Ein kleines Feld, circa 2835 Kilometer Luftlinie von Zürich entfernt, in Shindisi, einem Dorf in Georgien. Dort fand vom 1. bis 4. September 2016 das Projekt Tbilisi 16 statt. «Extra muros»! – so wurde Tbilisi 16 auch auf der Website der Kunsthalle Zürich angekündigt, während diese wiederum von der Manifesta 11 What People Do For Money eingenommen (bzw. vertrieben) wurde. Hinaus aus der Institution, weg vom Kapital, «off to hear, see and feel what people do for no money…!».
Kurator und massgeblicher Initiator Daniel Baumann versteht dieses internationale-lokale Ausstellungsprojekt, welches er innerhalb der letzten 10 Jahre in Tiflis bereits mehrmalig mit Künstler/innen, Kurator/innen und Theoretiker/innen vor Ort verschiedenartig realisiert hat, als eine Art temporal hochkonzentrierte, mobile Open-Air-Kunsthalle. Der georgische Künstler Gela Patashuri, welcher schon früh mit Baumann vor Ort zusammengearbeitet hatte, wiederum äusserte seinerseits einmal, das Projekt stehe nicht in Zusammenhang mit «westlicher» relationaler Ästhetik, sei weder «Service» noch «Produkt».[1] Dies traf sicher auch auf die diesjährige Ausgabe zu, denn trotz Involvierung von teils international sichtbaren Akteur/innen und Netzwerken profitiert und zirkuliert dieses «(Kunst-)Ereignis» eben nicht als exotische Eventdestination zwischen zwei Messen in irgendeinem Kunstkalender. Dieser vermeintlich gewollte «Under the radar»-Status scheint tatsächlich auch der Tatsache geschuldet, dass Tbilisi 16, sowie vorherige Ausgaben, den Austragungsort eben gerade nicht als gewissermassen östliche Alternative zur westlichen Hegemonie der zeitgenössischen Kunst verwertet und verbraucht, ein inzwischen gängiges Konzept etlicher Biennalen, die oftmals sowieso lediglich geografisch ausserhalb des euro-amerikanischen Kunstbetriebs positioniert sind. Auch wenn die ortspezifischen Bedingungen – ökonomische, konfessionelle, botanische, kulinarische, meteorologische et cetera – durchaus die Produktion und Rezeption von Tbilisi 16 schon rein infrastrukturell beeinflussen, ist das Interessante und Visionäre an der Veranstaltung gerade diese fast zufällige, arbiträre Wahl des Ortes zugunsten eines Anspruchs auf allgegenwärtige Unvorhersehbarkeit und ideologische Unfixierbarkeit, die eigentlichen Potenzen von zeitgenössischer Kunst.
Neben wiederkehrenden Protagonisten der vorausgehenden Ausgaben von Tbilisi, wie Patashuri, Ei Arakawa, Tobias Madison oder Nikolas Gambaroff, war Tbilisi 16 auch der Austragungsort der Präsentationen des diesjährigen Kadist Production Award, welcher in der Vergangenheit mit einer Ausstellung in der Kunsthalle Zürich einhergegangen war. Der Zürcher Off-Space Up State (Marc Hunziker, Chantal Kaufmann, Rafał Skoczek, hier mit ihrem temporär adoptierten georgischen Strassenhund Poppers), einer der Preisträger/innen, errichtete ein Baumhaus ohne Baum im quasi «DIY swiss brutalism»-Style, welches gleichzeitig als Bühne, Aussichtsplattform, Kino und einzigen überdachten Zufluchtsort für die von nah und fern angereisten Teilnehmer/innen und Besucher/innen fungierte. Es bildete somit sozusagen das Herzstück und das Plenum der Lesungen, Performances, Screenings und Debatten der kommenden vier, zunächst erdrückend heissen und bald schon stürmisch-frostigen Septembertage. Ein weiterer architektonischer Beitrag kam wiederum in Form von Patashuris anmutig-avantgardistischem Klohäuschen.
Überhaupt schien Tbilisi 16 sich vor allem mit Gestik und Formen des «Exkretionellem» zu beschäftigen, das heisst mit Prozessen der Verarbeitung, der persönlichen wie kommunellen Erleichterung, des Loslassens, des Freisagens, der freien, also unsinnfälligen Mitteilung und des unkontrollierten Rede(aus)flusses und schliesslich der territorialen Markierung. Tue Greenfort zum Beispiel baute über mehrere Tage und unter freiwilliger Beihilfe vieler einen konstruktivistisch inspirierten Drachen. Während des gleichen Zeitraums, auf besagtem phallischen Baumhaus, moderierte Ei Arakawa seine Sextalkshow Deda Bodzi (Mother Vertical) – Love Sex SOS! unter der mehr oder weniger freiwilligen Mitwirkung von sogenannten Sexperts wie Psychotherapeutin, Couple-Coach und Gruppendynamikerin Marina Gambaroff (zugegebenermassen der einzigen zertifizierten (S)Expertin) und wortgewandten Laien wie Ketuta Alexi-Meskhishvili, Karl Holmqvist, Paata Sabelashvili und Lisa Jo. Nachdem mehrere klar vorgetragene Fragen und Dilemmas zeitgenössischer Intimität formuliert («pegging», «threesomes», Schuhfetisch etc.) und entsprechend verhandelt wurden (Sabelashvili: «Follow Nike: Just Do It!…»), kann das Ergebnis dieses dreitägigen Panels dahingehend zusammengefasst werden: Have sex, with whom- or whatever you like — but if you can, make love. In diesem Zusammenhang seien auch die absurd-absoluten Aphorismen wie «smart critiques, stupid creates» der rollstuhlfahrenden Trailertrash-Puppe von Tobias Madisons Red Lace, Moon Unit, Black Comet Cometh! erwähnt. In dieser Performance, vom Berliner Kuratorenteam Dingum präsentiert, schien Madison die etablierten Klischees und vermeintlichen Abhängigkeiten – kreativ-ignorante/r Produzent/in vs passiv-intellektualisierende/r Rezipient/in beziehungsweise Rezensent/innen – innerhalb des Kunstmarkts zu karikieren, wie sie gewissermassen auch makrogesellschaftliche Phänomene wie die Polarisierung der Wahlbevölkerung in den USA charakterisieren mögen.
Nicht alle Beiträge waren derart dialektisch harmonisierend. Georgia Sagri lieferte eine aufgeladene und elektrisierende «Mumble trance»-Performance aus ihrem Repertoire, Long Live the Lions Wolves. (Das wechselhafte, irritierende Mikroklima, welches kurz darauf die Abende in Shindisi bestimmen sollte, kann letztlich nicht ohne Berücksichtigung ihres Konzeptschamanismus erklärt werden). Sagri war es auch, die die unterschiedliche Rezeption und Appropriation von vermeintlich geladenen Symbolen wie brennende Hakenkreuze in zeitgenössischer Kunst in Tiflis konkret anzusprechen (ver-)suchte im Anschluss an das Video Armed Forces des georgischen Künstlerkollektivs Nik O Nik. Denn wenngleich im Strassenbild von Tiflis durchaus trendgebende Jugendliche in vielerlei Vetements «avant la lettre» auszumachen sind, so sind Xeno- und LGBTQ-Phobie nach wie vor vertretene ‹Werte› der orthodox-christlichen Gesellschaft, die im Zuge der Nationalisierung und Neoliberalisierung als konkrete Bedrohung für entsprechende Minderheiten, einschliesslich Veganern (!), expliziter geworden sind, nicht zuletzt gegenüber der lokalen Kunstszene. (So wird in der von Nationalisten und Neorechten betriebenen Military Bar beispielsweise ein Gericht namens «Lesbian Omelett» angeboten, die gleiche Szene, welche wiederum das hipster-artsy-faggy Café Kiwi im Mai dieses Jahres mit Bratwürsten attackierte.)
Als tatsächlich ortsspezifische Intervention sei in diesem Zusammenhang auch noch die Performance Rant Chant der eingeflogenen Boyband, die sich zusammensetzt aus Stefan Tcherepnin, Tobias Spichtig, Tobias Madison und Karl Holmqvist, genannt. Innerhalb der dampfenden Atmosphäre des traditionsreichen und normalerweise geschlechtergetrennten Abanotubani-Hamams in Tiflis’ Altstadt und begleitet von Tcherepnins kosmisch-elektronischen Klängen wurden Pop-Fetzen wie Ru Pauls gequeert postfordistischem Supermodel (You Better Work) oder Willow Smiths unsinnigen Whip My Hair als sulfurbenebelte Mantras einer bestehenden/kommenden kreativen Klasse interpretiert.
Das süss-saure, regendurchnässte Finale von Tbilisi 16 schliesslich wurde kulinarisch begangen durch erstklassige und progressiv gesinnte «Mtsvadi» (georgische Schaschlik), kuratiert von Andro Wekua, sowie musikalisch umrahmt von Tcherepnins Gruseljam im Kofferraum eines Kombis. Letzteres endete in einem polyphonen hawaiianischem Gruppenchant und brachte alle noch halbkranken sowie glücklich-erschöpften Akteure und Gäste auf dem nun komplett verschlammten Acker wieder zusammen. «Primordial soup as social glue: ‹Matsch› doesn’t judge».
[1] Siehe hierzu den Beitrag Patashuris sowie von anderen Autor/innen in «Dispatch. Contemporary Art and Architecture in the Caucasus,» Artforum, Vol. 51 No. 8, (April 2013).