Barbara Preisig: Du hast im Januar deine neue Stelle als Direktorin des Fotomuseums Winterthur angetreten. Die Zahlen zu den Einzelausstellungen von Frauen, publiziert auf Brand-New-Life, sind ernüchternd. Zwischen 2014 und 2017 gab es sieben Ausstellungen von Männern und gerade mal zwei von Frauen.
Nadine Wietlisbach: Für mich ist das grundsätzlich keine Überraschung. Um die Fotografie ist es fast noch schlimmer bestellt als um die bildende Kunst. Es gibt immer noch sehr wenige Fotografinnen, die im Kontext von Einzelausstellungen im musealen Kontext bedacht werden. Es ist mein erklärtes Ziel, dies in den nächsten Jahren im Fotomuseum Winterthur zu ändern.
BP: Wie erklärst du dir die Unterrepräsentation von Frauen im Bereich der Fotografie?
NW: Teilweise lässt sich das medienhistorisch begründen. Die Fotografie ist ein technisches Medium. Sie wird in vielerlei Hinsicht in Zukunft noch technischer. Technik ist bis heute leider männlich besetzt. Zu Beginn des fotografischen Mediums, im späten 19. Jahrhundert, gab es Berufe, in denen die Fotografie als Dokumentationsmedium diente und die primär von Männern besetzt waren. Natürlich haben schon immer Frauen das Medium in unterschiedlichen Kontexten genutzt. Sie waren aber viel weniger präsent. Und dann gibt es weite Bereiche, zum Beispiel die Alltags-Fotografie oder die Fotografie, die wir der bildenden Kunst zuordnen. Auch da ist die Überrepräsentation von Männer massiv, was sich schliesslich auch im Ausstellungskontext spiegelt. Sie lässt sich aber nicht erklären oder begründen. Ich höre oft das Argument, dass es wohl einfach nicht so viele Fotografinnen gebe, sonst würde man sie ja sehen. Ich halte das für einen Trugschluss. Wer die Frauen in der Fotografie nicht sieht, schaut nicht genau hin.
BP: Wie gehst du als Kuratorin mit diesem Problem der Unsichtbarkeit von Fotografinnen um? Wie findest du die Künstlerinnen?
NW: Gerade unter jungen Künstler_innen findet man ganz viele interessante Fotografinnen, die ich gerne vermehrt fördern würde. Wir haben im Fotomuseum glücklicherweise Ausstellungsformate, wie beispielsweise SITUATIONS, die es erlauben, sehr junge Künstler_innen und aktuelle medienbasierte Entwicklungen im Bereich der Fotografie zu zeigen. Und dabei orientieren wir uns nicht an Messen oder anderen Museen, die bereits etablierte Künstler_innen repräsentieren, sondern gehen direkt an die Basis. Ich schaue mir Abschlussausstellungen an Kunsthochschulen an und orientiere mich an Empfehlungen aus meinem eigenen Netzwerk. Mein kuratorisches Team und ich halten die Augen offen, ich entdecke gute Arbeiten in Magazinen, online, in Ausstellungen, auf Reisen. Ausserdem gibt es eine ganze Reihe von international etablierten Fotografinnen, die noch nie in Winterthur gezeigt wurden.
BP: Das klingt so, als wäre es eigentlich ganz einfach Fotokünstlerinnen zu finden. Warum werden die von anderen nicht gesehen?
NW: Erst seit Beginn der 1970er Jahre sind wir damit beschäftigt, die sozialen und institutionellen Strukturen genauer zu analysieren, die dazu geführt haben und noch immer nicht ausgemerzt sind, warum Frauen in verschiedenen Arbeitsfeldern weniger stark - oder gar nicht - vertreten sind als die Männer. Mit anderen Worten: Dass der Fotokünstler ebenso gut eine Frau sein kann, wird vielen Leuten erst allmählich bewusst.
BP: Bist du für eine Einführung von Frauenquoten im Ausstellungsbetrieb?
NW: Ich war lange skeptisch in Bezug auf Quotenregelungen. Ich bin aber mittlerweile der Ansicht, dass eine Quotenregelung eine Übergangsphase schaffen kann, solange, bis die Gleichberechtigung in die letzten Winkel unserer Köpfe und Systeme vorgedrungen ist. Wir werden in Zukunft also nicht an Quoten vorbeikommen. Allerdings dürfen sich diese Quoten nicht nur auf das Geschlechterverhältnis beziehen. Auch bei Jurierungen, zum Beispiel beim P3, dem Post Photography Prototyping Price, der im Mai in London ausgetragen wird, haben wir einen erweiterten Kriterienkatalog festgelegt.
BP: Und was sind das für Kriterien bei diesem Preis?
NW: Wir wünschten uns eine heterogene Zusammenstellung der Teilnehmer_innen, mit Leuten, die aus verschiedenen Weltregionen stammen und in verschiedenen Disziplinen arbeiten, sowie ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis. Und das haben wir auch geschafft, ohne uns anzustrengen. Oft höre ich von Mitgliedern in anderen Jurys, man brauche ja keine klare Regelung, man könne ja dann mal schauen im Prozess. Ich bin aber überzeugt, wenn man das macht, ändert sich gar nichts. Man muss es im Vorfeld des Juryprozesses thematisieren und natürlich bereits bei der Zusammenstellung der Jury auf Ausgewogenheit achten. Das muss zu einer Selbstverständlichkeit werden, dann können wir auch bald aufhören, es immer und immer wieder erwähnen zu müssen.
BP: Führt das Fotomuseum Buch über Zahlen zur Geschlechterverteilung in Ausstellungen?
NW: Bisher nicht systematisch. Ich weiss aber, dass es seit längerem im Team vermehrt diskutiert wird. Es ist halt immer die Frage, was man dann mit diesen Zahlen macht, welche Schlüsse und Handlungen man daraus zieht.
BP: Viel wurde im Fotomuseum bislang nicht gemacht aus den Zahlen.
NW: In den letzten paar Jahren habe ich gelernt, dass hinter der mangelnden Repräsentation von Frauen im Kunstbetrieb selten eine Strategie oder böse Absichten stehen, sondern vor allem mangelndes Bewusstsein für die strukturelle Problematik, die dahinter steckt. Viele schaffen es einfach nicht, die oberste Schicht der Repräsentation von Künstler_innen zu überwinden und etwas tiefer zu bohren.
BP: Was meinst du damit?
NW: Neben Fragen nach der Recherche und dem Referenzsystem, in dem man nach Künstler_innen sucht, gibt es noch andere Ebenen, die ebenso entscheidend sind für die Frage, wer warum ins Museum kommt. Folgendes fiktives Beispiel dazu: Ich bin im Gespräch mit einer jungen Künstlerin über die Möglichkeit einer Ausstellung. Bald stellt sich die Frage nach dem Zeitpunkt der Ausstellung. Wenn diese Künstlerin nun zwei Kinder, eine Studiotätigkeit und einen Lehrauftrag hat, wird es schwierig sein, innerhalb von ein paar wenigen Monaten eine Einzelausstellung auf die Beine zu stellen. Leute wie diese junge Frau können oft nicht den Anforderungen an die Produktionslogik des Kunstbetriebs entsprechen und fallen so durch das Netz. Wir sollten das ändern und umgekehrt die Ausstellungsplanung auf die Lebensumstände einer Künstlerin/eines Künstlers abstimmen. Es geht dabei nicht nur um die Frage von Kindern und Familie, sondern um Lebensumstände überhaupt, die sich nicht einfach dem Ausstellungstakt eines Museums anpassen lassen.
BP: Du bist die erste Direktorin in der Geschichte des Fotomuseums. Was sind deine Pläne?
NW: Ich wünsche mir für das Fotomuseum Winterthur, dass wir als Haus weiterhin die Themen unserer Gegenwart reflektieren und die Geschichte der Fotografie mit seiner Zukunft verbinden. Lustvoll kuratorische Gefässe zu finden spielt dabei ebenso eine Rolle, wie die Reflexion der Bedingungen, die fotografische Produktion überhaupt erst ermöglichen oder verhindern. Es ist mir ein Anliegen, dass wir gute Gastgeber_innen sind, offen für Besucher_innen unterschiedlichen Alters, und gleichzeitig am Puls der Zeit bleiben, wenn es um Theorie und Recherche geht. Wie wir die Zusammenarbeit im Haus gestalten - kollaborativ und wertschätzend -, soll sich auch in der Arbeit mit Kunstschaffenden spiegeln.
BP: Eigentlich ist es ja nichts Neues mehr in der Schweiz, dass Frauen Ausstellungsinstitutionen leiten. Gioia Dal Molin hat in ihrem kürzlich auf Brand-New-Life erschienenen Essay festgestellt, dass es aber immer die eher kleineren Häuser und Kunsthallen sind, die von Frauen geführt werden. Die grossen, prestigeträchtigen Museen sind immer noch fest in Männerhand: das Kunsthaus Zürich, die Kunstmuseen St. Gallen, Bern bis vor kurzem, das Mamco in Genf und bisher eben auch das Fotomuseum Winterthur. Teilst du diese Einschätzung?
NW: Diese Einschätzung entspricht den Tatsachen, obschon ich persönlich diese Kategorisierung in prestigeträchtige und weniger prestigeträchtige Institutionen (da kleiner und mit weniger Budget ausgestattet) auch problematisch finde. Gute Inhalte werden besonders in kleinen Häusern gross geschrieben, Prestige und Tradition hin oder her.
BP: Bist du denn eigentlich besonders jung für eine Museumsdirektorin?
NW: Ja, eher. Heute sind Kurator_innen allgemein über 40, wenn sie die Leitung von grösseren Museen übernehmen. Das war in den 1960er und 1970er Jahren anders. Jean-Christophe Ammann war 28 Jahre alt, als er das Kunstmuseum Luzern übernommen hat. Szeemann war 31, als er die Kunsthalle Bern übernommen hat. Ich werde oft gefragt, was in meiner Karriere als nächstes kommt, wenn ich jetzt schon so viel erreicht habe. Ob ich danach im Ausland eine Institution übernehmen wolle. Ich finde diese Haltung befremdlich, dass es immer noch mehr sein muss, dass es immer weiter gehen und die Institutionen, die man leitet, immer grösser werden müssen. Diese Haltung ist angelegt auf diese sehr klassisch männlichen Karrieren, die nicht unterbrochen werden von Geburten, Krisen, Todesfällen - kurz dem Leben und wie es spielt. Dem möchte ich gerne etwas entgegensetzen.