versetzen, Hauptsache daraus entstehen geteilte Formen des Zeigens und Vermittelns, die auch für geteilten Genuss sorgen.

Greeter in Action - Silvia Popp

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Der Greeter trägt während den enthusiastischen Begrüssungen eine Weste mit informativ-illustrativen Badges. Vorteilhafterweise spielt sie auch noch ein Instrument. Greeter in Action / Silvia Popp, 2016 

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Die Künstlerin Silvia Popp arbeitet an einem weitverzweigten Werk, das sie teils alleine, teils im Duo Studio Action zusammen mit Anja Moers entwickelt. Dazu gehören die im Insel-Institut gebündelten Forschungsarbeiten, Arbeiten im Umgang mit öffentlichen Räumen und Landschaften sowie Projekte, die Tools, Arbeit, Arbeitsbedingungen, zahlreiche Wertfragen im Kontext von Arbeit, Menschen und Transformation von Welt thematisieren. Zentral sind immer die Menschen selber, die – obschon selten im Bild enthalten – meist sehr direkt adressiert werden.  Exemplarisch ist die noch im Entstehen begriffene Arbeit Greeter in Action. Von Walmart-Greeters und vergleichbaren Figuren inspiriert agiert Silvia Popp als Performerin im Selbst/Auftrag irgendwo in Nähe eines Eingangs zu einem Einkaufszentrum, einer Bushaltestelle oder einem Eishockeystadion oder im Foyer des Kunsthaus Zürich, um herzlich, gewinnend, ja vereinnahmend bis verschwörerisch die ankommenden Leute zu empfangen und nach einem gemeinsam gegangenen Weg wieder zu verabschieden. Die Direktheit ihres Vorgehens ist dermassen überraschend und entwaffnend, dass sie in jenem Sekunden-Zeitraum, in welchem sie einen Kontrollverlust bewirkt, bei den Adressierten einiges auslöst.

Zahlreiche Angesprochene gehen ebenso herzlich auf die Begrüssung ein, bis sie die kleine Verschiebung feststellen (oder auch nicht), die zwischen persönlich und persönlich liegen kann. Sowohl jene, die sich persönlich reingelegt fühlen wie auch jene, die der Situation von Beginn weg nicht trauen, mögen bei soviel Greeter-Herzlichkeit und ihrem eigenen spontanen Zuspruch oder aber ihrer reflexartigen Abwehr von einem Gefühl der plötzlichen Peinlichkeit gepackt werden.

Interessant an der Vorgehensweise von Silvia Popp ist, dass sie mit glaubhafter Ernsthaftigkeit für das Gegenüber anwesend ist und dieses erst dann wieder gehen lässt, wenn es sich sagen kann: hey, es war sicher kurz peinlich, aber dies hat mich eintauchen lassen in einen Raum der Nähe, wo persönliches Empfinden und eine Art Bewusstsein für die Begegnung in der Öffentlichkeit auf erfrischende Art aufeinandergeprallt sind. Und das ist mir meine Peinlichkeit wert!

Wiewohl die Greeter-Weste gespickt ist mit Badges und Buttons, die Aufschriften wie Yes, Oui, Ja! oder #1 oder zuletzt auch BAM! enthalten, so bleibt trotzdem unklar, wofür der Greeter stehen soll.

Ganz im Gegensatz zu jenen unterbezahlten Schausteller/innen, die im kommerziellen oder werbetechnischen Auftrag unterwegs sind. Dies mag irritieren. Doch Silvia Popp legt hier gerade jenen Zwischenraum frei, der zunächst peinlich berührt und dann sogleich entspannt, da klar wird, dass der Greeter auch bestimmt nichts Böses im Schilde führt. Vielleicht.

Silvia Popp, geboren 1977, lebt in Zürich. Tätig als freischaffende Künstlerin (Boutique Pamela, Insel Institut) und im Team (Studio Action mit Anja Moers). Abgeschlossene Ausbildungen als Kauffrau, Künstlerin und Ausbildnerin. Seit 2011 als Dozentin für Netzkultur an der F+F Schule für Kunst und Design und seit 2005 im Opernhaus Zürich in der Personalabteilung als Berufsbildungsverantwort-liche für Kaufleute tätig.

 

[1] Saehrendt, Christian. Blamage! Geschichte der Peinlichkeit. Berlin: Bloomsbury, 2012.

[2] Sennett, Richard. Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1983.

[3] Penny, Laurie. «Game of Thrones. Der Plot des bisherigen 21. Jahrhunderts». WOZ, Nr. 18, (5. Mai 2016), S. 19.

[4] Bataille, Georges. Zur Aufhebung der Ökonomie. Berlin: Matthes & Seitz, 1985.

[5] Kotsko, Adam. Awkwardness. Winchester, UK; Washington, USA: Zero Books, 2010.

[6] Lintzel, Aram. «Das Potenzial des Peinlichen». TAZ (14. Februar 2012).

[7] Die Neue Peinlichkeit. Ein rotierendes Veranstaltungsprogramm von/mit/in Helmhaus Zürich, Kunsthalle Zürich, Shedhalle, Migros Museum für Gegenwartskunst, Haus Konstruktiv und UP State im Mai bis Juli 2015. Programm-Newsletter

[8] Lara Almarcegui, Luxembourg souterrain. Luxembourg: Casino Luxembourg – Forum d’art Contemporain Luxembourg, 2016.

[9] Hazel Brugger, ich bin so hübsch. Zürich – Berlin: Kein & Aber Pocket, 2016.