«The best place to be radical is in the mainstream.»[1] Mit diesem Satz beendete Tim Griffin, zu diesem Zeitpunkt Chefredakteur der Zeitschrift Artforum, die schriftliche Fassung eines Gesprächs, das er 2008 im Rahmen der Konferenz Rotterdam Dialogues mit dem Künstler Edgar Schmitz geführt hatte. Thema der vom Witte de With Center for Contemporary Art veranstalteten Konferenz waren die Rollen und Handlungsfelder von Kurator/innen, Kritiker/innen und Künstler/innen. Griffin und Schmitz diskutierten in diesem Kontext am Beispiel von Artforum, ob heute noch von «editorial authority» gesprochen werden könne, oder ob diese per se durch heteronome Interessen bedroht sei. Recht schnell kam die Sprache auf das seit Dan Grahams My Works for Magazine Pages: ‹A History of Conceptual Art› vielfach diskutierte Problem eines ökonomisch bedingten Zusammenhangs zwischen der Distribution von theoretischer und ästhetischer Praxis in Zeitschriften und deren gleichzeitiger, potentiell Inhalte beeinflussender Finanzierung über Werbeanzeigen. Für Griffin ergab sich hieraus kein grundsätzliches Problem, betrachtete er das Magazin doch als «site»[2]: «[T]he magazine [has to] be considered a kind of object, displaying a schizophrenic capitalism where both sides of a story are there to be read in counterpoint, full of antagonisms but also of tactical maneuvers.»[3] Mit den beiden Seiten meint Griffin etwa das Kapital und die Kritik am Kapitalismus, Mode und Kunst, Hochglanzmagazin und Museum, die «hohe» und die «niedrige» Kunst. Eine Aushandlung dieser Gegensätze und Widersprüche könne, so der Tenor des Gesprächs, nur in diesem Kräftefeld und eingedenk der unvermeidlichen Situierung eines Magazins in unterschiedlichen Ökonomien und Einflusssphären erfolgen.
Etwa ein Jahr zuvor veröffentlichte Texte zur Kunst einen offenen Briefwechsel zwischen deren Herausgeberin Isabelle Graw und Scorched Earth – ein die Veröffentlichung einer Zeitschrift beinhaltendes Projekt der Künstler Gareth James, Sam Lewitt und Cheyney Thompson. Anlass für den im Briefwechsel dokumentierten Disput lieferte die Veröffentlichung von Graws Artikel Von hier aus, den sie im Anschluss an Bennett Simpsons Ausstellung Make Your Own Life (2006) im ICA Philadelphia zur Rezeption und weiteren Konstruktion des «Mythos Köln» veröffentlichte.[4] Die für einen kurzen Zeitraum relativ autonomen Handlungsfelder und Subjektpositionen im Köln der 1990er Jahre mit dem New York der Gegenwart kontrastierend, warf Isabelle Graw Scorched Earth eine allzu grosse und für die Gegenwart symptomatische Nähe zum Kunstmarkt vor. Diese Nähe äussere sich, so Graw, in der Finanzierung des Projekts durch die Beraterin Thea Westreich und die Galeristin Elizabeth Dee.[5] Neben einer Korrektur der Darstellung ihres Projekts reagierten Scorched Earth mit einem Gegenangriff: «What sits in plain view for us [...] is the proliferation of advertisements for every major international fair in your journal.»[6] Graw wiederum argumentierte in ihrer Antwort für die Notwendigkeit, den strukturellen Wandel des Kunstfeldes zu reflektieren, die Finanzierungsstrukturen transparent zu machen und hinsichtlich der symbolischen Ökonomie, der Ware «Information», sowie der eigenen Involviertheit nicht naiv zu agieren. Da jedes im Kunstfeld realisierte Projekt nur innerhalb dieses Feldes und seiner Strukturen realisiert werden könne, gebe es durchaus Möglichkeiten, Entscheidungen zu treffen: «[B]y allowing a dealer and an art consultant to help finance your project you have made a choice.»[7] Die Anzeigen für Kunstmessen entsprachen dem Preis, den Graw im Tausch für einen kostenlosen und anderweitig nicht zu finanzierenden Stand von Texte zur Kunst auf den jeweiligen Messen zu zahlen bereit war. Das halbverborgene Finanzierungsmodell von Scorched Earth hingegen galt ihr als kompromittiert: Gerade sogenannte «alternative» Projekte würden es häufig versäumen, ihre ökonomischen Grundlagen zu thematisieren.[8]
Der von Graw aufgegriffene strukturelle Wandel des Kunstfeldes und die Veränderung des Raums der Möglichkeiten standen im Zentrum der ebenfalls 2007 an der Frankfurter Städelschule ausgetragenen Konferenz Canvases and Careers Today: Criticism and its Markets. Diskutiert wurde die hypothetische Frage, ob das Ende des 19. Jahrhunderts entstandene dealer-critic system noch Bestand habe oder, begleitet von einem Verlust an relativer Autonomie des Kunstfeldes, von einem dealer-collector system abgelöst worden sei. Entgegen dieser der Konferenz zugrunde liegenden Annahme einer Marginalisierung von Kunstkritik und der mit ihr verbundenen kritischen Praktiken argumentierte der Künstler Merlin Carpenter in der 2008 veröffentlichten Publikation zur Konferenz für das Gegenteil: «All cultural producers are critics, all are involved with marketing information and are thereby involved with the politics of knowledge. Information is the institution. If we—we are all critics—are the institution, then institutional critique is of ourselves and our role as value suppliers at the margins of a huge cultural industry.»[9] Für Carpenter ging die mit dem Machtgewinn von neuen Sammler/innen verbundene Ökonomisierung des Kunstfeldes und der sie begleitende Topos der Krise der Kunstkritik Hand in Hand mit der aktiven Verdrängung der realen Funktion, die «Kritik» und ihre Produzent/innen im Kunstfeld der Gegenwart hätten.
Auf den ersten Seiten des Textes formuliert Carpenter Überlegungen zur personellen Besetzung des Symposiums in Frankfurt, auf dem u.a. Isabelle Graw, John Kelsey, Daniel Birnbaum, Melanie Gilligan, Johanna Burton, Tim Griffin und André Rottmann sprachen. Diese für Carpenter nicht nur hier, sondern auch in der Dezember-Ausgabe 2007 der Zeitschrift Artforum in ihrer Interdependenz exemplarisch sichtbar werdende social clique auf der Achse Berlin-London-New York mache, so Carpenter weiter, vom Einfluss und den Interessen neuer Sammler/innen hin zur «gekauften Kritik» des Museums alles sichtbar, nicht aber ihren eigenen Zusammenhang: «In contemporary art, transparency is a kind of foil overlaying secrecy; it does not work.»[10] Carpenter beschreibt «Transparenz» daher als Mittel zur Durchsetzung einer tendenziell diskriminierenden, Werte generierenden und Mehrwert abschöpfenden (sozialen) Ordnung. Er fragt, welche möglichen Strategien sich abzeichnen, die über «selektive Transparenz» und die damit verbundene «business ethic» hinausweisen.[11] Die Antwort hierauf kann weder eine «bessere» Kritik sein, die sich im Sinne eines Feedbackverfahrens funktionalisieren liesse und die der Diskursformation Institutionskritik als Problemhorizont eingeschrieben ist[12], noch das paradoxale Unterfangen einer anderen Form von Transparenz, die notwendigerweise ebenso selektiv wäre. Stattdessen müsse das aktiv Unterdrückte ausgesprochen werden – das die eigene Produktion begleitende, über Wert und Sichtbarkeit mitbestimmende Netzwerk an friends, lovers und financiers und die damit verbundenen Effekte. Zehn Jahre nach Veröffentlichung des Textes von Carpenter bezeichnete Graw Carpenters Vorschlag als «Initiative», die «keine Nachahmer gefunden» hat, da «[man] mit einem solchen Verhalten [...] den sozialen Tod» riskiere.[13]
Die auf selektive Transparenz verweisende Analyse von Merlin Carpenter kennt allerdings Vorläufer und andere Begrifflichkeiten. Bei Pierre Bourdieu, der einen ähnlichen Gedanken für das Fernsehen entwickelte, ist es die paradoxe Macht zu verstecken, gerade indem etwas gezeigt wird. Und zwar «indem es [das Fernsehen; Anm. HL] zeigt, etwas anderes zeigt, als es zeigen müsste, wenn es täte, was es angeblich tut, nämlich informieren».[14] Im Bereich der in Printmedien publizierten Kritik und Berichterstattung ergeben sich vergleichbare Un/Sichtbarkeiten oder In/Transparentes – in anderen Worten: Unsichtbares, das das Sichtbare strukturiert –, wie Jordan Crandall in einem in der Zeitschrift Mute veröffentlichten Artikel deutlich macht.[15] In diesem Artikel stellt er die Frage, weswegen ausgerechnet die Institutionskritik vor distributiven Medien halt gemacht hat, obwohl Zeitschriften und wissenschaftliche Bücher im Feld der Kunstkritik und Kunstgeschichte aktiv an der Bedeutungsproduktion teilhaben und damit an der Generierung und am Transfer von verschiedenen Formen von Kapital in der symbolischen Ökonomie: «The art publication contains almost no criticism of its own assumptions, its contents printed and bound with almost no critical reflection upon the medium in which they are placed. Such criticism halts at its borders.»[16] Diese Auslassung überrascht, ist es doch der Diskurs, in dem sich ortsspezifische Projekte oder temporäre Interventionen im disziplinierenden Register der Kunstgeschichte verstetigen, so wie es auch Printmedien sind, die die paradox anmutende Funktion haben, dematerialisierte Praxisformen zu materialisieren, worauf bereits der Kunsthistoriker Benjamin H. D. Buchloh 1983 in seinem Vorwort zu Michael Ashers Writings 1973–1983 on Works 1969–1979 hingewiesen hatte.[17]
Heute gibt es etliche Beispiele, mit denen sich gegen diese Leerstelle der Institutionskritik argumentieren lässt. Für die letzten Jahre wäre unter anderem der Aufsatz The context as host (2015) des Kunsthistorikers John Tyson anzuführen. In diesem nimmt er Arbeiten bzw. Beiträge von Hans Haacke für die Zeitschriften October und Art Journal in den Blick, die das Verhältnis von künstlerischer Arbeit, Text und Paratext durchkreuzen und die im sozialen Raum verankerte Arbeitsteilung von Künstler/innen, Kunstkritik und Kunstgeschichte sichtbar machen. Auch der Aufsatz Here, Bad News Always Arrives Too Late (2012) des Kurators Vincent Bonin muss an dieser Stelle erwähnt werden. In ihm skizziert Bonin die Rezeption von Institutionskritik in Kanada in ihrer Abhängigkeit von einschlägigen, kunsthistorischen Publikationen und einzelnen Personen, die in einem Zentrum-Peripherie-Modell als Gatekeeper auftreten, ohne diese Funktion explizit zu machen. Rosalyn Deutsches 2004 formulierte Kritik an Alexander Alberros und Buchlohs viel zitierten Entwürfen für eine Historisierung der Konzeptkunst drängt sich ebenfalls auf. Die Kunsthistorikerin Deutsche wirft Alberro in ihrem für eine Ausstellung von Silvia Kolbowski verfassten Katalogbeitrag «Unangemessenheit» mit einigem Erstaunen vor, «den diskursiven Charakter des Gegenstands seines Buchs» zu verleugnen. Gemeint ist das 2003 erschienene Conceptual Art and the Politics of Publicity, der Gegenstand ist die Gruppe von Konzeptkünstlern rund um Seth Siegelaub, den Alberro, so Deutsche, untypischerweise nicht als «Folge eines kunsthistorischen Wissens, sondern als dessen Ursache» behandle.[18] Beiden, Alberro und Buchloh, lastet sie zudem an, «politische Ökonomie als ontologisch privilegierte Basis ästhetischer Politik» zu verwenden, was insbesondere im Fall von Buchloh zu Blindheit gegenüber anderen Machtverhältnissen geführt habe.[19] Einer Blindheit, die bei Buchloh zur Ausblendung der Verankerung des Faches Kunstgeschichte, seiner Medien sowie der Kunstkritik im Allgemeinen in universitären und publizistischen, mitunter hierarchisch strukturierten Ordnungen geführt habe.[20] So selbstverständlich und bekannt all dies von heute aus betrachtet klingen mag, so neu sind die Bestrebungen, sich dieser Zusammenhänge und der mit ihnen verbundenen grossen Erzählungen systematisch anzunehmen.[21]
Interessant ist vor diesem Hintergrund der Zusammenhang zwischen dem, was sichtbar gemacht wird, und dem, was intransparent bleibt. Wie Tony Bennett in The Politics of the Invisible schreibt, organisiert, verbindet und legitimiert Theorie auch in einem abstrakten, also von den konkreten sozialen Zusammenhängen losgelösten Sinne verschiedene Verhältnisformen vom Sichtbaren zum Unsichtbaren: Das Verhältnis von ausgestellter Kunst im Museum zu «Kunst» und ihrer Geschichte ebenso wie das Verhältnis von denjenigen, die nur die ausgestellten Objekte sehen, zu anderen, die aufgrund ihres habitualisierten Wissens oder ihrer sozialen Position die «unsichtbare Realität von Kunst» wahrzunehmen und zu reproduzieren in der Lage sind. Wobei dieselbe Theorie, auch in ihrer progressivsten Form, gerne behauptet, diese «unsichtbare Realität» sei in den Objekten und der (de)materiellen künstlerischen Produktion selbst zu finden.[22] Bei Bennett gibt es somit zwei Unsichtbarkeiten, auch wenn er sie nicht als solche benennt, nämlich das Unsichtbare I, das jeweils unterschiedliche Unsichtbarkeiten installiert – legitime Kunst auf der einen Seite und Ausschlüsse auf der anderen, oder nur in eine Richtung laufende, asymmetrische Aneignungsprozesse etc. pp. – und das Unsichtbare II, das der Konstruktion der Unsichtbarkeit I als unsichtbare Struktur zugrunde liegt und sich beispielsweise in Bennetts Analyse als Voraussetzung jeder theoretischen Artikulation in Form von sozial ungleich verteiltem Kapital zeigt und auf der Konferenz Canvases and Careers Today als hegemonialer sozialer Zusammenhang. Die Trennung zwischen Unsichtbarkeit I und Unsichtbarkeit II ist nicht scharf, und Unsichtbarkeit I trägt dazu bei, Unsichtbarkeit II abzutragen, und doch zeigt sich hier eine Struktur, die sich auf die Berichterstattung über Kunst, ihre Historisierung und die Medien der Kunstkritik anwenden lasst.
Die soziale Dimension von Unsichtbarkeit II, auf die auch Carpenter hingewiesen hatte, bezeichnete Adam Jaspar in Glarus und im Hinblick auf Kunstkritik als «dark matter of publishing». Wobei hier gerade nicht auf die mit dem Begriff verbundene und für Greg Sholettes Verwendung in Dark Matter entscheidende politische Ökonomie abgestellt wird, sondern vielmehr auf das gleichzeitige Vorhandensein sichtbarer bzw. sichtbar gemachter und unsichtbarer Strukturen. Diese sind für Kunstkritik, ihre Medien und ein Kunstfeld, das auf die Produktion von Wissen angewiesen ist, zentral und unumgänglich.[23] Wie sich aus den bereits angeführten Diskursbeiträgen unschwer ableiten lässt, soll hier in keiner Weise die Annahme vertreten werden, dass diese «Ökonomie des Sozialen» nicht bekannt wäre. Abschliessend möchte ich daher auf drei Entwürfe hinweisen, die diesen Aspekt der Ökonomie im Bereich der Printmedien und die unsichtbaren Strukturen der verbalisierten Kritik und Diskursbildung problematisiert und sichtbar gemacht haben bzw. Aspekte davon über Strategien der Fiktionalisierung, der Temporalisierung und der Gruppenbildung als oftmals nicht Mitgezeigtes zeigen.
Carpenter reagierte bei der Konferenz in Frankfurt auf einen Vortrag von John Kelsey, der unter anderem Stéphane Mallarmés Zeitschrift La Dernière Mode gewidmet war – ein Modemagazin, das Mallarmé 1874 gründete und das er nahezu im Alleingang unter verschiedenen Pseudonymen für nur wenige Monate editierte. Über die Fiktionalisierung der Autorschaft und weiterer Elemente des Magazins bildete Mallarmé ein reales und zugleich imaginiertes Paris ab, dessen strukturelle Transformation sich von Ausgabe zu Ausgabe in seiner historischen Transformation abzeichnete. La Dernière Mode genügte dabei den Anforderungen des Genres Modezeitschrift, aber beinhaltete in bald jedem seiner Bestandteile einen zusätzlichen Kommentar auf die damalige Mode, die Pariser Gesellschaft oder den seinerzeitigen Stand der Industrialisierung. In diese Richtung weist auch die Analyse von Fumi Yosano in ihrem Aufsatz Partage du Rêve (2003). Sie arbeitet am Beispiel der – hier nicht als Inhalte beeinflussendes Problem, sondern als sozialer Indikator thematisierten – Werbeanzeigen in Form von Visitenkarten heraus, welches fast theatral zu nennende Wechselspiel Mallarmé zwischen Allusion, Anzeigen für real existierende Maisons de confiance und Stellvertreterfiguren inszenierte. Yosano wirft die Frage auf, ob beispielsweise das Verschwinden der Anzeige einer Druckerei und deren Ersatz durch die Visitenkarte einer Werbeagentur faktisch oder strukturell für historische Ereignisse stehe. Yosano bezeichnet diese Strategie im Umgang mit Anzeigen als «meta-meta-merchandise»: Mit den Werbeanzeigen, Waren und Namen würde nicht nur geworben oder durch Produktplatzierung und Werbeintegration in editorialen Inhalten verdeckt Aufmerksamkeit geschaffen, vielmehr erzählten die Heteronyme Mallarmés eine «symbolisch dekompartimentalisierte», semi-fiktionale Geschichte einer Grossstadt am Übergang in den Industriekapitalismus, für die er nahezu alle Bereiche des Magazins verwendete.[24] Die einzelnen Elemente zeigen somit nicht nur sich selbst oder das, worüber sie berichten, sondern zugleich auch all das, was sie allererst zu etwas macht, mit dem sich etwas zeigen lässt: den halbfiktiven und aus Produzenten, Konsumenten und Rezipienten bestehenden sozialen Raum, in den Mallarmé das Magazin einbettet.
Ebenso Strategien der Fiktionalisierung verwendend, entwickelte das Blog Donnerstag in Echtzeit und mit ein- und auswechselbaren Figuren von 2010 bis 2014 einen kunstkritischen Plot, in dem Charaktere, Erzähler/innen und Autor/innen die Rollen tauschten.[25] Die Beteiligten Autor/innen teilten sich Pseudonyme, zettelten Auseinandersetzungen unter ihren Stellvertreter/innen an und wechselten zwischen harscher Kritik und präziser Argumentation ab. Ein wesentlicher Faktor war die Akzentuierung der vorgebrachten Argumente durch partielle Ausblendung und regelmässige Verschiebung der Sprecher/innen-Position. Bereits nach wenigen Jahren bedurfte es eines Wechsels der Strategie: Auch wenn es eine Zeit lang notwendig gewesen war, (Kunst-)Kritik «mit Maske» zu üben, so kam dennoch der Moment, in dem sich die Darlegung der Motive zur Gründung und späteren Einstellung des Blogs als effektivere Massnahme für die öffentliche Diskussion der vom Blog vertretenen Idee von Kunstkritik anbot. Zum einen, um die Mechanismen zu erläutern, über die insbesondere die Aussenseiterin und spätere Chefredakteurin Annika Bender schleichende Aufnahme in die offiziellen Kreisläufe des Kunstfeldes fand. Zum anderen aber noch mehr, um ein über die das Blog Organisierenden hinausreichendes Nachdenken über die vorgeschlagene und praktizierte Form von Kritik, ihre Möglichkeitsbedingungen und Widersprüche anzustossen. Hierzu gehörte eine ausführliche Darlegung der problematischen Sozialstruktur des künstlerischen Feldes und die Frage, welche business ethics und kritischen Strategien «sozialen Tod» und Kooperationszwang aushebeln könnten – ohne Dinge ungesagt zu lassen, ohne auf Kritik an den eigenen Freunden zu verzichten.[26] Über die Kombination von Fiktionalisierung und der hier noch wichtigeren Temporalisierung – gleichermaßen Problem wie Vorteil, siehe den Beitrag Anonymity. II. von A. Coward in diesem Schwerpunkt – wurden auf diese Weise Formen des Schreibens exponiert, die unter Klarnamen nicht möglich gewesen wären, ohne damit letztlich bereits existierende und strukturell vorgesehene «kritische» Positionen mit Inhalten zu füllen oder Kritikalität aufzuführen. Durch dieses Vorgehen und die damit verbundene temporäre Einnahme von zuvor nicht existierenden, «unmöglichen» Positionen konnte der die Kunstkritik bedingende soziale Raum auf zweifache Weise transparent gemacht werden, nämlich als von sozialen Relationen und verschiedenen Formen von Macht bestimmtes Netzwerk im Feld der Kunst und als temporäre Allianz von Gleichgesinnten im Umfeld von Donnerstag.
Was uns zur dritten Strategie bringt, der Bildung von Gruppen: In dem 2018 veröffentlichen Buch The Outside Can’t Go Outside überprüft Merlin Carpenter die zehn Jahre zuvor geführten Diskussionen um den Zusammenhang von Mehrwert, Kunst und Kritik. Er entwickelt ausgehend von The Tail that Wags the Dog und unter Einbezug von eher esoterisch anmutenden Formeln wie «trance x value» den Gedanken, dass die Bildung von neuen Gruppen in existierenden Gruppen und das damit verbundene «network breaking» trotz der Diskreditierung des Gruppenmodells durch die affinity groups der Nullerjahre, wie sie Carpenter auf der Konferenz in Frankfurt kritisierte, weiterhin ein Mittel sein könnte, sich der allumfassenden Konnektivität und der Transformation von Wissen und Kontakten in an anderer Stelle abgeschöpftes ökonomisches Kapital zu entziehen.[27] Ziel dieser Gruppen ist Abschluss von Verwertungskreisläufen und Kooperationszwang bei gleichzeitiger Suche nach spezifischen Formen der durch geteilte Interessen geleisteten Vermittlung der von ihnen verrichteten Arbeit: «burst the bubble, get rid of fake agreement, bring down the group immediately.»[28] Statt Konnektivität steht die Bildung temporärer Allianzen im Zentrum.
Da es sinnlos ist, das eigene Involviertsein in die Ökonomie des Sozialen von sich zu weisen und die mit Gruppen, Zusammenhängen und anderen Formen sozialer Organisation einhergehenden solidarischen Effekte samt Aussicht auf Ermächtigung zu verwerfen, kann hier selbstredend nicht gegen sie argumentiert werden. Doch liefern die etwas eklektisch anmutenden Beispiele – Mallarmés Fiktionalisierung des sozialen Raumes, Benders durch öffentliche Revision temporalisierte und damit zur Diskussion gestellte Strategie «maskierter Kritik» und die von Carpenter vorgeschlagene Benennung und das anschliessende Aufbrechen von Netzwerken, das seine Texte von 2008 und 2018 miteinander verbindet – Bausteine für einen das eigene Arbeiten problematisierenden Umgang mit den vermittelnden Strukturen der (Kunst-)Kritik. Gegenstand bleibt «die Ökonomie», aber eine, die über reduktionistische Verkürzungen hinausgeht und die soziale Ökonomie des eigenen Arbeitens ebenso wie die damit verbundene «selektive Transparenz» ihrer spezifischen, kritischen Ausprägungen und Organisationsformen als Problem berücksichtigt.
[1] Tim Griffin nach Fritz Haeg, der Jane Fonda zitiert, die David Hare zitiert in einem Gespräch mit Edgar Schmitz, «Is There Still Such a Thing as Editorial Authority», in Rotterdam Dialogues, The Critics, The Curators, The Artists, hrsg. von Zoë Grey (Rotterdam: Witte de With, 2010), S. 13–24, hier S. 24.
[2] Ebd., S. 15.
[3] Ebd., S. 14.
[4] Isabelle Graw, «Von hier aus», Texte zur Kunst 63 (September 2006), S. 49–65.
[5] Ebd., S. 55.
[6] Leserbrief von Scorched Earth an Isabelle Graw, Texte zur Kunst 65 (März 2007), S. 255–257, hier S. 257.
[7] Replik auf Scorched Earth von Isabelle Graw in Texte zur Kunst 65 (März 2007), S. 258–259, hier S. 259.
[8] Ebd, S. 258.
[9] Merlin Carpenter, «The Tail that Wags the Dog» in Canvases and Careers Today. Criticism and its Markets, hrsg. von Daniel Birnbaum und Isabelle Graw (Berlin: Sternberg Press 2008), S. 75–88, hier S. 86.
[10] Ebd., S. 81.
[11] Ebd., S. 87.
[12] Sabeth Buchmann, «Feed Back: Performance in the Evaluation Society», Texte zur Kunst 110 (Juni 2018), S. 34–53, hier S. 41.
[13] Isabelle Graw, Die Liebe zur Malerei (Zürich: Diaphanes, 2018), S. 39.
[14] Pierre Bourdieu, Über das Fernsehen (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1998), S. 24.
[15] Jordan Crandall, «From Pages to Parangolés», in MUTE, 16. Oktober 2008, http://www.metamute.org/editorial/articles/pages-to-parangol%C3%A9s-radical-excess-technology-and-publicational-body.
[16] Ebd.
[17] «Editor’s Note», in Michael Asher, Writings 1973–1983 on Works 1969–1979, hrsg. von Benjamin H. D. Buchloh (Halifax: The Press of Nova Scotia College of Art and Design, 1983), S. XII–XIII.
[18] Rosalyn Deutsche, «Unangemessenheit», in inadequate...Like...Power, Ausstellungskatalog, Secession Wien (Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2004), S. 51–66, hier S. 55.
[19] Ebd., S. 55f.
[20] Pablo Müller, «Politiken der kritischen Kunstgeschichte», kritische berichte 2 (2014), S. 22–31.
[21] Vgl. auch Nicolas Heimendinger, «Le grand récit de la critique institutionelle», Marges 22 (2016), S. 50–63.[22] Tony Bennett, «Art and Theory. The Politics of the Invisible», in Theory Rules, hrsg. von Jody Berland et al., (Toronto: XYZ Books, 1996), S. 297–313, hier S. 298 und S. 310.
[23] Gregory Sholette, Dark Matter: Art and Politics in the Age of Enterprise Culture (London: Pluto Press 2010
[24] Fumi Yosano, «Partage Du Rêve – Publicité et Écriture Poétique Dand la Dernière Mode», in Velours et guipure: Mallarmé et la dernière mode, Ausstellungskatalog, Musée départemental Stéphane Mallarmé (2003), S. 48–57.
[25] Siehe www.donnerstag-blog.com.
[26] Annika Bender, Tod einer Kritikerin (Berlin: Sternberg Press 2017).
[27] Merlin Carpenter, The Outside Can’t Go Outside (Berlin: Sternberg Press, 2018), 62f.
[28] Ebd., S. 62.