Rezept, Rezeption, Rezeptionist

Über die Präsenz der Documenta14 in Athen

Ein zeitgenössisches Bild von Athen, das nicht aus einer medialen, voyeuristischen Krisenbeobachtung resultiert, muss über ein selektive Rezeption Griechenlands als antikes Vermächtnis oder als Schuldenkolonie hinausgehen.
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Ross Birrell

Ross Birrell, The Athens–Kassel Ride: The Transit of Hermes (2017), Dionysiou Areopagitou, Athens, Bild: Mathias Völzke/documenta14

Eine internationale Ausstellung wie die Documenta ist wie ein Rezept. Die übliche Betrachtung von big scale-Ausstellungen erkennt die Hoheit der Kuratorin/des Kurators als Meisterkoch/in an, obschon in einer Ausstellung viele kochen. Die Documenta14 in Athen könnten wir vorerst als die Verheißung eines ambitionierten Synergie-Rezeptes für internationale Feinschmecker/innen verstehen. Meine Hypothese zum kuratorischen Rezept der Documenta14 ist folgende:

Sie ist ein Poly-Rezept mit den Zutaten: indigene Freiheitskonzepte, ethnologische Sichtweisen, intellektueller Philhellenismus, Orientalismus und Othering, post-koloniale Theorie, Eurokrise und Verschuldung.

Jedes Rezept (oder Mahlzeit) ist selbstverständlich abhängig von der Rezeption bzw. Wahrnehmung derjenigen, die es kosten. Mir geht es hier nicht nur darum, ob das Rezept am Ende mehr oder weniger schmeckt, sondern auch darum, wie der Kochprozess abgelaufen ist: Wer kocht, welche Würze wurde benutzt und in wessen Küche wurde das Rezept zubereitet. Um die Metaphorik des Kochens hier zu beenden: Mir geht es konkret um die Rezeption als Aufnahme und die Rezeption als Empfang der Documenta14 in Athen. Wie wurde die Präsenz der Documenta14 in Athen wahrgenommen (Aufnahme) und wie wurde sie von der lokalen Szene und Kulturpolitik empfangen. Meine fragmentierte Darstellung der Documenta14 in Athen – die keinen repräsentativen bzw. journalistischen Anspruch erhebt – ergibt sich aus dem Studium verschiedener öffentlicher Positionen, aus der Beobachtung von und Teilnahme an Diskussionen, nicht zuletzt aus meiner biographischen Erfahrung vor Ort im April und im Juli 2017. Ich befasse mich nicht explizit mit künstlerischen Arbeiten, und es ist keinesfalls so, dass einzelne künstlerische Projekte im Rahmen der Documenta14 tout court der kuratorischen Leitidee unterworfen sind, oder dass ich die gesamte Arbeit der Documenta-Akteur/innen vor Ort pauschal negiere. Ich werde versuchen, auf das kuratorische Anliegen und dessen Rezeption in Athen mithilfe folgender Unterpunkte einzugehen.

Rezeption und Realpolitik

Die Stadt Athen empfängt die Documenta mit offenen Armen. Über das Klischee der griechischen Gastfreundschaft freuen sich Politiker/innen und die Bürgermeister in Athen und Kassel. Zwei pompöse Eröffnungsevents in Athen bestätigen die politische Dimension des Documenta-Rezeptes in Griechenland. Politik wird zur Performance und umgekehrt, so meine These. Zu ihrer Erläuterung bieten sich zwei Beispiele bzw. zwei plakative Gesten für die Befriedigung der Hauspolitik in Deutschland und Griechenland. Das erste: Politik findet sich in der Performance von Marta Minujín im Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst, nämlich in der «symbolischen» Zurückzahlung der Schulden Griechenlands. Die Künstlerin überreicht sie in Form von «Oliven und Kunst» an eine als Bundeskanzlerin Angela Merkel verkleidete Performerin. Das zweite: Die von Ross Birrell konzipierte Eröffnungstour der Pferde bzw. der 100tägige Ausritt von Athen nach Kassel bezieht sich auf die Reise des schweizerisch-argentinischen Reiters Aimé Tschiffely, der von Buenos Aires nach New York auf dem Rücken zweier argentinischer Criollo-Pferde ritt. Ähnlich könnten wir die Reise von Athen nach Kassel mit einer Stärkung der Bindung zwischen Griechenland («armes Kind» der Eurozone) und Deutschland (Europas Hardliner) assoziieren. Kunst öffnet Tore, glaubt die Politik. Es handelt sich leider aber um symbolische Politik und Kunst im großen Gutmenschen-Stil.

Marta Minujin

Marta Minujín, Payment of Greek Debt to Germany with Olives and Art, 2017, National Museum of Contemporary Art/EMST, Athen, Bild: Mathias Völzke/documenta14

Immerhin, die hohen Besucherzahlen der Ausstellung in Athen zeigten, zumindest nummerisch (also nach den gegenwärtigen Messwerten der Geldgeber), dass die Resonanz bzw. die Wahrnehmung des Projektes in Athen erfolgreich war. Athen war in dieser Hinsicht eine gute Entscheidung für Documenta14, und die Stadt selber scheint eine gute Rezeptionistin zu sein, auch wenn man die Besucherzahlen mitbedenkt. Athen ist aber eine gute Rezeptionistin nicht nur, weil die Stadt Institutionen und zahlreiche Räume zu Verfügung gestellt hat, sondern auch, weil die Athener Kulturszene entsprechend vorbereitet war, das Experiment Learning from Athens zu empfangen und (trotz Skepsis) herzlich zu begrüßen.[1]

Das Narrativ von Athen lernen

Es mag vielleicht provozierend oder aphoristisch klingen, wenn hier die kuratorische Geste des Learning from Athens ad hoc kritisiert wird. Es ist nicht meine Absicht, durch die Kritik das Kind mit dem Bad auszuschütten. Aber man wird skeptisch, wenn der Chef-Kurator in einem Statement während der Eröffnungswoche in Athen einräumt, die Stadt sei austauschbar mit Lagos oder Guatemala City. «Athen steht nicht allein, sondern auch für andere Orte dieser Welt», hiess es im Argumentationsschema Szymczyks.[2] Was genau repräsentiert Athen in diesem Schema, wenn nicht das Konstrukt einer südlichen (europäischen) Metropole, die in einem Schub mit den gesellschaftlichen und politischen Realitäten von Lagos oder Guatemala City verglichen wird? Der Vergleich ergibt sich möglicherweise aus einer Sicht, die das Othering mit Kapitalismuskritik sehr einfach verbindet.

Warum wurde überhaupt Athen als äquivalente Stadt zu Kassel ausgewählt? Was möchte man genau von Athen lernen? Athen ist nicht so sehr speziell, wie vielleicht der Nationalstolz viele Griech/innen und Philhell/innen glauben lässt. Athen als Stadt und Kulturort ist aber komplex genug, um nicht nur als Synonym für Demokratie in der Antike oder für die gegenwärtige sogenannte «Krise»[3] wahrgenommen zu werden. Sie verdient eine viel tiefergreifende Analyse, die über die Simplifizierung Europas Norden versus Süden hinausgeht. Der historische Amalgam Athens ist zu vielschichtig, um nur auf drei Perioden bzw. die Antike, die Diktatur der Obristen 1967-1974 und die Ära nach der Weltwirtschaftskrise 2007/08 reduziert zu werden, wie es das Kuratorium im Wesentlichen tut.

My sweet country

Performance My sweet country, Prinz Gholam, Agora von Athen – Odeion des Agrippa, Athen 2017, Bild: Sofia Bempeza

Exotismus und Selbst-Exotisierung

Die Wahrnehmung von Athen als Geburtsort der modernen liberalen Demokratie (Polis) und somit der europäischen Demokratiegeschichte ist bekannt. Sie greift zurück auf die Wiederentdeckung der klassischen Antiken aus einer westeuropäischen Perspektive. Gleichzeitig ist sie für die Konstituierung des modernen griechischen Staates durch das abendländische Prisma relevant.[4]

Die Selbstwahrnehmung der Griech/innen ist also mit der Re-/Konstruktion der westlichen (insb. englischen, französischen und deutschen) Kulturgeschichte und den romantischen Projektionen auf die antike Vergangenheit Griechenlands verbunden.

Wenn gerade Athen als exotischer Ort innerhalb Europas (zwischen Osten und Westen, Norden und Süden) wahrgenommen wird, dann deshalb, weil Exotismus oder genauer gesagt Orientalismus von beiden Seiten, d. h. innerhalb und außerhalb Griechenlands betrieben wird. In früheren Dekaden wurde die Stadt Athen nur mit ihrer antiken Vergangenheit assoziiert und die Insel oder Dörfer Griechenlands etwa als Aussteigerparadies der 68er rezipiert. Nun wird gegenwärtig Athen (und Griechenland in der Reduktion) erneut als exotischer, aber rebellischer Ort verstanden. Aber nicht nur aus einem nord- oder zentraleuropäischen Blickwinkel wird Athen mystifizierend als Standpunkt der europäischen Demokratie (Antike) oder eines national kodierten Widerstands betrachtet (siehe die «Befreiungskämpfe» in 1821 und 1940) sowie einer aktuellen Gegenbewegung mit Blick auf Europolitik (siehe Syriza/Anel-Regierung) verstanden.

Der Orientalismus wird in der Selbstwahrnehmung vieler Griech/innen im gleichen Moment bestätigt. Manche, die sich u. a. als Kritiker/innen neoliberaler Politiken verstehen, haben Schwierigkeiten, über eine Selbstwahrnehmung als Opfer der neoliberalen Geschichte Europas hinaus zu argumentieren. Andere wiederum haben Schwierigkeiten, die Greek Pride in ihrer Empörung als reale Dimension zu benennen.[5] Die kritische Frage nach der Exotisierung durch den Blick von Außen (intellektueller Philhellenismus) kann m. E. nicht ohne die Dimension der Selbst-Exotisierung der Griech/innen als Europas Außen(seiter) beantwortet werden.

Bleiben wir zunächst beim Learning from Athens. Wenn wir mit gutem Willen davon ausgehen, dass die Documenta14 keinen Orientalismus betreibt, sondern im besten Wissen und Gewissen post-koloniale Werkzeuge verwendet – oder zumindest dem Begriff «decoloniality» einen zentralen Platz einräumt,[6] um Griechenland als Beispiel für Unterdrückung (Diktat der Eurozone) und Freiheit zu thematisieren, stellen sich folgenden Fragen:

Könnte es sein, dass im Rahmen der Documenta14 post-koloniale Theorie, die dankbarer Weise im institutionellen Kunstdiskurs an Boden gewinnt, auf sicheren Boden (wie üblich in zentralen Kunstmuseen Europas) oder sogar kontextlos (d. h. ungeachtet dessen Rahmung in Athen) angewendet wird? Könnte es sein, dass die Documenta14 eine antikoloniale/antikapitalistische Front im Süden (mit Athen als Platzhalter) imaginiert, wie übrigens selbst lokale Akteur/innen zu Beginn des Public Programms feststellten?[7] Könnte es sein, dass die emanzipativen Kämpfe von «indigenous peoples» (Polynesier, Māori, Aboriginies) willkürlich auf den griechischen Kontext übertragen wurden?

Das öffentliche Programm «34 Exercises of Freedom» hob Freiheitskonzepte von indigenen Bevölkerungen und die antifaschistischen Kämpfe in Griechenland hervor. Das Debüt des Programmes wurde von griechischen Medien als die Wiederentdeckung der Leichen oder der «Zombies» der Linken (Ideologie) wahrgenommen und diente m. E. zur Verwechselung zumindest zweier Perspektiven: Einerseits steht der Anspruch im Raum, Autonomie-Konzepte, migrantisches Wissen, queer-feministische und Transgender-Identitäten in den Vordergrund zu bringen und zu verteidigen. Andererseits ist die Anwendung solcher Praxen und Positionen unter dem Mantel einer allgemein formulierten antikapitalistischen Idee von «indigener» Freiheit gerade im Athener Kontext wenig überzeugend. Was in diesem Konzept ineinander greift, ist eine willkürliche Parallele zwischen den emanzipatorischen Kämpfen indigener Bevölkerungen außerhalb Europas, dem antidiktatorischen Kampf in Griechenland der 70er Jahre, den Bewegungen gegen Austeritätspolitik in Europa und der emanzipatorischen Politik im allgemeinen.

Ausstellungsansicht im Nationalmuseum für zeitgenössische Kunst/EMST, Athen 2017, Bild: Sofia Bempeza

Auswirkung auf die Athener Kunstszene

Es häufen sich die provozierenden oder kritischen Stimmen, die die Präsenz der Documenta14 in Athen in den Fokus stellen. Große Teile der lokalen Kunstszene (Galerien, Kunsträume und Kunstprofessionals) begrüssen die erhöhte Sichtbarkeit von Athen als Kunststadt anlässlich der Documenta14.[8] Manche davon sind happy über den neuen Einfluss der Athener Szene im internationalen Kunstmarkt und viele fragen, was bleibt nach dem Ende der Documenta. Andere prophezeien ins Blaue hinaus eine neue Wende für die Kunst- und Kulturszene Athens. Viele wiederum betonen die Notwendigkeit, die Kunstinstitutionen Athens zu stärken. Einzelne fokussieren auf eine diskursive Kanonisierung des Paradigmas der sogenannten politischen Kunst in der Ausstellung.[9] Und andere kritisieren die selektive Annäherung oder den unvollständigen Austausch der Documenta14 mit lokalen Akteur/innen,[10] Avtonomi Akadimia geht sogar soweit, aus einer Insider-Position bzw. als Documenta-Beteiligte den «Tod der Documenta» in Athen zu deklarieren um hierfür eine selbst-bestätigte Radikalität hervorzustrecken.[11] Iliana Fokianaki und Yanis Varoufakis sprechen von Krisentourismus und kultureller Aneignung, die die Documenta14 in Athen auszeichneten.[12] Last but not least, das kulturanthropologische Projekt «Learning from documenta»[13], das künstlerische und ethnologische Methoden vereint, setzt auf das Reversieren der Beobachtung und des Lernens.

Aus einer anderen Perspektive kursiert die Kritik an der internationalen Aufmerksamkeit gegenüber der Stadt aufgrund der Documenta14. Athen wird im Mainstream- und popkulturellen Kontext seit zwei Jahren als das neue Berlin des künstlerischen «Nomadismus» gehypet. Warnungen vor dem Einfluss einer solchen Entwicklung auf die Stadt und ihrer Bewohner/innen kamen von vielen Seiten. Beispielsweise existiert ein öffentlicher Brief «To all Documenta14 Viewers, Participants and Cultural Workers», der die Besucher/innen der Documenta14 einlud, anstatt die Stadt bloss zu konsumieren gegen Gentrifizierung und Landaufwertung aktiv zu werden.[14]

Anonymes Poster an der Athener Kunsthochschule, Athen 2017, Bild: Sofia Bempeza

Ein zweiter öffentlicher Brief, verfasst von einer Documenta-Arbeiter/innen-Initiative in Athen[15], richtet die Aufmerksamkeit auf die Arbeitsbedingungen vor Ort. Die Arbeiter/innengruppe (angestellt als invigilators) hat die institutionelle Politik der Documenta als Arbeitgeberin angeklagt. Die Öffentlichkeit erfuhr so, dass die Arbeitskräfte der Documenta über die griechische Arbeitsagentur Man Power (bekannt für die Vermittlung von billigen Arbeitskräften) angeworben werden. Im Brief der Initiative steht u.a., dass den Angestellten beim Vorstellungsgespräch ein anderes Gehalt versprochen wurde, als dann tatsächlich bezahlt wurde: der Betrag änderte sich beim Vertragsabschluss auf 5,62 Euro Brutto-Stundenlohn anstatt 9 Euro. Bonus-Auszahlungen sollten möglicherweise – nach Aussagen der Arbeitsagentur – diese Lohndifferenz ausgleichen. Erwartet wurden flexible Arbeitsstunden, nach dem Prinzip «je nach Bedarf oder Nachfrage». Es wurde verlangt, den Vertrag für eine bestimmte Anzahl von Arbeitstagen im Monat abzuschließen. Gleichzeitig wurde aber verlangt, insgesamt weniger Tage als vereinbart zu arbeiten und aber wiederum die vereinbarten Arbeitstage trotzdem frei zu halten.

6th Athens Biennale

6th Athens Biennale, Waiting for the Barbarians, Eröffnungsevent 5.4.2017, Omonoia-Platz, Athen 2017, Bild: Sofia Bempeza

Die Problematik einer simplifizierten Repräsentation Athens im Schema Norden versus Süden griff die 6th Athens Biennale Waiting for the Barbarians auf. Die aktuelle Athen-Biennale, die im vollen Umfang 2018 zu sehen sein wird, setzte mit einer performativen Pressemitteilung[16] am 5. April 2017 einen parallelen «Pfeiler» zur Documenta. Das Konzept des Barbarismus will das Verhältnis zwischen Fremden und Lokalen, Lehrenden und Lernenden, Europäer/innen aller Couleur, Barbar/innen und Zivilisator/innen, Expert/innen, Lokalpatriot/innen und Wissenskolonialist/innen beleuchten. Dabei geht es um einen Versuch, das Monopol der gesellschaftspolitischen Analyse nicht allein der Documenta zu überlassen und in diesem Kontext eine differenzierende Stimme zu erheben. Was könnte eine Auseinandersetzung mit Athen bedeuten, wenn dieser Ort nicht nur als ein indigener Pool der politischen Freiheit verstanden wird, der sich vermeintlich einem (deutsch)-europäischen neoliberalen Duktus entgegen stellt?

Das Biennale-Event «ANACTACH ME TA DOCUMENA /Auferstehung mit DOCUMENA» das am 15. April (Ostersamstag in Griechenland) im alten Bageion Hotel am Omonoia Platz stattfand, ist ein Beispiel hierfür. Das von der Gruppe DOCUMENA konzipierte Event (Performance-Programm, Ausstellung, Interventionen) suchte nach den blinden Flecken in der Analyse der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Realitäten in Griechenland und Europa, die durch das Documenta-Narrativ entweder aus Unwissen ignoriert oder als sekundär bzw. als weniger bedeutend eingestuft werden. DOCUMENA hält den Spiegel vor die Dokumenta14 aus einer queer-(feministischen)-politischen Perspektive mittels künstlerischer Strategien wie Ironie, Verfremdung, Fälschung (fake) und Überidentifizierung.

6th Athens Biennale, Event ANACTACH me ta DOCUMENA, Athen 2017, Bild: Sofia Bempeza

Zum Schluss: Appell anstatt Zusammenfassung

Was die Verfasserin dieses Texts von der Documenta14 bisher gelernt hat: Künstlerische Arbeiten, die den Anspruch erheben, Öffentlichkeiten und Rezipient/innen politisch zu stimulieren, funktionieren nie ohne Kontext. Deshalb ist es auf der Ebene der Werkrezeption eine Sache, ein Parthenon von zensierten Büchern im argentinischen post-diktatorischen Kontext zu errichten, und eine komplett andere Sache, den Parthenon als Symbol im gegenwärtigen griechischen Kontext anzupreisen. Im ersten Fall steht der Bücher-Parthenon möglicherweise symbolisch für einen demokratischen Geist. Im zweiten Fall kann das Objekt in Bezug auf Athen und seine antike Vergangenheit niemals losgelöst von ultra-patriotischen und nationalistischen Geschichtsnarrativen gelesen werden. Das historische Monument hat zwar keine ideologische Färbung an sich, seine ungeheure Anwendung (und symbolische Präsenz) in der modernen nationalistischen Erzählung des Griechentums kann man aber nicht ignorieren.

Ist es nicht mal Zeit – wir befinden uns im Jahr 2017 –, ein zeitgenössisches Bild von Athen zu kreieren, dass nicht aus Marmor und Eulen (und weiteren antiken Symbolen) besteht? Es ist vielleicht Zeit, die antiken Steine andersartig zu appropriieren, die Monolithen der antiquierten Rezeption Athens zu klauen, und die Gruppe «LGBTQI+ Refugees in Greece» hat bereits einen Schritt in diese Richtung getan.[17] Anders gesagt: Es ist eben Zeit, ein zeitgenössisches Bild zu kreieren, das nicht aus einer medialen, voyeuristischen Krisenbeobachtung resultiert und über selektive Rezeptionen Griechenlands als antikes Vermächtnis oder als Schuldenkolonie hinausgeht.

[1] Zur lokalen Rezeption des Programms der Documenta in Athen im Herbst 2016 siehe z. B. : Despina Zeukili, «documenta14: μαθαίνοντας σε χρόνο αόριστο / documenta14: Lernen in unbestimmter Zeit oder Lernen in der Vergangenheitsform», in: Athinorama Magazine 10.10.2016, http://www.athinorama.gr/events/article/documenta14_mathainontas_se_xrono_aoristo__-2516938.html (12.7.2017). Ioanna Kleftoyanni, «Εμπρός για μια queer αντιαποικιακή ευρωπαϊκή συμφωνία / Vorwärts für ein antikoloniales europäisches Abkommen », in: Popaganda Magazine 6.9.2016, http://popaganda.gr/empros-gia-mia-queer-antiapikiaki-evropaiki-simfonia/ (12.7.2017).

[2] «Reaktion auf Kritik aus Athener Kunstszene», in: Deutschlandfunk Kultur, 7.4.2017, http://www.deutschlandfunkkultur.de/documenta-chef-adam-szymczyk-reaktion-auf-kritik-aus.1895.de.html?dram%3Aarticle_id=383349 (12.7.2017).

[3] Viele internationale Art Professionals, die ich während der Preview-Tage in Athen traf (viele davon wegen der Documenta zum ersten Mal in Athen), fragten mich in small talks nach der Situation im Lande anhand der Krise und wie diese sichtbar sei. Es gibt zwar nicht die Krise. Die Dimensionen der finanziellen und soziopolitischen Krisen Griechenlands und Europas kann man weder mit einem Finger zeigen noch mit einer Stimme erzählen.

[4] Zulongue duree der abendländischenRezeption Griechenlands (seit Ende des 18. Jahrhunderts bis zum 20. Jahrhundert) siehe: Stathis Gourgouris, Dream Nation – Enlightment, Colonization and the Insitution of Modern Greece, Stanford University Press 1996. Für eine gegenwärtige Rezeption von der Last der Antike im Kulturfeld siehe auch: Heiko Schmid, Kostis Stafylakis (Hg.), The Other designs. Historical authenticity as artistic project, Zürich/Athen 2014.

[5] Siehe z. B. die Splittung des Syntagma-Platzes während der Occupy Bewegung 2011 in «oberen und unteren» Platz, d. h. zwischen nationalpatriotischen und linksversierten Akteur/innen. Zum nationalpatriotischen Aspekt in den Bewegungen gegen Austeritätspolitik in Griechenland siehe Sofia Bempeza, «Evacuating the Political. New Greek Patriotism in the Context of People's Movements», in: Heiko Schmid, Kostis Stafylakis (Hg.), The Other designs. Historical authenticity as artistic project, Athens/Zürich 2014.

[6] Ein Blick auf die Beiträge im Documenta-Reader entlarvt «decoloniality» als Kernbegriff für die theoretische Rahmung der Ausstellung (siehe: Indian Act, General Act of the Berlin Conference, Marshall Plan, McKee Treaty, Sámi Act, Zapatista Women’s Revolutionary Law (EZLN), Treaty of Waitangi).

[7] Siehe Kostis Stafylakis, in: Ioanna Kleftogianni, «8 απόψεις για το #documenta_gate/ 8 Ansichte über #documenta_gate», in: Popaganda Magazine, 23.09.2016, http://popaganda.gr/250384-2/ (12.7.2017).

[8] Quynh Tran, «How Has documenta 14 Impacted the Athens Art Scene? It Depends on Who You Ask», in: Artnet news, 14.7.2017, https://news.artnet.com/art-world/documenta-14-impact-athens-1023215 (17.7.2017).

[9]Giorgos Tzirtzilakis, «Ένα ατελές λεξικό για την documenta 14 / Ein unvollständiges Lexikon für die documenta 14», in: Avgi Anagnoseis, 17.7.2017, http://avgi-anagnoseis.blogspot.ch/2017/07/documenta-14_17.html (18.7.2017).

[10] Gian Spina, Jota Mombaça, «Waiting for the After-Effects of Documenta 14 in Athens», in: Arts everywhere, 31.5.2017, http://artseverywhere.ca/2017/05/31/after-effects-documenta-14/ (12.7.2017).

[11] http://avtonomi-akadimia.net/2017/07/12/welcoming-speech-by-joulia-strauss/

[12] ILiana Fokianaki, Yanis Varoufakis, «We Come Bearing Gifts», in: Art Agenda, 7.6.2017, http://www.art-agenda.com/reviews/d14/ (12.7.2017).

[13] Elpida Rikou, Eleana Yalouri, «Learning from documenta: A Research Project Between Art and Anthropology», in: On-Curating, Issue 33/2017, http://www.on-curating.org/issue-33-reader/learning-from-documenta-a-research-project-between-art-and-anthropology.html (12.7.2017).

[14] Artists against evictions, «Open Letter to all Documenta 14 Viewers, Participants and Cultural Workers», 8.4.2017, https://conversations.e-flux.com/t/open-letter-to-the-viewers-participants-and-cultural-workers-of-documenta-14/6393 (17.7.2017).

[15] Öffentlicher Brief der Initiative von Documenta14 Arbeiter/innen, 20.4.2017, auf Griechisch unter URL: http://www.attack.org.gr/documenta-14-learning-from-athens-%CF%8C%CE%BD%CE%BF%CE%BC%CE%B1-%CE%BA%CE%B1%CE%B9-%CF%80%CF%81%CE%AC%CE%B3%CE%BC%CE%B1/ (17.7.2017).

[16] Kuratorisches Statement von Heart & Sword Division: http://athensbiennale.org/en/barbarians/

[17] Markus Kowalski, «LGBTI-Flüchtlinge entführen Documenta-Kunstwerk», in: Queer, 24.5.107, http://www.queer.de/detail.php?article_id=28900 (17.7.2017). Video der Aktion: LGBTQI+ Refugees in Greece, https://www.facebook.com/lgbtqirefugeesingreece/