«Was liegt daran, wer spricht?» Michel Foucault wollte 1969 kein weiteres Mal das Verschwinden des / der Autor:in konstatieren, tat es dann aber doch wieder. Und nicht nur er, das Problem der Autorschaft hat sich bis heute als sehr hartnäckig erwiesen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil jede Autorschaftskritik den inneren Widerspruch in sich trägt, dass dabei unweigerlich der / die Autor:in als Figur ins Zentrum gerät, und sei es nur als Leerstelle, die es zu untersuchen gilt.
In einem der aussergewöhnlichsten Bücher der politischen Philosophie der letzten Jahre dreht Gerald Raunig Foucaults Frage um, ohne sie je direkt zu erwähnen. Als Problem erscheint nicht mehr der / die Sprechende, sondern die Sprache selbst. Denn es ist in der Sprache – als Struktur wie als Praxis –, in der sich das Subjekt selbst konstituieren kann. Das Subjekt ist heute dividuell, endlos teil- und wieder zusammensetzbar in den grossen Datenbanken der digitalen Konzerne, algorithmisch konstruiert, reibungslos und umfänglich verfügbar für smarte Strategien der Kontrolle und In-Wert-Setzung. Diese Subjektivierung ist von aussen auferlegt. Sie geschieht ohne direktes Wissen und ohne Einflussmöglichkeit der Subjekte selbst. Die hegemoniale Form, in der sich dies vollzieht, ist die Quantifizierung, und das Ziel ist Optimierung auf Wertextraktion und politische Kontrolle. Die grossen Konzerne und staatlichen Sicherheitsorgane legen immer detaillierte Profile an, um Personen zu erfassen, flexibel kategorisieren und nach den entsprechenden Zielvorgaben behandeln zu können.
Was tun? Konservative Technokritiker:innen wie Shoshana Zuboff («Überwachungskapitalismus») rufen zur Verteidigung des autonomen Individuums auf, jener Zentralfigur der europäischen Aufklärung, das sie, ganz (neo)liberal, als rationale:n Marktakteur:in sehen. Nichts läge Raunig ferner, denn wie die postkolonialen Theorien gezeigt haben, lassen sich Aufklärung und Kolonialismus nicht voneinander trennen, und «die Identifikation und Isolierung als Individuen erweist sich als machistische, koloniale, räuberische Fiktion». (S. 204) Er fragt sich vielmehr, wie sich das dividuelle Subjekt in der Sprache und im Sprechen selbst aktiv hervorzubringen vermag, statt der Frage nachzugehen, welche Formen der Beziehungen und welche politischen Perspektiven sich aus diesem Akt der dividuellen Selbstkonstitution eröffnen lassen.
«Eine dividuelle Maschine, teilbar und teilend, Hamletmaschine. Wenn sie auf ihre maschinische Qualität stößt, verlässt Hamlets Stimme die väterliche Verfügung. Sie verweigert die ungeteilte Einstimmigkeit, klingt in der Resonanz einer Umfuge. (...) Vergiss den Eigennamen. Verwisch die Spuren. Erfinde eine namenlose Sprache der Dinge. Und vielleicht wird irgendwann sogar ein Ich wieder möglich, als Vielheit, als viele Möglichkeiten, alles Mögliche: erste Person der schrägen Imagination, schiefer Kerl und namenloses Wildes, Ich, das nie dein, nie mein, nie sein sein wird.» (S. 15) Die Kritik des Inviduums ist aber kein Aufruf zur Kollektivierung. Denn, «die Kritik der einen, individuellen Stimme mündet gern in ihr scheinbares Gegenteil, die gemeinschaftliche Übereinstimmung der Stimmen. (...) Es geht etwas verloren in der Aufhebung der Stimmen in der einstimmigen Gemeinschaft. (...) Die Stimmen müssen nicht mehr übereinstimmen, sie stimmen jeweils zueinander und zusammen. (...) Dividuelle Daten fließen in die Datenbanken und aus ihnen heraus, und meine Stimme fügt sich». (S. 18–19)
Um es vorwegzunehmen, Raunigs Antwort ist eine Politik der «‹Sorge in der Mehrzahl›, [fähig,] die Vielheit der Sorgebeziehungen ins Zentrum ökonomischer Überlegungen zu stellen und ihnen eine adäquate soziale Organisation hinzuzugesellen». (S. 204) Es wäre allerdings verfehlt, das Buch als einen Beitrag zur Care-Debatte zu beschreiben. Sein Augenmerk und Anliegen ist die Entwicklung einer theoretischen und praktischen Sprache, in der sich das dividuelle Subjekt – in seinem Verschränkt-Sein, aus dem wechselseitige Sorge entsteht – selbst artikulieren kann. Nichts weniger als eine Sprache der Vielheit wird hier entworfen und auf formal höchst erfinderische Weise gleich auch vollzogen. Diese Sprache, so könnte man sagen, ist konzipiert als eine Art unstrukturierte Datenbank, in die Daten aus den unterschiedlichsten Quellen hineinfliessen und aus der auch wieder Daten herausfliessen, in Kombinationen und Permutationen, die weder zwingend noch zufällig sind, die vor allem auch immer anders sein könnten. Jede Möglichkeit nur eine ‹Abfrage› entfernt, aber nicht alle Abfragen sind gleich, und die Resultate zu lesen und für eine solidarische Politik furchtbar zu machen, ist eine Herausforderung.
«Mit Benjamin könnte man sagen, dass unsere Beziehung zur Vergangenheit darin besteht, die begrabenen Embryonen der Zukunft auszugraben, um sie in der Gegenwart zum Keimen zu bringen.» (S. 28) Diese begrabenen, vergessenen, aber immer noch vorhandenen Möglichkeiten findet Raunig, zeitlich und örtlich, am äussersten Rande der europäischen Moderne,[1] etwa in der Übersetzerschule von Toledo, in der «die Zusammensetzung der Versammlung (...) einigermaßen ausgefallen [war] in ihrer Vielfalt, es waren Gelehrte verschiedenen Glaubens und verschiedener Herkunft beteiligt». (S. 39) Von besonderer Bedeutung ist die Figur von Ibn Rushd (lat. Averroes 1126 – 1198), der als Kommentator von Aristoteles der europäischen Philosophie entscheidende Impulse verlieh. Er wird von Raunig als inventiver Mittler entworfen, dessen Leistung im Transfer liegt, der nie direkt sein kann, bei dem um jedes Wort gerungen, es so lange abgeschliffen wird, bis es von jemand anderem aufgenommen werden kann. Dies ist die «Arbeit am zwischensprachlichen Verkehr der Wörter», ausgeführt durch die Orchestrierung der kleinen Stimmen der Übersetzung, des Kommentars oder der Umgestaltung. Raunig, aber es könnte auch Rushd sein, beschreibt diesen Prozess der Orchestrierung so:
«Ich sollte dieses Prinzip oft und in unterschiedlichen Varianten erleben: Immer wurden einzelne Wortgruppen und Sätze aus dem Arabischen übersetzt, und zwar ins vernakulare Kastilisch oder ins Hebräische, die interpretiert, kommentiert, diskutiert und weiter ins Lateinische übertragen wurden. (...) Die mozarabische und jüdische Bevölkerung war allgemein mehrsprachig, aber sie übersetzte auch zu mehrt, mehrhändig, mehrsprachig.» (S. 44)
Das Zusammenspiel der kleinen Stimmen ist das Gegenmodell zur grossen, singulären Stimme der / des Autor:in. Aber auch jede dieser kleinen Stimmen ist vielstimmig. Dividualität ist vielfach und wiederholt teilbar, aber die konkrete Person verschwindet dabei nicht. Ihre Grenzen jedoch werden poröse, und Personen, Orte, Zeiten und Sprachen falten sich ineinander, konstituieren sich entlang überraschender Berührungslinien neu. So lässt Raunig Rushd fragen, «wie war es möglich, den dividuell-abstrakten Intellekt in seiner Verbindung mit den vielen konkreten Wissensgefügen zu verstehen, ja als deren Verbindung selbst? (...) Was, wenn sogar der materielle Intellekt in seiner empfangend-erkennenden Funktion nicht individuell zu denken wäre, sondern wie der aktive Intellekt als dividuell, als einzig über Raum und Zeit des Individuums hinausgehender Aspekt der Seele, die ansonsten begrenzt und vergänglich war?». (S. 40–41) Oder ist es Rushd, der Raunig ins Grübeln bringt?
Diese Verwischung der Grenzen zwischen Raunig und Rushd ist eine der vielen Stellen, an denen die Sprache sowohl reflexiv als auch generativ wird. Hier entsteht im Sprechen (bzw. Schreiben) das, worüber gesprochen wird. Das Wie des Sprechens rückt in den Vordergrund, und das Wer verliert an Dringlichkeit. Aber was hier in der Sprache vollzogen wird, ist nicht eine einfache Aneignung oder Neukontexualisierung historischer Quellen. Es entsteht ein feines Geflecht von Resonanzen, das philosophische Fragen, die nur im multi-kulturellen Andalusien des 12. Jahrhunderts artikuliert werden konnten, in die Gegenwart rückt und dabei umso überzeugender ist, weil Distanz dazu stellenweise verschwimmt, aber nie verschwindet. ‹Fernnähe›, ein Begriff, den Raunig aus der Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen Mystikerin Marguerite Porete (1250/1260 – 1310) gewinnt, steht für diese Art der Beziehung aus Intensität und Distanz. So entsteht in «Ungefüge» gleichzeitig eine historische Studie, abgesichert über detailliert ausgewiesene Sekundärliteratur, sowie eine Imagination im Präsens.
Der Akt der Übersetzung ist nicht per se einer des Austausches und der Auflösung von Grenzen. Im Gegenteil, in der Figur von Bernhard von Clairvaux (1090 – 1152), dem Theoretiker des Kreuzzugs als religiösem Krieg, treten die ‹Staatsapparate› auf. Diese ‹Staatsapparate› stellten die Übersetzung als Möglichkeit der Aneignung und einseitigen Umdeutung dar. Sie dienten als Voraussetzung, um die Träger:innen des angeeigneten Wissens, etwa die arabischen Philosophen und die Städte, in denen sie wirken konnten, zu bekämpfen, ja, auslöschen zu können. Auch hier erzeugt Raunig feine Resonanzen zur Gegenwart, Falten und Fugen, in denen das Hochmittelalter unmittelbar in die technologisierte Gegenwart hineinragt.
Diese (Un)Gefüge, ein System der Korrespondenzen, Resonanzen, des Biegens und des Anschmiegens, entsteht im Medium der Sprache, im Moment des Schreibens und des Sprechens. Es ist ein prekäres Gefüge, immer wieder in Gefahr, in die identitäre, partriachale Spur, die so tief in die dominante Sprache eingeschrieben ist, abzugleiten. Um das zu vermeiden, ist eine hohe Kunstfertigkeit der Sprache notwendig, der Text als Poesis und Poiesis. Daraus ergibt sich eine Reihe von Spannungen, man könnte auch sagen, Widersprüche, die das ganze Buch durchziehen. Eine Spannung zwischen der Vielstimmigkeit des Textes, die sich auch in unterschiedlichen Textformen ausdrückt, und der bis in kleinste Detail komponierten Sprache, in der sogar Silbentrennungen und Zeilenumbrüche Teil der generativen Maschine werden. Wird das Wort ‹Stimme› am Zeilenende getrennt, ist es dann noch eine ‹Stim-me›? Raunig entwickelt eine Sprache, die die Vielstimmigkeit lebt und dennoch nur einen sehr engen Kreis an Freund:innen als gleichberechtigte, zeitgenössische Gesprächspartner:innen zu Wort kommen lässt. Eine Sprache, die trotz ihrer vielen Öffnungen beinahe hermetisch ist. Ein Text, poetisch, leichtfüssig und unglaublich voraussetzungsreich zugleich. Die Schnittmenge der Personen, die sich in den hier aufgeführten Positionen der mittelalterlichen, aber auch der post-strukturalistischen Philosophie zu Hause fühlen, wird überschaubar sein. Bei meiner eigenen Lektüre war die Fremdheit der Referenzen jedoch kein Nachteil. Wer bereit ist, das Buch immer wieder hinzulegen und anderswo, ja, auch auf einer am Konsens orientierten Quelle wie Wikipedia, weiterzulesen, der wird auf viele produktive Umwege geführt, es entsteht ein «nomadischer Text [als] virtuelle Versammlung, Verspannung, abstrakte Maschine». (S. 75) Ein Text, der sich streckenweise ekstatisch der Auflösung des Ichs verschrieben und sich dennoch als der wohl persönlichste des Autors darstellt, der uns etwa als Jugendlicher in Kärnten entgegentritt, den die molekulare Revolution der 1960er-Jahre als verspätete Erinnerung gerade noch berührt. Auch eine Form der Fernnähe. Dennoch bleiben die Figuren bruchstückhaft, sie konstituieren sich durch die Sprache der anderen, als Beziehung. Oder, wie es Raunig Rushd ausdrücken lässt: «Als ich den Turban abgeschlungen hatte, betrachtete ich mich in einem Metallspiegel. Was meine Augen sahen, weiß ich nicht, weil kein Geschichtsschreiber meine Züge überliefert hat.»
Schreiben und Sprechen sind existenzielle Praktiken, und um andere Formen der Existenz und damit der Politik denkbar zu machen, braucht es eine andere Sprache, eine Sprache der unverfügten Dividualität. Ungefüge leistet einen höchst kunstvollen, wenn auch nicht unbedingt praktischen Beitrag, diese zu erfinden.
Gerald Raunig, Ungefüge, Wien, Berlin 2021.
[1] Wie etwa Luther Blissett, in: Q, Zürich 2006, oder Raoul Vaneigem, «Raoul», in: The movement of the free spirit, New York 1998.