Manchmal kann das Leben ganz einfach sein. Manchmal braucht es ein Bild, ein paar Stichworte – und das kritische Statement ist gemacht. Weltpolitisch betrachtet. Im Februar 2017 veröffentlicht Schwedens Klimaministerin und Vizeministerpräsidentin Isabella Lövin via Twitter ein Bild, auf dem Lövin und sieben ihrer (weissen) Mitarbeiterinnen zu sehen sind.[1] Lövin aufrecht an einem Tisch sitzend, ernsthaft in die Kamera blickend, gerade im Begriff, ein gewichtig aussehendes Dokument zu unterschreiben. Ihre Kolleginnen stehen hinter ihr, eine Art Phalanx bildend, ihrer Vorgesetzten über die Schulter auf das zu unterzeichnende Dokument schauend. Damals, zwei Wochen nach Donald Trumps Vereidigung zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, kann Isabella Lövin nur ahnen, dass das ‹Original› der von ihr und ihren Mitarbeiterinnen nachgeahmten Szenerie zum medialen Markenzeichen und Inbegriff der zukünftigen Politik dieses US-amerikanischen Staatsoberhauptes werden wird: Einer relativ inhaltsleeren, deswegen aber nicht weniger gefährlichen und zumeist auf die Länge von Twitter-Meldungen verkürzten Politik, die Trump bis heute in stets gleicher Weise in Szene setzt: Er am Tisch sitzend, nassforsch in die Kamera blickend. Hinter ihm eine Phalanx gewichtig aussehender Herren, die ihren Boss dabei beobachten, wie er mit fettem Eddingstift seine Unterlasse unterzeichnet – etwa mit dem Ziel, fliehenden Menschen die Einreise in die USA oder US-Bürger*innen den Zugang zu Krankenversicherungen zu erschweren, irrsinnige Mauern zu entwerfen, oder mittels US-amerikanischer Einfuhrzölle der Welt einfach nur das (ökonomische) Fürchten zu lehren.
Der feine Unterschied: Trump unterzeichnete auf dem von Lövin und ihren Kolleginnen nachgestellten ‹Original›-Bild ein Dekret, mit dem über Familienplanung, Verhütung und Abtreibung informierenden Organisationen Gelder gestrichen wurden. Lövin hingegen unterschrieb auf ihrer ‹Gegendarstellung› und in Funktion als stellvertretendes schwedisches Staatsoberhaupt ein ebenso ‹echtes› wie zukunftsweisendes schwedisches Klimagesetz; kommentierte dieses per Twitter mit ein paar wenigen aufschlussreichen Stichworten[2]; und kopierte, beziehungsweise demaskierte so – durch leichtes Verschieben des ‹Originals› – auf ziemlich gekonnte Weise den chauvinistischen und machtbesessenen Gestus eines Präsidenten Trump, wahlweise eines Präsidenten Putin, und vieler anderer ihrer männlichen Amtskollegen. Gekonnt war Lövins öffentlichkeitswirksame Copy-Paste-Intervention dabei vor allem auf Grund der offenkundig parodistischen, deswegen aber nicht weniger politischen Intention, die der leicht verschobenen Kopie der Trump-Inszenierung ihre besondere Qualität verlieh. «Eine parodistische Wiederholung des ‹Originals›», die, so Judith Butler im Unbehagen der Geschlechter, offenbare, dass das Original «nichts anderes als eine Parodie der Idee des Natürlichen und Ursprünglichen» sei. Womit Lövin eine Parodie kreiert hatte, die Trumps Parodie der Idee einer naturgegebenen, durch und durch ‹männlich› dominierten Macht auf formvollendete Weise zur Aufführung brachte.
Ausserdem war da noch dieser ziemlich dicke Schwangerschaftsbauch in der Reihe von Lövins Mitarbeiterinnen, der sich, in Stellvertretung eines in zweifelhafter Hinsicht ‹gewichtig› aussehenden Mitglieds im Trupp von Trumps Claqueuren, zusammen mit seiner Trägerin am rechten Bildrand unübersehbar in den Vordergrund der Aufnahme schob – und so, ganz nebenbei, zur weiteren kongenialen Antwort auf Trumps Infragestellung der Entscheidungsgewalt von Frauen über ihren gebärfähigen Körper mutierte. Ein Bauch, der im Kontext internationaler (Politik-)Arbeit bei weitem mehr irritierte als der durch Fettleibigkeit aufgeblähte Körper seines ‹Originals›. Etwas, das auch Lövin – Mitglied der ersten offiziell unter den Vorzeichen des Feminismus agierenden Staatsregierung – bei der strategischen Inszenierung ihrer Unterschrift unter dem neuen schwedischen Klimagesetz bewusst gewesen sein wird. Denn natürlich hätte dieser Bauch nicht in dieser Weise irritieren dürfen. Nicht angesichts eines «vollkommen überholten Feminismus», «längst gelöster Gender-Fragen» und der trauten «Freiheit und Gleichheit im Verhältnis der Geschlechter» – so oder so ähnlich formulierte, ‹steile› Thesen, von denen in letzter Zeit des Öfteren die Rede ist. Lövins, durch ihre einfache, nachahmende Geste implizit, also auf wortlose Weise aufgestellten – und somit der wenig einfallsreichen Rhetorik von Feminismus-Kritiker*innen über «linke Bevormundung» und «Tugend-Terror» kurzfristig die Luft zum Atmen nehmenden – Gegenthesen bzw. -fragen lauteten: Wenn wir alle, unabhängig von unserer geschlechtlichen Disposition, so frei und gleich sind, wie Ihr immer wieder gern behauptet, warum bleibt euer Blick dann am Bauch der Schwangeren hängen? Warum irritiert es eure Sehgewohnheiten, dass ihr um mich herum ‹nur› Frauen seht? Und warum eigentlich war es noch mal möglich, dass sich ein multimillionenschwerer und vom Wahn der ‹Männlichkeit› besessener Markt-Autokrat zum ‹Anführer› dieser (westlichen) Welt erheben konnte?
Emanzipiert, erfolgreich, dauerjung
Ja, warum eigentlich? Warum #MeToo? Die Notwendigkeit von Quoten? Irrlichternde Familien-Politik(en)? Zeitarbeitsverträge? Um mal unsortiert und wahllos weiter nach Gründen für eine kritische Haltung gegenüber dem Status-Quo unserer Gegenwart zu fahnden ... Der Gouvernementalisierung – einer nicht mehr auf äusseren, repressiven Zwängen sondern einer von aussen nur mehr angeleiteten mentalen Regierung des Selbst beruhenden Form der Machtausübung – und der damit einhergehenden Neoliberalisierung unserer Gegenwart wegen, so Michel Foucault, der Philosoph; unseres «unternehmerischen Selbsts» wegen, so Ulrich Bröckling, der Soziologe; der (ungeordneten) Bewegung des Postfeminismus wegen, so Angela McRobbie, die Kulturwissenschaftlerin. Jede*r von ihnen hätte auf die Neuerfindung der ‹Freiheit› und ‹Gleichheit› im Namen des Kapitalismus verwiesen. Und die daraus resultierende Fiktion ‹freier›, ‹gleicher› und deshalb endlos konsumfreudiger Subjekte thematisiert. Fiktionen von nach den Prämissen eines Unternehmens organisierten Subjekten. ‹Gleich› vor den Gesetzen des Marktes. ‹Frei› von den Zwängen irgendeiner Macht. Nur noch der dezentralen Macht der Selbst-Verwirklichung gehorchend. Selbst-Unternehmer*innen halt. Traum eines stets marktkonform handelnden, so genannten ‹homo oeconomicus›. Als gäbe es sie, solche Kosten und Nutzen abwägenden Maschinen-Menschen. ‹Frei› und ‹gleich› wie ein Eisbär in der Wüste Gobi. Selbstverantwortlich, empowert, Dauer-Kund*innen im Coaching-Business. Stets zu be- und zu verurteilen: Weil Du Dich nicht angestrengt hast. Dich nicht fordern und fördern lässt. Dich nicht richtig verkaufen konntest. Dir zu wenig Mühe gabst. Chancen nicht erkannt oder ergriffen hast. Nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort warst. Zu feige für das Risiko des freien Falls. So oder so ähnlich jedenfalls ... Eine Welt wie gemacht für multimillionenschwere Marktautokraten. Entworfen und nacherzählt in Tonnen frei zugänglicher (Selbst-)Management-Literatur.
Dort, zwischen Buchrücken, dann auch diese andere Fiktion. Die Erfolgsstory unserer Gegenwart: Über die Frau. Emanzipiert, erfolgreich, dauerjung. Eine hart an sich arbeitende, streng mit sich und anderen Frauen ins Gericht gehende, Perfektion suchende, nicht oder zumindest unbemerkt alternde, trotz nachlassender Lust auf Sex sexy wie knallhart auftretende, fürsorgliche, bastelnde, backende und Bentoboxen befüllende, durch politische Konstruktionen wie das (deutsche) Elterngeld scheinbar privilegierte, durch anhaltend wenige oder nur unter Einsatz grosszügiger Erbschaften bezahlbare (Schweizer) Kitaplätze herausgeforderte Super-Figur. Mutter, Liebhaber*in, Partner*in und erfolgreiche Selbst-Unternehmer*in in Personalunion. Eine Art Über-Wesen, dessen mentale und von ‹Freiheit› und ‹Gleichheit› schattenhaft begleitete (Über-)Lebensumstände mit denen des berufstätigen Vaters in den allermeisten Fällen irgendwie dann doch nicht wirklich zu vergleichen sind. Umhüllt von Liebe natürlich. Für die Arbeit, die Kinder, die Partner*innen, Freund*innen. Auch für die Erschöpfung, die mit dem Versuch aus Fiktionen Wirklichkeit werden zu lassen, gemeinhin einhergeht. Überhaupt die Sache mit der Liebe. Von Laurie Penny so einleuchtend wie einfach auf den Punkt gebracht: Liebe, die Arbeit macht. Arbeit ist. Emotionale Arbeit. Immer noch grosso modo von Frauen zu entrichten. Unentlohnt. Entlohnt vielleicht durch ein ‹Ja›, einen goldenen Ring, ein (vages) Versprechen, den endlich erfüllten Kinderwunsch. Emotionale Schwerstarbeit eigentlich. Allseits anerkannte Selbstverwirklichung der ‹echten› Frau. Immer noch.
Nur – wer sollte sich da noch beschweren? Vielleicht die Protagonist*innen einer Generation (jüngerer) Frauen, die Kind und Karriere früh, zeitgleich und erfolgreich realisieren, ab und zu etwas ausgebrannt wirken und deshalb nicht selten ins Fach der Totalverweigerung (im Fachjargon: ‹Burn-Out›) wechseln? Oder die weise gewordenen, oft für sich lebenden, weiterhin mehr als hart (an sich und anderen) arbeitenden Feminist*innen der ersten Stunden, denen eben jene ‹jungen Frauen› nicht mehr, aber auch nicht weniger als ihre gefühlte ‹Freiheit› und ‹Gleichheit› zu verdanken haben – 50 Jahre nach «Wir haben abgetrieben»? Alles nicht mehr so richtig Thema – von Trump und dem aktuellen europäischen Rechtsruck einmal abgesehen ... Auch nicht nach einer immerhin ein halbes Jahr lang kontrovers und global geführten #MeToo-Debatte. Einer Debatte, die mit der Veröffentlichung und Diskussion von sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen mehr als notwendig war und ist, dem Feminismus neue diskursive Räume eröffnet, nichtsdestotrotz aber ‹nur› die wiederum öffentlichkeitswirksame und insofern leichter zu diskutierende Spitze eines Eisberges trifft. Eines Eisberges, in dessen Inneren nach wie vor eine jahrhundertealte, und bis heute gleichzeitig wirksamen Praxis struktureller Gewalt gegenüber Frauen vorzufinden ist. Eine Form der Gewalt, die wiederum in Folge von #MeToo – und dessen Fokussierung auf sexualisierte Gewalt gegenüber Frauen – leicht übersehen und/oder übergangen werden kann. Durch junge Frauen – ohne existente sexualisierte Gewalt-Erfahrungen, von denen es, so hofft man, immer noch und weiterhin eine Menge gibt. Aber auch von Männern, denen #MeToo Anlass genug ist, sich in Wochenzeitungen in irritierenden Ausbrüchen verletzter ‹Männlichkeit› über die diskriminierenden Auswirkungen eines so genannten «totalitären Feminismus»[3] zu ergehen.
Solches Abtun des Feminismus als irrelevantes Relikt aus längst vergangenen Zeiten mündet für McRobbie – jedenfalls im Fall feminismuskritischer junger Frauen – in einer so genannten «postfeministischen Maskerade». In einer überaffirmativ-ironischen Re-Inszenierung von ‹Weiblichkeit› durch diese (jungen) Frauen. Mit dem Ziel, sich gerade von solchen feministischen, oftmals unschön und unbequem erscheinenden Forderungen abzugrenzen. Dem muss man nicht in Gänze folgen, um zu erkennen, warum gerade solche jungen Frauen zum neuen heilversprechenden Hochleistungssubjekt von Politik und Gesellschaft erkoren wurden. Denn sie dürfen ja endlich, was ihre Mütter und Grossmütter nicht konnten: selbst entscheiden. Selbstverantwortung übernehmen. Den neuen Errungenschaften der ‹Freiheit› und ‹Gleichheit› Rechnung tragen. Arbeiten. Im ökonomischen, emotionalen wie biopolitischen (Care-)Bereich. Gleichzeitig, wie sich versteht. Andauernd. Ohne Unterlass. Endlich als aktiv(st)er Teil rigoroser Konkurrenzkämpfe in Erscheinung treten.
Was aber, wenn wir McRobbies Maske absetzen, umdrehen und verkehrt herum wieder aufsetzen würden? Was wenn sich die Realfiktion Frau für einen Moment unterwandern liesse? Was wenn wir von Isabella Lövin lernen könnten? Kämpfen, ohne zu kämpfen. Kritik, ohne zu kritisieren. Das Subjektivierungsregime für einen – nicht gegen einen arbeiten lassen. Tun, was von dir erwartet wird. Leicht verschoben. Minimal anders. Demaskierend und entwaffnend zugleich. Perfektion simulieren. Fürsorglichkeit mimen. Durchsetzungskraft imitieren. Führungsstärke beweisen.
Hochstapelnde Kritik
Anfang 1900 verschafft sich Fürst Lahovary aka Georges Manolescu, einfacher Dieb und ‹Halunke› der Jahrhundertwende, mit den Mitteln der Imitation Eintritt in die Räume des gehobenen Habitus. Schnell begreift er dort, in den Hotels der Reichen und Adeligen, wie nah ‹Sein und Schein› in der Welt des Erfolgs beieinanderliegen. Und wird – was als These den Background dieses Textes bildet – zur ersten Figur der Kritik am sich gerade etablierenden, ‹Freiheit› und ‹Gleichheit› für alle versprechenden, kapitalistischen Gesellschaftssystem. Ein System, in dem «fast überall nur der Schein gilt, nicht das Wesen, nur die blendende Hülle und nicht der Kern»[4]. In einer Welt also, «die seit Ewigkeit betrogen sein will, die förmlich vor Sehnsucht danach schreit, sich betrogen zu sehen?» [5], so Manolescu selbst.
In den damals jungen Disziplinen der Psychiatrie und Kriminalistik, aber auch in der Literatur jedenfalls entsteht in der Folge so etwas wie ein «Hochstapler-Diskurs», der – ganz im Sinne des ‹Wahrheiten› erzeugenden Charakters von Diskurse – aus dem einfachen Dieb Manolescu überhaupt erst einen «Jahrhunderthochstapler» werden lässt. Gleichzeitig ist damit ausserdem die Normen brechende Kritik am Scheincharakter (s)einer kapitalistisch geprägten Gegenwart, Manolescus praktische, imitative Parodie der Idee einer naturgegebenen, habituell begründeten Vormachtstellung von Geld und Adel, diskursiv auch schon wieder gebändigt: Im Zuge zahlreicher Presse-Berichte, Gerichtsverhandlungen, psychiatrischer Gutachten, zweier von Manolescu verfasster Memoiren, und einem darauf fussenden Roman Thomas Manns, der aus dem Leben Manolescus die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull entstehen und somit Weltliteratur werden lässt. Spätestens jetzt ist aus der kapitalismuskritischen Figur des Hochstaplers also ein in mehrfacher Hinsicht fiktiver, ‹männlicher›, leicht sonderbarer, tendenziell wahnsinniger, auszugrenzender, im Zweifelsfall zu bestrafender sowie zu disziplinierender ‹Outlaw› geworden, als der er bis heute wahrgenommen wird. Ein Umstand, der erklärt, warum Hochstapler*innen immer nur ‹die Anderen› sind. Und insofern, fast schon als logische Konsequenz, in dem seit den späten 70-Jahren der Psychologie bekannten so genannten «Hochstapler-Syndroms» münden muss. Betroffene dieses Phänomens interpretieren ihre beruflichen Erfolge als Resultat von Hochstapeleien und werten sie als solche ab – nehmen sich also als Hochstapler*innen wahr, ohne Hochstapler*innen zu sein. Eine gern auch von Frauen, diesen vom Spätkapitalismus neu aufgelegten ‹Super-Subjekten›, vorgenommene, jeglicher logischen Grundlage entbehrende Fehleinschätzung und groteske ‹Unwahrheit›, die als Effekt zeitgenössischer Anrufungsverhältnisse allerdings auch nur auf den ersten Blick irritieren kann. Denn dann nimmt man Bröcklings Studie zum Unternehmerischen Selbst zur Hand. Liest von der Glücksspiel-Mentalität unserer Gegenwart, Selbsterfindungen im Kontext gekonnten Selbstmarketings, Selbstimagination im Dienste der Selbstoptimierung, von der Losung der Kreativität als von Künstler*innen abzuschauende, besonders zielführende wie erfolgsversprechende Handlungsmaxime. Und erkennt, wie nah zeitgenössische Subjektivierungsformen solcher, von Bröckling so genannter «Selbst-Unternehmer*innen» und das vom höchst kreativ agierenden Jahrhunderthochstapler Manolescu um 1900 entwickelte Subjektivierungsprogramm der Hochstapelei doch beieinanderliegen. Erkennt wie Manolescus Memoiren zum Literatur gewordenen ‹Urtext› von Bröcklings Thesen zu werden scheinen. An dessen Ende einem nichts Anderes übrigbleibt, als unsere Gegenwart zur Hochzeit für Hochstapler*innen zu erklären. Und Manolescus Memoiren als den Anfang einer Erzählung zu begreifen, in deren Mitte wir – genealogisch betrachtet – zur Erkenntnis gelangen müssen, dass wir alle mehr oder weniger zum Hochstapeln verdammte Subjekte sind; dass Hochstapeleien also nicht als ‹das Andere›, sondern als ‹Norm› unserer suprakapitalistischen Gegenwart zu gelten haben. Zum augenscheinlichen Nachteil für all jene, die typisch ‹weiblich› konnotierte, auf rätselhafte Authentizitäten aufbauende, von Liebesschwüren durchdrungene Subjektivierungsprogramme durchlaufen haben. Frauen also, deren Befreiung durch den Feminismus übrigens nicht mehr «als Antithese zum Leistungsprinzip»[6], sondern als «dessen avancierteste Form»[7] zu gelten hat.
Zynische Zeiten, in denen wir leben. Und wieder die altbekannte Frage am Horizont, ob Frauen nicht einfach die besseren Männer werden sollten? Manchmal sind die Dinge kompliziert. Sehr kompliziert.
«An der Grenze des etablierten Seins»
Dann allerdings denkt man an Isabella Lövin. Und daran, dass die Dinge manchmal auch ganz einfach sind. Dass Fiktionen Gegen-Fiktionen erzeugen können. Dass wir auf ‹Wahrheiten›, die uns regieren, mit eigenen ‹Wahrheiten› reagieren können. «Dass», wie Butler in ihrer Replik auf Foucaults Essay Was ist Kritik? schreibt, «die Macht zwar umgrenzt, was ein Subjekt ‹sein› kann» und «versucht, das Subjekt durch Zwang zu begrenzen». Dass aber «der Widerstand gegen den Zwang in der Stilisierung des Selbst an der Grenze des etablierten Seins [Hervorhebung durch die Autorin]» bestehen kann. Dass sich also durchaus so etwas wie eine kritische Haltung suchen und finden lässt: Etwa «[d]ie Kunst nicht, beziehungsweise nicht auf diese Weise um diesen Preis da regiert zu werden», «die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit».
«Morgen werde ich Hochstapler*in»[8] – könnte ein solcher ent-subjektivierender Programmvorschlag sein. Eine Reminiszenz an Lövins Bildkritik, an ihr Aufgreifen und performatives Verrücken des scheinbar ‹(Natur-)Gegebenen›. An den Grenzen des etablierten Seins. Mit dem möglichen Ziel, das Regime gegen sich selbst zu wenden. Die Saiten des Subjektivierungsprogramms zum Klingen zu bringen. Tun, was von dir erwartet wird. Leicht verschoben. Minimal anders. Demaskierend und entwaffnend zugleich. Perfektion simulieren. Fürsorglichkeit mimen. Durchsetzungskraft imitieren. Führungsstärke beweisen.
Und damit: Authentizität hinterfragen. Sein zu behaupten, wo Werden ist. Nicht um zu siegen. Nicht eines ewig zukünftigen Erfolges wegen. Nicht um uns selbst mehr und andauernder zu drillen. Sondern der Ungerechtigkeit(en) wegen. Um beim Durchbrechen der ‹gläsernen Decke› die Dinge in andere, weniger zweckoptimierte Bahnen zu lenken. Parodien des Ursprünglichen und ‹Naturgegebenen› unermüdlich, aufrecht am Tisch sitzend, ernst in die Kamera blickend, immer und immer wieder zur Aufführung bringend.
[1] https://twitter.com/isabellalovin/status/827457588094758912?lang=de
[2] «Just signed referral of Swedish #climate law, binding all future governments to net zero emissions by 2045. For a safer and better future.»
[3] https://www.zeit.de/2018/15/metoo-debatte-maenner-feminismus-gleichberechtigung
[4] Georges Manolescu, Gescheitert. Aus dem Seelenleben eines Verbrechers, Berlin-Groß-Lichterfelde-Ost: Dr. P. Langenscheidt`s Bibliothek der Zeit, 1905, S. 115.
[5] Ebd.
[6] Ulrich Bröckling, «Das unternehmerische Selbst und seine Geschlechter. Gender-Konstruktionen in Erfolgsratgebern», in: Leviathan, Heft 2, 2002, S. 175-193.
[7] Ebd.
[8] In Anlehnung an Hans-Christian Dany, Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft, Hamburg, 2013.