«DAVEY: (...) You have to play with proximity and distance in the writing, in the portrayals, in the address, in the way you shoot something. There’s always a line you shouldn’t cross, but my mode is pretty confessional, and I think I have a bit of a perverse thing about crossing the line at least once in every film. I’m creating a bit of abjectness in the piece, but it’s essential to always have some element of personal risk, otherwise it’s not worth doing.
INTERVIEWER: When you’re writing, are you aware of the moments that cross that line?
DAVEY: I’ve noticed that when I start performing the material for the camera, I can tell instantly. Did you come to the screening (...)?»[1]
Ein Werk auszuwählen, oder im Fall der diesjährigen Berlinale ein Screening, das für den Charakter eines ganzen Programms steht, das ist bei Ausstellungen oder Filmfestivals eine besondere Herausforderung. Denn auch 2023 sind weder Zeit noch Geld derart verfügbarer für viele von uns, dass wir uns auch nur für einen Moment dem Gedanken daran hingeben könnten, ein Festival, eine Biennale, eine Grossgruppenausstellung in ihrer tatsächlichen Gesamtheit erfassen zu können. Im Gegenteil: Eine Pandemie lockert ihren Griff, ein Krieg hält uns weiter in Atem, Kulturhaushalte zeigen sich krisengebeutelt, das Leben geht weiter. Höchste Zeit also, zu selektieren, Programmhefte zu wälzen, neue Namen nachzuschlagen, heisse Tipps einzuholen, und rein in den Kinosessel, zumindest für ein paar Tage, zumindest in der künstlerischen Programmsparte «Forum».
Moyra Daveys aktueller Experimental-Langfilm Horse Opera (deutsch: Pferdeoper) aus dem Jahr 2022 war ein Screening, auf das sich meine kleine Kunst-Community schnell einigte. Die kanadische Künstlerin und Autorin (*1958) ist durch Ausstellungen in der Galerie Buchholz diesem kleineren und spätestens seit ihrer Teilnahme an der hiesigen documenta 14 auch einem grösseren Kreis von Freund:innen der konzeptuellen Fotografie bekannt. Und auch für mich selbst war Daveys empfindsam selbst kuratierte Ausstellung mit ungezeigten Werken des verstorbenen New Yorker Fotografen Peter Hujar in der Berliner Galeriedependance im Februar 2020 wegweisend. Im eigentlich so förmlichen Medium des Ankündigungstexts gibt Davey preis:
«Es ist aber die Nahaufnahme, die mich berührt. Sie zeigt mir die enorme Verletzlichkeit, wie sehr der kleine Junge darauf angewiesen ist, dass sich jemand um ihn kümmert. Ich muss an mein eigenes kleines Baby denken, als ich es hatte, und wie schwierig das war.»[2]
Die Tickets für die Europa-Premiere waren also schneller weg, als mein alter Rechner refreshen konnte, daher entschied ich mich für eine Vorführung im ehemaligen Krematorium Berlin-Wedding, heute das Kulturzentrum silent green. Die 72 Minuten Bewegtbild in der Haupthalle des Urnensaals bewegten das zahlreiche Publikum und irgendwie auch die Halle selbst, das altehrwürdige Gemäuer. Denn Horse Opera handelt von nicht mehr und nicht weniger als dem Leben an sich, inklusive seiner Vergänglichkeit, seinen schweigsamen Allianzen, seinem eigenwilligen Fluss.
«Die Kamera schaut, oft durch eine schwarze Kreisblende, auf Landleben. Mal holt sie einen Truthahn ins Blickfeld, mal ein Reh, mal eine Dachkante, die schwer am Schnee trägt, und am liebsten guckt sie Pferden zu, gescheckten Pferden, Schimmeln, Füchsen mit roten Wimpern, Ponys mit dichtem Winterfell. Kruppen und Schweife zeigt sie im Close-up, und auch für das Zittern am Widerrist interessiert sie sich (...)»
– verrät der Ankündigungstext des Festivals[3]. Erst später fällt mir die Dopplung des Begriffs der Nahaufnahme (engl. Close-up) in den beiden Ankündigungen auf. Ich erhoffe Intimes und werde nicht enttäuscht diesmal. Formal lebt der Film von seinen langen, stillen Einstellungen auf Daveys Haus und Hof mitsamt seiner vielen Pferde und anderen Tiere in Upstate New York, und auch die Künstlerin selbst rückt verschiedentlich ins Bild. Die Ruhe des Orts ist geradezu greifbar. Die erst durch die Linse der Kamera und nun, beim Screening, durch die Linse der Projektion vermittelte und vergrösserte Körperlichkeit der Hoftiere, der Hausbalken und der Künstlerin selbst erlangen eine fast schon abstrakte Plastizität, die das Ensemble als Schauplatz für meine eigenen Gefühle und Gedanken verfügbar macht.
Unterbrochen wird mein Assoziieren von eine Stimme, die durch die Szenen mäandert: aus dem Off zur Künstlerin im Bild und wieder zurück ins Off. Die Unterbrechungen strukturieren den Assoziationsfluss, den (mit-)geteilten Strom des Bewusstseins. Die Stimme ist weiblich und Davey leicht zuzuordnen. Sie erzeugt Nähe. Doch diese Nähe wird durch ein betont mechanisches Vorlesen gebrochen. Es tönt, als wollte die Vorleserin eine computergenerierte Stimme imitieren. Und auch diese Imitation wird durch wahrscheinlich absichtlich zugelassene Mängel in der Maschinenhaftigkeit der Stimme gebrochen. Nähe und Distanz prallen hier ganz unmittelbar aufeinander, es irritiert, ununterbrochen. Zusätzlich sehen wir Ausschnitte, in denen die Künstlerin selbst das Haus abschreitet. Dabei fokussiert auch ihr eigener Blick einen Bildschirm, ein Smartphone. Kopfhörer im Ohr verdoppeln den Eindruck der Fremdbestimmung dadurch, dass sie der Autorin und gleichzeitig Rezitatorin das Gesprochene vorgeben. Denn die Stimme der tatsächlich computergenerierten Vorlesesoftware innerhalb des Knopfs im Ohr bleibt am Rand der akustischen Wahrnehmbarkeit präsent.
Derart durch den Fleischwolf der Authentizität gedreht, erhält das Narrativ der Tonebene eine weitere entscheidende Dimension: Musik. Diskoklassiker, zum Beispiel von Prince, und andere urbane Sounds, zum Beispiel der Soul-Ikone Lauryn Hill, werden eingespielt. Eine Art Mixtape, das vom Vorglühen, vom Feiern, vom Abhängen und vom Runterkommen erzählt. Stärker, viel stärker noch als durch die Close-ups des Landlebens aktiviert Davey so die ganz persönlichen Assoziationsketten der Zuschauenden. Mir fällt das leidige Ladenputzen ein, mit dem ich mir das nötige Kleingeld für Lauryn Hills erstes Album zu Abizeiten verdiente. Benachbartes Publikum seufzt zu Prince. So oder so: Der Soundtrack verlässt Haus, Hof, ja das ganze ländliche Setting. Während die Einstellungen der Frau auf die Innenräume des Hauses beschränkt bleiben und die Körper der Tiere durch die schwarze Kreisblende einer Schlüsselloch-haften Präsenz in Beziehung zur Protagonistin verharren, schlägt die Musik ihre Schallwellen hoch über die Schornsteine und Weidenwipfel, hinfort über die Wiesenwege und imaginären Highways hinein in die grosse Stadt.
Und so wie in der Fabel vom ungleichen Wettlauf von Hase und Igel – wobei der Igel sich verdoppelt, indem er schlicht seine Frau hinter der Zielgeraden positioniert und so den rasenden Hasen schlägt – scheint Moyra Davey dem zeitlich und räumlich entrückten und entrückenden Soundtrack zu entgegnen: Ich bin schon hier. Ich, das ist die jüngere und doch nicht ganz junge Protagonistin des vorgetragenen Texts, die auf einer Revival-Party der legendären New Yorker Loft-Nächte Vergangenes zelebriert und Zeitebenen verschmilzt. Anziehen, Ausziehen, Ziehen, Tanzen, Tanzen, Tun, Lassen. Dazwischen taucht das nun erwachsene Kind im Text auf, drehen Spazierende ihre Parkrunden in Zwischenblenden des Films, weben sich Ateliereinblicke der Fotokünstlerin und Buchrücken im staubigen Regal in den idiosynkratischen Quilt der Erzählung. Das Anti-Empathische der betont unperfekten Computerstimmen-Imitation rückt ab vom autobiografischen Appeal und verweist zugleich auf nichts anderes als auf die eigene Zeitlichkeit. Es ist dieses Abrücken, Abstand nehmen und Andenken, das das kathartische Potenzial dieses Films ausmacht. Ganz im Sinne der Oper – Schlachten und Schmachten ohne Sessel verlassen – und doch hier, genau hier bei dir und ganz, ganz im Stillen schwelt der Konflikt in den Akten des Aufschreibens, Aufführens und Auffassens.
Mit fortgeschrittener Zeit versuche ich immer weniger, die verschiedenen Stränge der Pferdeoper zu sortieren, sinnhaft einander zuzuordnen oder selektiv auf mich selbst zu beziehen. Ich erinnere mich stattdessen daran, dass Inka mir von einer unheilbaren Krankheit Daveys berichtete. Multiple Sklerose wirft ihren Schatten über Gesehenes, Gehörtes und Gedachtes. Die Zeichen der Vanitas, der Vergänglichkeitsikonografie, werden mir klar. Zusätzlich wohnt der häuslichen Isolation, den nostalgischen Party-Erinnerungen, dem Durchatmen in und mit dem landschaftlichen Exodus, der Fragilität des eigenen Körpers etwas nahezu Allgemeingültiges inne, das diesen Film auch, aber eben nicht nur, zu einem Dokument der Pandemie werden lässt. Gleichzeitig scheint die Abgeschlossenheit jedes Dokuments an sich auch immer verfrüht wie ein zu früh beendeter Lebensabschnitt, ein zu früh verlorener Gefährte, ein Misstrauen gegenüber dem Modus der Reflexion, besonders hier und heute, wo es doch gerade noch ums Überleben gehen sollte. Was mach ich noch hier?, zischt im Film der Schnee, der vom Hausdach glitscht. Was soll ich denn dort?, fragt der Fuchs im Film, der vom Grundstück flieht. Wo zieht es mich hin?, denkt das namensgebende Pferd, das schon lange nicht mehr vor den Karren der Romantik gespannt wurde. Oder zu guter Letzt wieder in den Worten der Künstlerin:
«(...) I took a lot of pictures of my dog shitting and, in 1996, just before my son, Barney, was born, I photographed myself in bed with my pregnant belly and my dog looking like she’s sucking on my tit. Then I surrounded it with little photographs of her arching and taking a shit. The arch of her back perfectly mirrors the arch of my belly.»[4]
Viel zu lange schon liegt Daveys Mother Reader (2001) auf meinem Nachttisch. Fast sechs Lebensjahre inzwischen. Ich bin schon hier, flüstert mir auch das 400 Seiten schwere Kompendium feministischer Texte zu Mutterschaft allabendlich zu. Wenn der Tag wieder zu lang war und die Augen schwer werden. Ich gebe mich geschlagen: Ich lade das Hörbuch runter. Auf den vielen Fahrten zwischen B wie Berlin und A wie Ausserhalb wird es meine wertvolle Begleiterin. Horse Opera entschlüsselt es mir schliesslich. Diese computergenerierte Vorlesestimme! Ist das nicht derselbe beherzte Tonfall, Intonation, vermeintliche Lebensnähe und doch unverkennbar mechanische Note, die die Vorführung des Vorlesens in Daveys Landhaus ausmacht? Schliesst sich hier der Kreis häuslicher Arbeit, geistiger Nahrung, Mehrfachbelegungen von Zeit und Raum? Die Frage muss offen bleiben, denn sie stellt sich tagtäglich neu. «… my mode is pretty confessional», meint Davey und benennt damit eine, wenn nicht die Grundform der Herstellung und Vorstellung von Empathie. Schnee, Fuchs und Pferd stimmen ein. Und so erobert Moyra Davey mit Horse Opera einmal mehr unsere Herzen, unser Hirn und unser Bewusstsein, wenn die Nacht wieder zu lang war.
https://www.youtube.com/watch?v=ywWrUf39QW8
[1] Interview von Sarah Cowan mit Moyra Davey für The Paris Review, 12. Januar 2018, https://www.theparisreview.org/blog/2018/01/12/interview-moyra-davey, 14. März 2023.
[2] Moyra Davey und Peter Hujar, 13. Februar – 11. April 2020, Galerie Buchholz, Fasanenstrasse 30, Berlin,https://www.galeriebuchholz.de/exhibitions/moyra-davey-peter-hujar-berlin-2020#_ec=announcement||start, 13. März 2023. Zur weiteren Auseinandersetzung Daveys besonders mit Hujars Tierfotografien siehe unbedingt den Ausstellungskatalog: Moyra Davey und Peter Hujar, The Shabbiness of Beauty, London 2021.
[3] https://www.berlinale.de/de/2023/programm/202301989.html, 14. März 2023.
[4] «Moyra Davey by Elisabeth Lebovici», in: BOMB Magazine, Nr. 129, 1. Oktober 2014, https://bombmagazine.org/articles/moyra-davey, 15. März 2023.