«Heute bin ich mitten in der Nacht aufgewacht. Davon, dass ich einen mysteriösen Gegenstand in den Händen hielt. Der Gegenstand entpuppte sich als schwarze Papiermaske, und ich fand mich mitten im Zimmer. Es täte mir offenbar wirklich gut, in ein Sanatorium zu gehen. Von Liebe sprechen dagegen schadet mir. Sprechen wir von Autos.»[1] So beginnt der 26. Brief des russischen Autors Viktor Schklowski an seine ihm unerreichbare Geliebte Alja in seinem experimentellen Briefroman Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder die dritte Heloise (1923). Alja ist die Schriftstellerin Elsa Triolet, in die sich Viktor Schklowski – Panzerwagenfahrer, Sozialrevolutionär, Literaturtheoretiker, Mitbegründer des Russischen Formalismus – unsterblich verliebte. Aus dem Berliner Exil – nachdem Schklowski sich im Februar 1917 als Soldat auf die Seite der Revolution gestellt hatte und im Russischen Bürgerkrieg gegen die Weissen kämpfte, floh er 1922 aufgrund einer drohenden Verhaftung nach Berlin – schreibt er ihr unentwegt die schönsten Liebesbriefe. Sie aber verweigert ihm die Gegenliebe. Zwar toleriert sie seinen tragischen Minnesang, bittet ihn aber, darin nicht von Liebe zu schreiben: «Herzblatt, mein Guter. Schreib mir nicht von Liebe. Bitte nicht. Ich bin sehr müde.»[2] Er kommt diesem Wunsch nach, nur hie und da schleicht sich das nackte Wörtchen Liebe in seine Briefe ein. Um nicht über Liebe zu schreiben, schreibt er von anderen Dingen: von russischer Literatur, vom beschwerlichen Exilanten-Leben in Berlin, von der Sehnsucht nach seinen Freunden in Russland und immer wieder von Autos – von traurigen Taxis, von dem angenehmen Zugkraftcrescendo der Stimme eines Fiats, von der snobistischen, lügenhaften Länge der Motorhaube eines Hispano-Suiza, der Alja so gefällt. Das Auto wird zum Zielobjekt der Sublimierung.
Als Jude, dem eine Karriere im Militär versagt wurde, wurde Schklowski Automobilist und lebte einige Jahre im Kreise von Kraftfahrern.[3] In seinen Beschreibungen von Motoren und Kühlern wird das Auto nicht selten anthropomorphisiert («Sein Lenkrad steht unanständig schief, und wenn er ein Mensch wäre, trüge er Ringe in den Ohren.»[4]) oder zur Metapher des trostlosen Exil-Daseins. So dient ihm das Bild eines herzlosen Taxis mit Elektromotor – «Wie soll man ein Auto anwerfen, wenn es kein Herz hat, das anspringen könnte?»[5] – zur Reflexion über die Leblosigkeit der russischen Emigration – «In ihr schlägt kein Herz […] Hier wohnen darfst du, aber schweig. Wie ein totes Batterieauto, geräusch- und hoffnungslos sollst du durch die Stadt strömen» –, nur um sogleich der Schwere dieser Worte zu entfliehen, zurück zum Auto: «Saure, schwere Worte habe ich geschrieben. Sprechen wir lieber von Automarken. Dir gefällt der ‹Hispano-Suiza›? Das soll er nicht!»[6]
Genau ein Jahrhundert später hängen lange Papierbahnen mit Kohlezeichnungen von Berliner Autos verschiedenster Marken (Cars, 2022) von den Wänden des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen Düsseldorf als zentrales Werk in Angharad Williams’ Ausstellung Eraser. Die Zeichnungen basieren auf Fotografien «gefundener» Fahrzeuge, die Williams um ihr Berliner Studio aufgenommen hat, und liefern eine präzise Bestandsaufnahme vom Autoarsenal der Hauptstadt. Es sind detailreiche, sensible Porträts von Pkws und Kleinlastern, darunter bescheidene Modelle wie der Skoda Roomster, VW Käfer oder Ligier Optima, aber auch Protzkarren wie ein Lamborghini Uru oder McLaren Spider. Ihrem «natürlichen Lebensraum», dem Berliner Strassenverkehr entnommen, hängen die lebensgrossen realistischen Kohlezeichnungen vollkommen losgelöst von Grund und Boden, gegen die Gesetzmässigkeiten von Raum und Zeit, um 90 Grad gedreht, mal mit der Haube, mal mit dem Heck nach oben an den Wänden des Kunstvereins.
Diese Entwurzelung des Autos von seinem Umfeld (dem Asphalt) und Ursprung (der Arbeit) erinnert an Roland Barthes’ Beschreibung des «neuen Citroën» als übernatürlichem Objekt in Mythen des Alltags (1957) (das Buchcover der klassischen Suhrkamp-Ausgabe wird von frei schwebenden Autos geziert): «Der neue Citroën ist offenkundig vom Himmel gefallen, insofern er sich zunächst als ein superlativisches Objekt darstellt. Man darf nicht vergessen, dass das Objekt der beste Bote des Übernatürlichen ist: Gerade im Objekt liegt die Vollkommenheit und zugleich die Abwesenheit eines Ursprungs, eine Geschlossenheit und ein Glanz, eine Verwandlung des Lebens in Materie (Materie ist viel magischer als das Leben), kurz, eine Stille, die zum Reich des Wunderbaren gehört.»[7] Tatsächlich haftet auch Williams’ Autozeichnungen etwas Wunderbares, eine magische, übernatürliche oder gar religiöse Qualität, an. Überhöht, fast wie Heiligenbilder scheinen sie durch den lang gezogenen Ausstellungsraum zu schweben.
Lassen sich diese entwurzelten, vom Himmel gefallenen Autos zunächst als symbolisches Zentrum kleinbürgerlicher Aufstiegsideologie, als Metaphern für Vereinzelung und Klassentrennung im Kapitalismus lesen, öffnen sich bei genauerem Hinsehen auch Momente des Konkreten. An der äusseren Karosserie und durch die Autofenster erscheinen die diversen Lebensrealitäten Berliner Autobesitzer:innen; es sind keine kahlen, generischen Share-Now-Leihwagen, sondern mit Plüschtieren, Sonnenschutzblenden, Stickern und getunten Bremsen individualisierte, gepimpte Gefährten von Kleinfamilien und stolzen Sportwagenbesitzer:innen. Doch die Fahrer:innen und Beifahrer:innen bleiben hier abwesend. In einigen Autofenstern spiegeln sich andere Autos oder Szenen des urbanen Lebens in Berlin, Menschen aber sind nie zu sehen. Von seinem Herrchen verlassen, wird das Auto in Williams’ Kohlezeichnungen zum eigenständigen Akteur erhoben. Ähnlich wie Schklowski das Auto zum menschenähnlichen Wesen stilisiert, wird das Auto bei Williams zu einem beseelten, verselbstständigten Ding.
Wird bei technischen Produkten wie Smartphones oder Computern mit der «menschlichen» oder gar «übermenschlichen» Intelligenz der Waren geworben, so ist es beim Auto seine Seele, etwa im Alfa-Romeo-Werbeslogan «Ohne Herz wären wir nur Maschinen», in dem die Fahrzeuge selbst über ihre vermeintliche Menschlichkeit reflektieren. Die Produkte menschlicher Arbeit scheinen unter den Bedingungen der
kapitalistischen Produktionsweise ein Eigenleben zu entwickeln. Sobald das Auto als Ware auftritt, wird es wie jene Waren, die Karl Marx im Abschnitt «Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis» im ersten Band des Kapitals als «mit eigenem Leben begabte […] selbstständige Gestalten»[8] beschreibt, zu einem «sinnlich übersinnliche[n] Ding»[9], in dem sich der spezifisch gesellschaftliche Charakter der für die Waren aufgewendeten Arbeit im Wertcharakter der Arbeitsprodukte gegenständlich reflektiert. «Das Geheimnisvolle der Warenform», so Marx, «besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt.»[10] Das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen verkehre sich so in «die phantasmagorische Form»[11] eines Verhältnisses von Dingen.
Angharad Williams’ Autozeichnungen scheinen genau jene Phantasmagorie, die Verdinglichung gesellschaftlicher Verhältnisse, die kapitalistische Verkehrung von Subjekt und Objekt, vorzuführen. Das Material Kohle verleiht den Zeichnungen zusätzlich eine gespenstische Gegenständlichkeit, so als hätten sich die Autos aus ihrer eigenen Asche re-materialisiert, um uns in nicht minder fetischisierter Gestalt, der Ware Kunst, heimzusuchen.
Doch senkt man den Blick zu Boden, erblickt man vier stählerne Deckel von Absetzcontainern, die zum Transport von Bauschutt und Kies eingesetzt werden (What it feels like to live another day, 2022). Das schwere, bodenständige Material und die industrielle Ästhetik dieser Readymade-Objekte binden das von der Arbeitskraft entfremdete und abstrahierte Fetischobjekt Auto zurück an seine Produktionsbedingungen, seine Dinghaftigkeit, an gesellschaftliche Verhältnisse. Erst in der Gegenüberstellung mit den Readymade-Objekten, deren harte stählerne Materialität in starkem Kontrast zu den weichen, fragilen Linien der Kohlezeichnungen steht, wird die mühselige Arbeit hinter den Zeichnungen erkennbar. Während das Readymade die Warenlogik in sich aufnimmt und die produktive Arbeit der Industriearbeiter:innen an die Stelle der individuellen künstlerischen Arbeit treten lässt, geben die Kohlezeichnungen, die Williams gemeinsam mit Assistent:innen in einem arbeitsteiligen Prozess anfertigte, durch Spuren ihrer kollektiven handwerklichen Produktion Hinweise auf ihren spezifisch gesellschaftlichen Charakter.
Das Auto ist nicht die einzige Fetischware in dieser Ausstellung. An der brutalistischen Aussenfassade des Kunstvereins hängt ein Filmstill der letzten ikonischen Szene von Michelangelo Antonionis Film Zabriskie Point (1970) (Self-reliance is a fetish, 2022), in der man eine hypermodernistische Villa in der Mojave-Wüste zunächst lautlos, dann weitere dreizehn Mal zum Sound von Pink Floyds Come in Number 51, Your Time Is Up aus unterschiedlichen Perspektiven und in Slow Motion explodieren sieht. Die Sprengung der Villa geht in eine lange Sequenz über, in der verschiedene Alltagsgegenstände, darunter Bücher, ein Kühlschrank und ein Wohnzimmersetting mit Couch und Fernseher, ebenfalls in Zeitlupe, explodieren. Der von Williams zum totalen Stillstand verlangsamte Filmstill zeigt explodierende Kleider, die, ähnlich den scheinbar schwerelosen Autos im Hauptausstellungssaal, frei am blauen Himmel schweben – «ein Aufstand von Raum und Zeit gegen ihre ökonomische Überformung»[12], in dem der Philosoph Martin Seel eine Emanzipation der Waren von ihrer Zweckmässigkeit erkennt. Aber ist nicht die überästhetisierte, dramatische Zerstörung von Konsumgütern, die dem Wesen ihrer Warenstruktur nach bereits von ihrem Gebrauchswert entfremdet sind, ebenso fetischhaft wie die Waren selbst? Wird das Wissen um den Fetischcharakter der Ware, das zur Destruktion derselben führen muss, in der verlangsamten, lustvollen Explosion selbst zum Fetisch erhoben? Williams scheint diesen Eindruck zu verstärken, indem sie einen Augenblick des Films extrahiert und zum wertgenerierenden Bild inszeniert.
Die Explosionsszene lässt auch an die Inbrandsetzung des Brüsseler Kaufhauses À l’innovation denken, bei der neben Waren auch über 200 Menschen draufgingen und die der RAF und der Kommune 1 als Vorbild für ihre Kaufhaus-Brandstiftungen diente. Im Flugblatt Nr. 8 (Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?) verkündete die Kommune 1 1967: «Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh raus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: sie zünden ein Kaufhaus an, zweihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben und Brüssel wird Hanoi. […] Burn, warehouse, burn!»[13] Ihre Angriffe auf Waren wollten sie somit auch als Angriff auf die bürgerliche Ignoranz gegenüber dem Vietnam-Krieg und anderen politischen Missständen verstanden wissen. Vor diesem Hintergrund erscheint das an der Aussenfassade angebrachte und damit an die Öffentlichkeit gerichtete Bild explodierender Waren wie ein Spiegel, der der bürgerlichen Stadtgemeinschaft Düsseldorfs warnend entgegenschlägt.
In Verbindung mit dem Zabriskie-Point-Filmstill eröffnen die Cars zahlreiche Assoziationsräume – marxistische Kritik des Warenfetischismus verbindet sich mit marcusianischer Konsumkritik der ’68er, die Geschichte politischer Revolten mit dem metaphysischen Protest der Waren –, die über die gewohnte Wahrnehmung des Autos als blosses Transportmittel und Statussymbol hinausgehen und seine metaphorischen und politischen Bedeutungen veruneindeutigen.
In seiner Entwurzelung, Verdrehung und neuen Materialität wird uns das Auto fremd. Williams’ ungewohnte Autodarstellung produziert jenen «Riss im Alltäglichen», den Barthes (übrigens ein Fan Antonionis) eindrücklich in Bezug auf die Überschwemmung von Paris im Januar 1955 beschrieben hat: «Zunächst hat [die Überschwemmung] manchen Gegenständen ein Gefühl der Fremdheit verliehen, die Wahrnehmung der Welt aufgefrischt, indem sie ungewöhnliche und trotzdem erklärliche Punkte in die Welt brachte: Man sah Autos, von denen nichts blieb als ihr Dach, verkürzte Strassenlaternen, deren Kopf allein wie eine Seerose aus dem Wasser ragte, Häuser wie Spielzeugklötzchen zerlegt, eine Katze, die tagelang auf einem Baum festsass. All diese alltäglichen Gegenstände erschienen plötzlich von ihren Wurzeln getrennt, der Erde als ihrer eigentlichen, vernunftgemässen Substanz beraubt.»[14] Diese Form der verfremdeten Darstellung der alltäglichen Dinge hätte Schklowski gefallen, der neben Romanen auch literaturtheoretische Essays verfasste und in dem Text Verfremdung als Verfahren für eine vom Automatismus befreite Wahrnehmung plädiert. «Ziel der Kunst» sei, so Schklowski, «ein Empfinden des Gegenstandes zu vermitteln, als Sehen, und nicht als Wiedererkennen; das Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ‹Verfremdung› der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozess ist in der Kunst Selbstzweck und muss verlängert werden».[15] Ein solches Sehen scheint das in einem Nebenraum präsentierte achtminütige Video Enver’s World (2022) zu ermöglichen, das Enver, einen Freund der Künstlerin, in entspannter Pose schlafend auf einer Decke im Gras zeigt. Nach etwa einer Minute ertönt Musik (Richard Sides: Fashion Generator), nach zwei Minuten bewegt Enver seinen Kopf – erwacht er? Nein, die Musik verstummt erneut, Enver schläft weiter, die Kamera zoomt auf seine reglose, leicht geöffnete Hand, die Decke weht im Wind, die Musik ertönt erneut, Enver dreht sich auf die Seite, bis er schliesslich erwacht, sich aufrichtet, das Video endet und erneut beginnt. Durch die Wiederholung und die schnittlose Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit verlängert Enver’s World die Wahrnehmung der allmorgendlichen Szene des Erwachens, jene Phase zwischen Traum und Wirklichkeit, die meist in Sekundenschnelle vorübergeht.
Angharad Williams’ künstlerische Verfahren der Verfremdung erlauben es, die Dinge des Alltags – Autos, Schlaf, Arbeit – aus ihrer automatisierten Wahrnehmung in eine veränderte, eine eigenartige semantische Wahrnehmung zu überführen. Dabei operiert Williams nicht nur auf bildlicher, sondern oftmals auch auf sprachlicher Ebene; so bei der im Foyer des Kunstvereins gezeigten Malerei eines erschreckt dreinschauenden Fisches auf blau-monochromem Hintergrund, deren Titel Peace piece (2022) auch an die phonetische Verwandtschaft von ‹fish› und ‹fetish› denken lässt, oder an ihre Love-Paintings, die 2021 erstmals im Wiener Kevin Space und kürzlich neben einer Malerei von Sophie Gogl in der New Yorker Galerie Francis Irv gezeigt wurden.
Die Serie besteht aus verschiedenformatigen weissen Leinwänden, auf denen das immer gleiche Wort – «Love» – mal horizontal, mal senkrecht, in mit Acryl gemalter Serifenschrift geschrieben steht, jeder Buchstabe in einer anderen Farbe, jedes Bild mit unterschiedlicher Farbkombination. Die Wiederholung des Wortes «Love» führt, ähnlich der Logik Gertrude Steins «Rose is a rose is a rose is a rose», zunächst zu einer phonetischen, dann zu einer semantischen Verfremdung – bis der Signifikant Liebe nur mehr auf sich selbst verweist, sich seiner Bedeutung entleert, um eine neue anzunehmen.
Ähnlich geht es auch Schklowski mit der Liebe. In Brief Nr. 13 schreibt er Alja: «Ein Mann fängt am nächsten Tag zu lieben an, wenn er einmal gesagt hat ‹Ich liebe›. Deshalb ist es besser, man vermeidet dieses Wort. Die Liebe wächst, der Mann ist entflammt, aber Dich interessiert er schon nicht mehr. Vorauslass nennt man das in der Automobiltechnik.»[16]
Am Ende von Zabriskie Point steigt die Protagonistin Daria, nachdem sie der Villa bei ihrer vollständigen Zerstörung zugesehen hat, sichtlich zufrieden ins Auto und fährt in den Sonnenuntergang. Das Auto ist in Antonionis Film, der in gewisser Weise auch ein Road-Movie ist, politisches Vehikel, dient es doch dem politisch engagierten Studenten Mark, nachdem er seinen gestohlenen Helikopter zurücklässt, der Flucht vor der Polizei und dann gemeinsam mit Daria zur Fahrt in die sexuelle Befreiung, eine Orgie im Death Valley. «Motorisierte Gefährten», schreibt Schklowski, «verleiten den Menschen zu Dingen, die man mit Recht Verbrechen nennt», und er dankt sogleich den Autos für ihre Verdienste um die Revolution: «Dank euch schäumte die Revolution über und ergoss sich in die Stadt, ihr Automobile. Die Revolution legte den Gang ein und fuhr los. Es bogen sich Tragfedern und Kotflügel, die Autos rasten durch die Stadt, wo zwei waren, schienen es acht. Ich liebe Autos.»[17]
Fast scheint es, als sei die Liebe zu Alja nur Schreibanlass, das Thema des Buches aber in Wahrheit die Russische Revolution, von der in Auto- und Liebesmetaphern berichtet wird. Aber auch wenn die Liebe bloss erfunden ist, der Schmerz ist real.
[1] Viktor Schklowski, Zoo. Briefe nicht über Liebe, oder die dritte Heloise, aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Berlin 2022, S. 97.
[2] Ebd., S. 15.
[3] In Berlin arbeitete Schklowski für die Agentur Russtorgfilm, die vor allem Filme zur Lizenzierung in der Sowjetunion auswählte, aber auch eigene Werbefilme, z.B. für Motorräder, produzierte. An Alja schreibt er: «Ich muss einen Auftragstext schreiben. Einen Werbefilm für Motorräder. Die Gedanken an Dich, an Motorräder, an Autos, alles mischt sich in meinem Kopf.» (Ebd., S. 49).
[4] Ebd., S. 100.
[5] Ebd., S. 98.
[6] Ebd.
[7] Roland Barthes, Mythen des Alltags, Berlin 2010, S. 196.
[8] Karl Marx, «Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis», in: Fetischismus. Grundlagentexte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, hrsg. von Johannes Endres, Berlin 2017, S. 176–189, hier S. 178.
[9] Ebd., S. 176.
[10] Ebd., S. 177.
[11] Ebd., S. 178.
[12] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Zabriskie_Point_(Film)#cite_ref-7 [zuletzt aufgerufen am 16. Januar 2023].
[13] Vgl. Archiv «APO und soziale Bewegungen», Freie Universität Berlin, Ordner KI, hier zitiert nach Joachim Scharloth, 1968. Eine Kommunikationsgeschichte, München 2011, S. 145.
[14] Barthes, Mythen, S. 77f.
[15] Viktor Schklowski, «Kunst als Verfahren», in: Russischer Formalismus, hrsg. und eingeleitet von Jurij Striedter, München 1994, S. 4–35, hier S. 15.
[16] Schklowski, Zoo, S. 50.
[17] Ebd., S. 123f.