Das Verhältnis von Beobachtung und Anonymität ist vielschichtig, und so zeigt es sich auch in Bern. Bis zum Schluss ist nicht ganz klar, wer hier wem und bei was zuschaut. Wiederkehrende Elemente, die in allen vier Räumen installiert sind, gehören zum ausrangierten Bühnenbild einer Inszenierung von Einer flog über das Kuckucksnest. Das Stück selbst wurde aufgeführt von einer Laientheatergruppe in Schaffhausen. Im grossen Raum steht der zweistöckige Wachturm, die «Schwesternstation». Sie kann durch eine Maschendrahttür betreten werden, deren Muster sich so durch alle einsehbaren Ausstellungsräume zieht und die die Betrachtenden immer wieder daran erinnert, dass irgendwo der Wahnsinn lauert, dass niemand weiss, wo die «Station» eigentlich zu Ende ist.
Vom Turm aus lässt sich eine Armee von grau-roten Harlekin-Teddybären beobachten. Während sie im Foyer in Reih und Glied stehen, seilen sie sich im grossen Raum von der Decke ab und verschanzen sich hinter weiteren Kulissenteilen. Dazwischen hängen und stehen diverse Arbeiten und weitere Ready-mades. Einige kenne ich schon, z.B. die Fotografien einer Jacke[1], die in einer Ausstellung mit dem Titel Why Sex Now 2011 in New York gezeigt wurden. Ich habe sie damals zwar nicht persönlich gesehen, weiss aber, dass die Galerie in einem unterkühlt-eleganten 80er-Jahre-Apartment untergebracht war. Diese Aufnahmen haben ein sehr grosszügiges Passepartout, wodurch sich das Verhältnis von Rahmung und Inhalt umdreht. Kaspar belässt den in Originalgrösse abgebildeten Teil-Objekten (hier auch: Reissverschlüsse, Nähte) den Grad von Fetischcharakter, den zu generieren sie in der Lage sind, und stellt vor allem einen Raum her, in dem die Desires frei zirkulieren können. In dieser Strategie scheint auch schon die Ungreifbarkeit einer Künstler/innenposition auf, die für alles offen ist und vieles integrieren kann, aber auch nichts davon braucht und in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu den Kunstdingen selbst steht. Genres, die sich so als Vergleich oder Vorläufer aufdrängen, wie beispielsweise relational aesthetics, kommen dabei als Echos zurück. Die eher soziale, denn gewebte fabric materialisiert sich in den vom Künstler initiierten Produktionszusammenhängen, dazu gehören Kollaboration, gemeinsame Reisen oder auch Publikationen wie Provence.
Im selben Raum läuft hinter einem Paravant aus Bühnenbildelementen parallel auf drei an die Wand gelehnten Screens ein Film, in dem sich eine Person in Zeitlupe das Gesicht eincremt. Full disclosure: Diese Person bin ich selbst, die Arbeit heisst Hydra Life und ist von 2013. Für mich hatte sie immer eine logische Nähe zu Andy Warhols Screentests aufgemacht – dem stummen Abfilmen einer Person für die Dauer einer Filmrolle – bedeutet demnach auch ein Austesten dessen, wie lange der Glamour einer Pose standhält, bevor die Erschöpfung sichtbar wird und überwiegt, wenn es zu viel wird der Creme, die Schönheit und Jugend verspricht, aber auf die Dauer doch nur die Haut reizt. Vor den Bildschirmen ist weisser Teppich ausgelegt, der natürlich sofort grau und schmutzig wird. Auch hier suggeriert das Set-up eine Form der Überwachung, als ob der Film nicht ganz jugendfrei ist und deswegen automatisch ein Fussabdruck abgenommen wird, von jeder Person, die sich trotzdem entscheidet daraufzuschauen.
Die Ausstellung ist voll mit solchen Miniaturszenarien, die halb Verführung und halb Abrechnung sind, die Intimität vermessen und in Kaufverhalten auflösen (es funktioniert auch andersrum, Kaufverhalten wird in Intimität aufgelöst). So auch die zur Eröffnung gezeigte Performance[2]: Exzellent gecastete androgyne Performer/innen in weissen Anzügen, letztere Teil der Bühnenkonzeption einer Modenschau für das Label FFIXXED in Shanghai, bewegten sich über Stunden langsam durch den ersten Raum rechts, den sie mit den Besucher/innen, einigen hereingestolperten Teddybären, aufgeschnittenen Schuhen aus Bronze[3], einer Fotografie aus der Serie der gescannten Schweizer Stoffe für den Japanexport[4] und einer ebenfalls sehr grosszügig gerahmten kleinen Fotografie aus einem Basler Heroin-Archiv[5] teilten. Auf diesem Bild ist eine Gruppe von Leuten zu sehen, die sich einen Schuss setzen, in meiner Erinnerung kaum eindeutig zu erkennen.
So wie Heroin die Logik eines eskalierenden Kapitalismus, wie er in der 80er und 90er Jahren offensichtlich wurde, quasi in den Körper und damit ins limbische System selbst hinein zieht (die Drogenkrise kann ja auch als eine spezifische Auflehnung gegen die damals antizipierten Erfolgsbiografien gelesen werden), konnte die Mode den Look der davon gezeichneten Körper als Abweichung von einem normativen Bild von Gesundheit so erfolgreich stilisieren, dass ihr Nachhall als ästhetische Setzung noch immer funktioniert. Tobias Kaspar zieht all diese Mechanismen gleichermassen zusammen, die Heroinkrise kippt direkt in deren Chic und damit weiter in zeitgenössische Beispiele von Künstler/innenperformance; Anne Imhofs Arbeit Angst II im Hamburger Bahnhof fällt mir dazu ein. Aus dieser Perspektive spannt sich der Bogen einer Genealogie von ästhetischen Ausweichbewegungen vor den realen und symbolischen Erwartungen der Institution und wie sich das in Leben, Mode und Kunst abbildet, hier am deutlichsten auch chronologisch und ortspezifisch auf.
Im Raum linkerhand des Foyers gibt es das Gegenstück zu den Stoffen aus Schweizer Produktion, Aibo[6]. Der silberne Roboterhund (der laufen kann) ist eine «lernfähige künstliche Intelligenz für den zeitgenössischen japanischen Haushalt» und ausschliesslich auf dem japanischen Markt erhältlich. Spätestens hier wird deutlich, wie Import und Export in den Arbeitszusammenhängen, die sich hinter dieser Ausstellung aufmachen, immer ausgeglichen sein müssen. Was auf internationaler Ebene gehandelt und verschoben wird – künstlerische Positionen, aber auch Jeans und andere Produkte – gilt im Grunde genauso für das private und professionelle Umfeld. Das ist ein ständiger Austausch, der zwar das Geben und Nehmen im Blick hat, dabei aber nicht nur die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen auflöst, sondern genau daraufhin arbeitet, Autorschaft im Sinne von Autorisierung irrelevant zu machen. Der Legitimierung einer bestimmten Entscheidung wird das ausgeglichene Verhältnis entgegengesetzt, und das hat mehr mit dem Verweigern von Autorität zu tun als mit z.B. Dekonstruktion. Durch diesen ständig irgendwo anwesenden symbolischen Nullwert, der Independence auch ist, geht nicht zuletzt die Verlässlichkeit auf die Bedeutung einer Referenz verloren, «Vermittelbarkeit» wie es im Pressetext heisst, und dann muss aus der Affirmation der permanenten Bewegung von diesen ganzen Begehren gezwungenermassen so etwas wie Freiheit für alle herausgeschält werden.
Im Garten der Kunsthalle steht eine Höhle aus Ästen, in Anlehnung an jene magische, die in Lars von Triers Melancholia von der Protagonistin Justine gebaut wird, um für das reale Ende der Welt einen Pro-forma-Schutzort zu schaffen. Die einzelnen Äste sind Bronzen mit vergoldeten Rändern. Sie wurden lediglich in die Erde gesteckt, entweder darauf vertrauend, dass die Menschen in Bern gar nicht auf den Gedanken kommen, sie mitzunehmen, oder aber aus einer pragmatischen Entscheidung. Vielleicht braucht es auch keine massive Verankerung, wenn man etwas einfach ablegt und dann wieder geht.
[1] Nina coloring her hair, 2010 (aus der Serie / from the series Why Sex Now), Alex Zachary, New York, C-Print / C-print
[2] Uniforms, 2018, Zweiteilige Uniformen in Weiss, zwei Performer, Mineralwasserflaschen, zwei Plastikbecher / Two-piece uniforms in white, two performers, mineral water bottles, two plastic cups
[3] Hunter, 2016, Bronze (geschnitten und teilweise poliert) / Bronze (cut and partly polished) und Stan Smith, 2016 Bronze (geschnitten und teilweise poliert) / Bronze (cut and partly polished)
[4] Three Ladies in the Rain, Coats, Umbrella and Fake Diamonds (pastel shades: grey, rose, light green), 2018, gerahmter C-Print auf 100% Baumwolle Papier / framed c-print on 100% cotton paper
[5] Spitalstrasse (Erstes Offizielles Gassenzimmer), Basel, 1992, 2018 Inkjet-Druck, Papierkleber, grundierter Leinenstoff auf Keilrahmen. Inkjet print, paper glue, primed linen on stretcher frame. Foto/photo: Martin Rütschi / Keystone
[6] Aibo, 2018, Roboterhund/ Robot dog