Das Logo des Booklets der Gasträume in Zürich entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Ein roter, ein violetter und ein gelber gesprayter Punkt zieren Vorder- und Rückseite der kostenlosen Publikation für Kunst auf öffentlichen Plätzen, herausgegeben von der Arbeitsgruppe Kunst im öffentlichen Raum, kurz AG KiöR. Die violett gesprenkelte Fläche zieht sich als einprägsames Icon weiter über die Innenseiten des Hefts. Man erinnert sich daran, dass Sprayen in Zürich eine brisante und politische Vergangenheit hat.[1] 1979 verurteilte das Zürcher Obergericht den Sprayer Harald Naegeli, der seine Strichfiguren im öffentlichen Raum platzierte, in einem politisch motivierten Prozess auf 200 000 Franken Schadensersatz und neun Monate Haft.[2] Dass sie eben da – im öffentlichen Raum – auftauchten, war eine dezidierte Kritik an den Institutionen der Kunst einerseits und an der Uniformierung der Stadt im Zuge ihrer urbanen Entwicklung andererseits. Seine rasch ausgeführten, skizzenhaften Wesen stiessen mehrheitlich auf Irritation. Sie entfachten eine spannende Diskussion darüber, ob es sich denn bei den Figuren auf Mauern, Gebäuden und Plätzen um Kunst handle und was diese denn im und mit dem öffentlichen Raum zu tun haben. Die von Naegeli gezielt platzierten Figuren schufen genau das, was sich laut Oliver Marchart erst durch Widerspruch, Dissens, bildet: eine Öffentlichkeit.[3]
Einer gewissen Ironie entbehrt das Logo auf dem Booklet deshalb nicht, weil es etwas verspricht, was das Projekt nicht einlöst. Es handelt sich nirgends um Sprayereien und auch nicht um Kunst, die irgendwo unbewilligt und klandestin angebracht oder hingestellt wurde, geschweige denn eine breite und kontroverse Diskussion entfacht. Im Gegenteil, hier – das heisst insbesondere auf der Achse zwischen Zürcher Hauptbahnhof und Bahnhof Enge sowie rund um die Hardstrasse im Kreis 5 – lädt die Stadt Zürich zu einem Kunstvergnügen ein. Hier wird jedem ganz offiziell als Kunst deklarierten Beitrag ein Platz zugewiesen und «namhafte Galerien, eine Reihe von Institutionen und Off-Spaces, die sich dezidiert der Vermittlung von Gegenwartskunst verschrieben haben», stellen ihre Werke aus.[4] Vielleicht liegt bereits hier ein Problem? Bei den gezeigten Werken handelt es sich nämlich mehrheitlich um Arbeiten, die vor mehreren Jahren entstanden sind und also nicht für diese konkreten öffentlichen Räume konzipiert wurden.[5] Nach dem Abbau werden sie grösstenteils wieder in die Ausstellungsräume oder ins Lager gebracht. Die vorwiegend objekthaften Skulpturen gehen denn auch nicht auf die soziale, ökologische, wirtschaftliche, gesellschaftliche, rechtliche Situation der Orte ein, auf denen sie platziert sind. Es sind Drop-Sculptures, die hineingestellt völlig hermetisch funktionieren und genauso gut an einem anderen Platz oder letztlich auch in einem Museum stehen könnten. So etwa der «stark stilisierte» weisse Stern des britischen Künstlers Mark Handforth mit dem Titel Snow White (2016). Das Werk muss dann im Booklet auch mit der Erklärung auskommen, dass «die Mehrdeutigkeit des Titels (schneeweiss, Schneewittchen) zur physisch erfahrbaren Wirklichkeit wird»[6].
Kunst im öffentlichen Raum, einem Ort, der so vielschichtig kodiert ist, aber vordergründig nicht als Ausstellungsort für Kunst dient, droht konstant der Vorwurf der Dekoration. Insbesondere dann, wenn sie keinen Diskurs zu erzeugen oder Bezug zum Umfeld herzustellen vermag, wie dies auch bei Gasträume der Fall ist. Der Übergang zu reinem Standortmarketing, wie die vom lokalen Gewerbe finanzierten «Sommerausstellungen» mit Bären oder Kühen an der Bahnhofstrasse vor einigen Jahren, ist dann ein fliessender. Der temporäre Charakter der Ausstattung des öffentlichen Raums verstärkt das Spektakelhafte zusätzlich. Der Eisbär aus Marmor von Kerim Seiler (Ours d’après Regine Gallard, 2014) auf dem Paradeplatz soll denn nicht an die Verantwortung der Grossbanken für die Klimaerwärmung erinnern, weil sie beispielsweise in Fracking-Technologie investieren, sondern – das Gasträume-Booklet klärt glücklicherweise auf – dass es die Spekulation als weit hergeholte gemeinsame Analogie ist: Beim Künstler als behauptete Werkreferenz wie auch die Tätigkeit der Banken.
Anders die Arbeit Erasing (2016) des polnischen Künstlers Artur Zmijewski. Sie zeigt unter anderem sechs Grabsteine, bei welchen die Namen krude herausgemeisselt wurden. Mit diesem brutalen künstlerischen Akt wiederholt Zmijewski die nach dem Zweiten Weltkrieg im ehemals deutschen Breslau, der nunmehr polnischen Stadt Wroclaw, einsetzende Verdrängung und Diskriminierung deutscher Geschichte und Kultur. Strassen wurden umbenannt, Friedhöfe geplündert und als Baumaterial verwendet. Die schockierende und pietätlose Geste des Künstlers zeigt die politisch motivierte Geschichtsklitterung auf und macht deutlich, wie höchst aktuell und akut dieses Thema ist – auch in der Schweiz. Dass das Werk nicht aus dem lokalen Kontext heraus entwickelt wurde, macht es in diesem Fall nicht weniger bedeutungsvoll und anklagend. Dem Basteiplatz als Standort fehlt aber leider jeder inhaltliche Bezug. Anders lesbar wäre die Arbeit gewesen, wenn man sie beispielsweise vor dem bundeseigenem Rüstungsbetrieb RUAG an der Schaffhauserstrasse aufgestellt hätte, welche, in teils prekäre, Länder Waffen liefert.
Es ist gut, wenn Kunst ihre angestammten Räume verlässt. Das macht deutlich, dass es sich bei Kunst um eine Beschäftigung handelt, die sich mit der Lebensrealität und der Gesellschaft befasst. Dagegen, dass die städtischen Behörden den öffentlichen Raum dezidiert für Kunst zugänglicher machen wollen, lässt sich auch nichts einwenden. Und auch das von Gasträume angebotene, enorme Vermittlungsprogramm ist durchaus begrüssenswert. Neben der sehr umfassenden und reich bebilderten Broschüre, die gratis angeboten wird, finden zahlreiche kostenlose Führungen statt.[7]
Im Booklet wird die gönnerhafte Geste allerdings ziemlich überstrapaziert: «Gasträume präsentiert während der Sommermonate herausragende Kunstwerke im Stadtraum – frei zugänglich und gratis für Alle.»[8] Die Formulierung legt nahe, dass der öffentliche Raum, frei zugänglich und kostenlos, ein Ausnahmezustand ist. Doch ist es wirklich diese Kommission, die uns, der Allgemeinheit, den öffentlichen Raum so grosszügig zur Verfügung stellt? Oder ist es nicht vielmehr unser Raum, den uns die KiöR hier offeriert? Die irritierende Verkehrung von Besitzverhältnissen vermeidet die notwendige Debatte darüber, dass die Verwaltung vielfach unter Zugzwang gerät, öffentliche Räume für kommerzielle Interessen herzugeben und damit einer Privatisierung Hand bietet. Doch ist diese Tendenz auch hier vorhanden? Und wer profitiert dann von dieser Ausstellung? Klar ist, dass zu den Gewinner_innen nicht die Galerien gehören, die eigentlich an einem profitablen Geschäft interessiert sein müssten. Mehrere Galerien, die an früheren Gasträumen teilnahmen, berichten, dass keine zusätzlichen oder anderen Besucher_innen in ihre Ausstellungen gekommen seien, noch generierten die Teilnahme oder die teilnehmenden Künstler_innen mehr Öffentlichkeit. Auch dieses Jahr ignoriert die Presse das Projekt der AG KiöR weitgehend.[9] Die Teilnahme an Gasträume ist den Galerien, Museen und Off-Spaces finanziell eher eine Belastung. Sie organisieren und finanzieren Transport, Kommunikation und Logistik zu weiten Teilen selber, während die KiöR für Standortbewilligung, Unterhalt und Versicherung aufkommt. Weil dies mit erheblichen Kosten verbunden ist, finden sich unter den offiziellen Teilnehmenden der Gasträume auch zahlreiche gewerbliche Betriebe als Sponsoren.[10] Sie trüben das Bild, dass hier alles gratis und kostenlos ist. Vielmehr bietet die Stadt Werbefläche für den Gewerbeverband an, für welche die Kunst zum positiven Imageträger wird.
Eines der aktuellsten, kritischsten und ortspezifischsten Werke ist Der Durchschnitt als Norm (2017) des Künstlerduos Meier Franz. Es befragt geschickt Ökonomie und Verwertungslogik, indem der Widerstand gegen die neoliberale Stadtplanung mit konkreten Instrumenten dieser urbanen Neuschichtung, dem Kran, verknüpft werden. Aus dem Schutt der berühmt gewordenen Liegenschaft mit dem programmatischen Namen Resistance in Zürich West gossen die Künstler ein 1100 Kilogramm schweres, normiertes Gewichtselement für Kräne. Diese Arbeit, die nunmehr ‹kranimmanent› für Baufirmen von Ort zu Ort zieht, sprengt denn mit wenigen anderen die überwiegend immobile, objekthafte Kunst der Gasträume. Dies war besonders auch der zeitgleichen Performance-Ausstellung Action! im Kunsthaus Zürich zu verdanken, die durch Gasträume zu einem Aussenposten auf dem Helvetiaplatz kam.
Öffentlicher Raum muss im Gegensatz zu einem Museum gleichzeitig verschiedenste Interessen berücksichtigen. Behörden haben dafür zu sorgen, dass dies gewährleistet ist und dass auch marginalisierte Gruppen Anrecht auf diesen Raum haben. Eine Ausstellung mit Kunst im öffentlichen Raum, initiiert und teilfinanziert durch die öffentliche Hand, müsste, anstatt die Stadt zu dekorieren, eine Diskussion um diesen umstrittenen und für die Zivilgesellschaft bedeutsamen Ort ermöglichen. Im Booklet zu Gasträume steht «Alle Kunst will Ewigkeit»[11]. Dieser sonderbare Satz zeugt von einem längst überholten Kunstverständnis. Seit der Etablierung von Performance, Fluxus und ephemerer Kunst ist klar, dass die Kunst ganz anderes will. Nämlich zum Beispiel ungemütliche Bezüge zum Ort und der aktuellen Zeit herstellen. So wie das in den siebziger Jahren Harald Naegeli machte und damit öffentliche Diskussionen ermöglichte.
[1] Das Booklet mit einer mehrseitigen Einführung von Christoph Doswald, dem Vorsitzenden der AG KiöR, und den jeweils auf zwei Doppelseiten vorgestellten Künstler_innen und ihren Projekten, ist vollständig abrufbar unter www.stadt-zuerich.ch/ted/de/index/oeffentlicher_raum/kunst_oeffentlicher_raum/initiieren_produzieren/gastraeume/projekte.html.
[2] Siehe Raum für Räume, hrsg. von Susanna Nüesch, Barbara Roth und Martin Senn, Zürich, 2005, S. 98.
[3] Siehe beispielsweise Oliver Marchart, «Eingeklemmt. Zwischen politischer Kunstöffentlichkeit und öffentlicher Kunstpolizei», in: kulturrisse. Zeitschrift für radikaldemokratische Kulturpolitik, 01/2005.
[4] Booklet Stadträume, hrsg. von Stadt Zürich, Kunst im öffentlichen Raum, 2017, S. 8, www.stadt-zuerich.ch/ted/de/index/oeffentlicher_raum/kunst_oeffentlicher_raum/initiieren_produzieren/gastraeume/projekte.html.
[5] Die Einleitung suggeriert dagegen eine zeitgenössische Beschäftigung mit höchst aktuellen Themen: «Es braucht einen pulsierenden Zeitgeist, der die Künstlerinnen und Künstler anregt, der die Diskurse fördert, der kreative Auseinandersetzungen provoziert. Vom Zeitgeschehen sind gerade in den letzten Wochen und Monaten viele starke Impulse ausgegangen – Gasträume 2017 bildet das deutlich ab. Selten zuvor haben die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler den Fokus so stark auf politische und gesellschaftliche Bruchstellen gelegt.» Booklet Stadträume, wie Anm. 4, S. 8.
[6] Wie Anm. 4, S. 40.
[7] Je 13 Touren finden in der Innenstadt und in Zürich West statt. Zusätzliche Führungen und Spezialführungen können gebucht werden. Nach Auskunft nehmen auch viele Schulklassen, Kulturvereine und Firmen daran teil, wobei ein Grossteil des Publikums unterdessen ein Stammpublikum sei.
[8] Wie Anm. 4, S. 9.
[9] Eine kurze Notiz war es dem Züritipp wert. Siehe «Draussen spielen», Tages Anzeiger, 12. Juni 2017, https://www.tagesanzeiger.ch/zueritipp/kunst/draussen-spielen/story/18330456.
[10] Aufgeführt sind Firmen wie Jura Cement, Rupf & Co AG, Vinicultura Cadonau, Stirnimann AG, Hebag AG, Merz Baustoff AG, Kibag Bauleistungen AG etc.
[11] Wie Anm. 4, S. 8.