Ein augenfälliger Unterschied der beiden Schauen ist die beachtlich gewachsene Grösse der Präsentation, um etwa ein Dreifaches im Kunsthaus Glarus (bei gleichbleibend reduzierter Präsentation von zwei Werkgruppen). Als weniger offensichtlicher Unterschied wären Pulitzers längere Aufenthalte in Berlin zu nennen – wo Soloschauen in der Galerie Lars Friedrich (Do Displays of Solidarity make you cry?) und im Museum Hamburger Bahnhof (Whim or Sentiment or Chance) zwischenzeitlich stattfanden. Die Erlebnisse und Erfahrungn dieser Aufenthalte schlagen sich thematisch in Glarus in einer semi-biografischen Reflektion über das Leben im von hier aus fernen New York nieder. Was die beiden Schauen ausserdem unterscheidet, und zwar wesentlich, sind die Ausstellungskontexte: von der kommerziellen Galerie im grossstädtischen Zürcher Löwenbräu zum öffentlichen Kunsthaus im kleinstädtischen Zentrum von Glarus.
«Wesentlich?», fragst du mit hochgezogener Augenbraue. «Wesentlich!», entgegne ich dir. Denn im Unterschied zur Galerie Francesca Pia ist die Kuratorin der Glarner Ausstellung Pulitzers auch Mitherausgeberin von Brand-New-Life und folglich dieser kritischen Besprechung. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Welche Möglichkeiten verbleiben der Kunstkritik angesichts ihrer eigenen – mitunter helixartigen und oftmals vitalen – Verflechtungen, hier zwischen Herausgeberinnen und Autorinnen, aber auch mit sich selbst? Und schliesslich: Was sind die kritischen Mittel und Effekte, die eine selbstkritische Kunstkritik, erforderte?
Sam Pulitzer, The Premise of a Better Life, 2019, Ausstellungsansicht. Foto: Gunnar Meier
Inhalt! – soll die Antwort dieser Kolumne, «Pick a Piece», lauten, die der strukturellen Überforderung von Grossausstellungen mit dem Fokus auf eine einzige der gezeigten künstlerischen Arbeiten begegnet – oder hier, «Revisited»: einer Einzelausstellung mit den Fragen ihrer Vorgängerin begegnet. Inhalt! – ein schönes Schlagwort. Gemeint ist: der Fokus auf die künstlerischen Themen und Arbeitsweisen und die kritische Erschliessung von Kontexten von dort ausgehend zu erarbeiten. Methodisch bedeutet dies auch, die Struktur des jeweiligen Textes von der künstlerischen Praxis, die besprochen wird, abzuleiten. Ziel dabei ist schliesslich eine besondere Art der Vermittlungsarbeit: eine Über-Setzung der künstlerischen Anliegen in die Form der Rezension selbst, anstatt einer gewissermassen unabhängigen Be-Sprechung. Im konkreten Fall: das helixartige Nachvollziehen der Evolution von Pulitzers Praxis.
Im konkreten Fall der hier besprochenen Ausstellung also, The Premise of a Better Life, rückt Pulitzer den tendenziell biografischen und somit wohl Vielen vertrauten Kontext des eigenen Wohnorts und die Möglichkeit, diesen zu verlassen, in den Fokus der Auseinandersetzung. Teil dieser Auseinandersetzung sind eine Reihe existentieller und ökonomischer sowie subjektiver und sozio-kultureller Reflexionen, die Pulitzer mit freien Assoziationen zur Konstruktion von Universalgeschichte kontrastiert. Ergänzt wird dieses diskursive, ja dialektische Duo von subjektiver und universalgeschichtlicher Überlegungen einerseits von Textzitaten einschlägiger Klassiker der kritischen Theorie (symptomatischerweise ausschliesslich männliche) und andererseits von den mehrheitlich eigenen Fotografien des täglichen städtischen Lebens, untertitelt mit prägnanten Lebensfragen im Stil der Ratgeberliteratur. Der mit jenen Inhalten korrespondierende kritische Zugriff könnte in der Tat einstimmen in das Gerede über Gebäude und ihre sozio-kulturellen Gebräue oder die (Klein-)Stadtmarketingstrategien übergrosser Ausstellungshäuser oder über Wert und Wirkung von Renovierungsmaßnahmen hier und da – muss aber nicht. Denn wie so oft liegt auch unter diesen auch (auto-)biografischen Inhalten eine weiteres Bedeutungssediment, der Sand unter den Strassen des Lebens:
Beide: Sam Pulitzer, Años Perros, 2019, Vinyl, Spanplatte, Grösse variabel. Foto: Gunnar Meier
Iron Maiden. Genau. Heavy Metal. Gegenkultur. Und hier, in der kleinen Welt der Kunst, als vermeintlich dumpfes, hinterwäldlerisches, Bier-bräsiges, mackerhaftes Musikgenre mit relativer Massentauglichkeit einerseits – das andererseits oft als Gegenkultur zur Gegenkultur von vermeintlich belesenen, metropolitanen, weinseligen, dandyesken Künsten zum Einsatz kommt. All das wie immer in Wirklichkeit natürlich viel differenzierter – und innerhalb einzelner Wesen. Pulitzer zum Beispiel. Dieser setzt die verschriftlichten Akkorde der Maiden-Hymne Wasted Years (1988) als Standard-Serifen-Überschrift in bärbeissigem Cyan, geplottet in Museums-üblicher Vinylklebeschrift an das Kopfende jeder Stellwand der Serie Años Perros. Hundejahre. Direkt darunter – ist es Magenta? – in wunderbar ekelhafter Dissonanz die Standard-Serifenlose-Überschrift bestimmter Zeitspannen des letzten Jahrhunderts. Universalgeschichte. Und noch darunter, in schaurig-schöner Windows-98-Optik die entsprechenden, stichworthaften Assoziationsketten zu den Zeitspannen. Rückseitig, etwas gepflegter: zwei Typen von Smartphone-Message-App-artigen Sprechblasen in Magenta, korrespondierend zu den Jahreszahlen die Zitate klassischer kritischer Theorie und in Cyan die eigene Reflexion besagten Umzugs etc. Viel zu viel Information eigentlich, um den Akkord-Notationen noch weitere Aufmerksamkeit schenken zu können. Und dennoch scheint es mir gerade dort ums Wesentliche zu gehen: um die Frage, was Kritik in Form der Referenz einer Gegenkultur inklusive ihres jeweils spezifischen Verhältnisses zur Leitkultur – konkreter: mit ihrem immer sowohl subjektiven als auch universellen Verflechtungen – leisten kann.
The Wasted Years
From the coast of gold, across the seven seas
I'm traveling on, far and wide
But now it seems, I'm just a stranger to myself
And all the things I sometimes do, it isn't me but someone else
I close my eyes, and think of home
Another city goes by, in the night
Ain't it funny how it is, you never miss it til it's gone away
And my heart is lying there and will be til my dying day
So understand
Don't waste your time always searching for those wasted years
Face up, make your stand
And realize you're living in the golden years
Too much time on my hands, I got you on my mind
Can't ease this pain, so easily
When you can't find the words to say, it's hard to make it through another day
And it makes me want to cry, and throw my hands up to the sky
So understand
Don't waste your time always searching for those wasted years
Face up, make your stand
And realize you're living in the golden years
– Iron Maiden
Sam Pulitzer nun setzt gegenkulturelle Zeichen ein, um denjenigen Strukturen des Kunstbetriebs zu begegnen, die die künstlerische Arbeit einerseits in verschiedentlichen produzierenden Kapazitäten ermöglichen und andererseits die für die Produktion treibende Kraft der künstlerischen Kritik unterminieren. Denn er bringt Iron Maidens Heavy Metal Song als Versatzstück der Gegenkultur zur Kritik kunstbetrieblicher Wertsteigerungsmechanismen in Stellung: die Akkord-Notationen ersetzen die gewöhnlichen institutionellen Salbungen von Wandtext auf Stellwand. Wie effektiv dieses Mittel tatsächlich ist, befragte schon unser Freund und Kollege John Beeson im Winter 2013 über Pulitzers Einzelschau in der Galerie Lars Friedrich in Berlin (Nine Scarlet Eclipses for ‹Them›): «(…) einige suchen immer noch nach Verweigerern, nach kulturellen Produzenten, die einfach zu sehr Hardcore oder zu sehr in einer Nische sind, um von der herrschenden Kultur assimiliert zu werden, oder schlimmer: vereinnahmt. Zum Teil ist es das, was Sam Pulitzer (*1984) vorführt, wenn er die Galeriewände im Rot eines Punk-, Hardcore-, und Metal-Plattenladen aus Brooklyn streicht. Auf Wände, Boden und Decke der Galerie installierte er Plugs aus Kunststoff, wie sie etwa seit den frühen Nullerjahren Punk- und Emo-Fans zum Dehnen der Ohrläppchen verwenden. Und obwohl sie gesellschaftliche Normen herausfordern – von Schönheit, Selbstdarstellung und des gesunden Menschenverstandes –, kann ihr Auftauchen in der Ausstellung nur ironisch gemeint sein: Plugs vermitteln nicht so überzeugend ein «Zu-Hardcore-Um-Assimiliert-Zu-Werden» wie etwa die grenzwertig rassistische und nationalistische Black Metal Band Peste Noire, auf die sich sowohl die Künstler Mathieu Malouf wie Nicolas Ceccaldi mit ähnlichen Zielen bezogen haben.» Mit dem Detournement des Iron Maiden Songs führt Pulitzer diese Methode fort: die Verschriftlichung nicht der Songtexte, sondern eben der Akkorde (denn selbst wer im vorstädtischen Jugendzimmer oder nasskalten Proberaum nachklampft, tut dies zumindest nach Gehör, Notenunkenntnis ist nun mal Ehrensache). Und gerade für die Referenz der 1975 in London gegründeten Band kann zudem bereits das Argument einer gewissen Zeitlosigkeit oder zumindest Zeitgeistresistenz (Achtung, in diesem Jahr kommen sie wieder ins Zürcher Hallenstadion!) ins Spiel gebracht werden, um autobiografische und universalgeschichtliche Blasen auszutarieren.
Die Notation des Metal-Akkords – z.B. «GCAmGCAmEmDC» – ähnelt, so meine ich, nicht zufällig der Formelhaftigkeit mathematischer beziehungsweise wirtschaftswissenschaftlicher Berechnungen. Zumindest schien dies nicht nur mein eigener erster Eindruck auf der Sinnsuche von Stellwand zu Stellwand. Und hier steht nun mal nicht der Genius von Iron Maiden zur Debatte. Hier geht es, so meine Vermutung, um das Paradox von gegenkultureller Produktion im Akkord, gegen-gegenkulturelle inklusive. Hundearbeit. Der Hang zur Formel. Auch in Pulitzers Soloshow Shadow of the Problem as Such in der Galerie Francesca Pia in Zürich vor zwei Jahren wurden diagrammatische Zeichnungen aus gut gealterten wirtschaftswissenschaftlichen Kontexten mit eher jugendkulturellem Bildmaterial, zum Beispiel Comic-Abzeichnungen, oder auch ganz kleinen, ganz alltäglichen Motiven kontrastiert. Heute, gegenüber dem Eingang des Seitenlichtsaals im Kunsthaus Glarus, spitzt Pulitzers Bildunterschrift zum World Power Index die wesentliche Frage zu (als «wesentlich», erinnere dich, benannten wir das Ringen um die Möglichkeit von (Kunst-)kritik innerhalb eines Systems struktureller Verflechtungen): «Ist deine Übung in rationalem Selbstinteresse das Problem anderer?» Anders gesagt: Ist Pulitzers eigener Produktionskontext der kreativen Akkordarbeit, seine Kritik daran, inklusive seiner Zweifel an den Möglichkeiten dieser Kritik, dein Problem?
Sam Pulitzer, World Power Index, 2016–17, aus The Premise of a Better Life, 2019, UV-Print, bedrucktes Plexiglas, 59.4 x 84.1 cm. Foto: Gunnar Meier
«(...) Pulitzers umrissene Tür bleibt verhältnismässig fest verschlossen, misst man sie am Ausmass der Auskunft, welche der betitelten Ereignisse sich hier nun überschlagen … hätten … sollen. Hinweise auf eine Jahresbilanz finden sich aber doch: if this works, it won’t be a miracle, 2017, und do I like drinking more than self-employment?, 2017, und so kommentieren Tür 2 und 3 auf systemkritische und sympathischerweise etwas schuldbewusste Weise eine gnadenlos voranschreitende Neoliberalisierung von Arbeitswelt», meinte ich damals – und bezog mich auf die Wandtextarbeiten in Vinyl (wenn auch nicht als LP) in Shadow of the Problem as Such in Zürich. Heute, rückblickend, scheinen sie mir noch deutlicher auf die zunehmende Schwierigkeit des inneren, besonders aber äusseren Widerstands gegenüber Arbeitswelten, insbesondere Arbeitsmigrationen (auch, oder vielleicht besonders: temporären), hinzuweisen. Denn zu nimmt die Schwierigkeit von Kritik bereits mit dem scheinbar simplen Fakt der voranschreitenden Zeit (wurde nicht alles doppelt und dreifach schon gesagt, getan?), mit dem Alter (selten nur steigt der Elan) und mit dem Erfolg (selbst Hundearbeit beisst ungern die fütternde Hand). Während ich selbst vor zwei Jahren noch in ein klares «Ja» zu Getränk statt Selbstausbeute eingestimmt hätte, kann ich mir den hundeelenden Kater danach nun kaum mehr leisten. Es wächst der innerliche und im Fall von Sam auch äusserliche, also künstlerisch manifestierte Konflikt mit den eigenen kritischen Ansprüchen. Die Dispositive des Displays bieten Sam Pulitzer die geeignete Projektionsfläche für diese Bilanzierung – damals, mit der Setzung selbst-kritischer Fragen in Wandtext-Vinyl-Schriftzügen als Tür (ins nirgendwo), und heute, mit der Stellwand-Serie (ohne räumlichen Platzmangel), die neben ihrer rein skulpturalen Qualität eben auch als tatsächliche Träger der textuellen Reflexionen in Vinyl dienen.
Sam Pulitzer, do I like drinking more than self-employment?, 2017, Foto: Marc Asekhame
In Pulitzers serienhaft überhöhter Mimikry von reinweisser (Stell-)Wand und dem Zuviel an missgestaltetem Wandtext kreuzen sich kuratorische Konventionen und ihre Fragwürdigkeiten mit dem prinzipiellen Paradox künstlerischer Akkordarbeit – und zwar, wesentlicherweise, ohne das eine als unvermeidliche Konsequenz des anderen an die Wand gestellt würde. Kritik, in dem Fall an kuratorischer Normativität, wird hier weniger als moralisch hoch- und vorgehaltener Spiegel, sondern als Spiel erfahrbar. Weniger als antagonistisches Spiel von Katz/Kurator*in & Maus/Künstler*in, in dem die künstlerisch angebrachte Kritik (am Kuratorischen) in die kuratorische Kritik (am Grossen Ganzen) subsumiert wird. Weniger auch als eskapistisches Versteckspiel vor der mutmasslichen kuratorischen Vereinnahmung (und im Zuge der Vereinnahmung des Kunstbetriebs im grossen Ganzen). Mehr als ebenjene verflochtene Schöpfung von Mehrwert durch künstlerische Konzeption, dann kuratorische Realisation von Kritik, die durch ihren eigenen kritischen Anspruch auf dem Spiel steht.
Sam Pulitzer, if this works, it won’t be a miracle, 2017, Foto: Marc Asekhame
Das Jahr 2020 begann mit dem Ende der «Voraussetzungen für ein besseres Leben», (The Premise of a Better Life) von Sam Pulitzer. Bleibt: die Krümmung der Helix (von griechisch «gekrümmt»), also diejenige Kurvenbewegung, die sich mit konstanter Steigung windet. Übertragen auf die Form der künstlerischen Kritik und die Frage, was die kuratorische und schliesslich publizistische Kritik von ihr lernen kann, kann das Bild der zylindrischen Spirale, wie sie Pulitzer mit der Verwebung seiner zwei Arbeiten in seiner Glarner Ausstellung präsentiert, vor allem als Bewegung verstanden werden. Auf räumlicher, thematischer und inhaltlicher Ebene, vollzieht Pulitzers durchaus selbst-ironisches Postulat der «Voraussetzungen für ein besseres Leben» die Bewegungen des Ineinander-Verschränkens verschiedener Formen von Handlungsmacht innerhalb des Kunstbetriebs (inklusive ihrer Beschränkungen), die Pulitzer, so meine ich, als kritisches Mittel vorführt. Wer eben diesen Zusammenhang der verschiedenen diskursiven und kunstbetrieblichen Bewegungen bejaht (statt in Abgrenzungen zu vereinzeln), ihn gar anstrebt und nutzbar macht, bleibt mit der Verantwortung für die Entschlüsselung seiner Bedeutung betraut – eine Verantwortung gegenüber sich selbst, den anderen und den ganz anderen, auch dem ganz anderem, also besonders dem Kommenden.
Sam Pulitzer, Main St, aus The Premise of a Better Life, 2019, C-Print, bedrucktes Plexiglas, 59.4 x 84.1 cm. Foto: Gunnar Meier