Viele wohlklingende Ideen und integre Anliegen sind in diesen Thesen. Dingen, denen man kaum widersprechen kann, ohne als Snob oder querulantischer Troll dazustehen. Trotzdem sei hier der Versuch einer Kritik der Engagierten Kritik gemacht, beginnend mit dem Blick auf die Vorläufer/innen heutiger Kunstkritik, auf die historisch entwickelten Kritiker/innentypen, als da wären, idealtypisch skizziert:
Der Aufklärer: Er betrachtet Kunstkritik als Demonstration allgemeiner Urteilsfähigkeit und individueller Unabhängigkeit. Dieser Typ agiert als aussenstehender Beobachter, nicht als Repräsentant des Kunstmilieus. Kunstkritik gilt ihm als Sparte einer neu gewonnenen Redefreiheit und demokratischen Öffentlichkeit, als Übungsfeld der freien Debatte von Individuen. Siehe etwa Denis Diderot.
Der Dandy: Kunstkritik gilt diesem Ansatz als Ausdrucksmittel des individuellen Genusses, der exaltierten Selbstdarstellung und Abgrenzung vom Massengeschmack. Dies wird etwa durch Oscar Wilde verkörpert. In gewisser Weise ist auch er ein/e Künstler/in, eine Art dilettantische/r Allrounder/in. Der Dandy kann seine ästhetischen Inszenierungen in voller Breite – Dichter/in, Kritiker/in, Performer/in und Modetrendsetter/in – ausleben, und sich dabei stets auf den konkurrenzlosen Status des Dilettanten bzw. der Dilettantin zurückziehen.
Der Anwalt des Publikums: Er prüft die Kunst auf ihren Nutzen für die Allgemeinheit hin: Schönheit, geistiger Gehalt, Unterhaltungswert. Dieser Typ übersetzt die Sprache der Kunstwerke oder den Kunstdiskurs in eine allgemeinverständliche Sprache und arbeitet daran, das Laienpublikum zu eigenen Urteilen zu ermächtigen.
Der negative Kritiker: Er ist Verfasser/in von Kunstkritiken im überheblich-blasierten Tonfall des Kenners bzw. der Kennerin, welche/r die Leser/innen einladen, sich gemeinsam mit der Kritik über die Kunstwerke zu erheben. Im sarkastischen oder gelangweilten Ton schreibend, arbeitet dieser Typ mit den Ressentiments eines Publikums, das es immer schon ‹besser wusste›: Die Kunstkritik als Komplizin der Borniertheit.
Diese vier Typen haben eine Gemeinsamkeit. Sie nehmen eine Aussenperspektive auf den Kunstbetrieb ein, sie können und wollen – aus unterschiedlichen Gründen – nicht Teil davon sein. Hingegen betrachten sich die folgenden vier Kritiker/innentypen als ‹engagiert› und ‹involviert›, als Mitspieler/in auf dem Kunstfeld:
Der Kunstreporter: Dieser Flaneur – man könnte ihn boshaft auch Kunstmarkt-Hofberichterstatter/in nennen – berichtet überwiegend enthusiastisch, unterhaltsam und oftmals literarisch-autobiografisch-belletristisch über das Kunstgeschehen, gelegentlich auch auf den Society-Seiten der Unterhaltungs- oder Massenmedien.
Der Mitkünstler: Er glaubt, das Kunstwerk verstanden zu haben, und will es mithilfe von Worten vollenden, sieht sich als Sprachrohr, als verlängerter Arm des Künstlers bzw. der Künstlerin. Diese/r Kritiker/in spielt die Rolle eines Künstlerassistenten bzw. Künstlerassistentin, manchmal gar die eines gleichberechtigten Kokünstlers bzw. einer Kokünstlerin.
Der pastorale Vermittler und paternalistische Pädagoge: Er versucht die ‹schwierige› Kunst dem Laienpublikum näherzubringen, arbeitet mit niederschwelligem Vokabular, will Verständnis wecken, das Publikum bilden und für die Kunst bekehren. Diese Rolle spielte etwa Werner Haftmann im Deutschland der Nachkriegszeit.
Der involvierte Agent: Er tritt als offenkundiger Fan und Promotor bestimmter Kunstrichtungen, Schulen, Künstlergenerationen und damit verbundener Seilschaften von Künstler/innen und Händler/innen auf. Die jüngere Kunstgeschichte kennt einige dieser Bündnispartner/innen und Geburtshelfer/innen von Avantgarden und deren Ideologien und Utopien. Siehe beispielsweise Clement Greenberg und den Abstrakten Expressionismus.
Engagiert für wen?
Im Blick auf diese Typologie und auf die historische Entwicklung der Kunstkritik stellt sich die Frage: Engagierte Kunstkritik, was bedeutet das heute? Für wen oder für was engagiert sich diese Kritik? Ist die engagierte Kunstkritik als Gegenposition zu jenen snobistischen, distanzierten Kenner/in-Kritiker/in zu verstehen, die gerne abwerten, relativieren, allenfalls gönnerhaft loben? Oder bedeutet Engagement in diesem Zusammenhang Empathie mit den Kritisierten? Oder drückt es vor allem den Wunsch aus, im Kunstbetrieb nicht abseits stehen zu müssen, sondern tatkräftig mitwirken, mitarbeiten, mitprofitieren, mitfeiern zu wollen? Führen wir uns einige Zitate der Autor/innen vor Augen.
«Weil Kunstkritik inmitten der bestehenden Machtverhältnisse agiert - die sie auch selbst mit produziert -, kommt ihr die Möglichkeit zu Perspektivenwechsel und veränderndem Eingriff zu.»
Mitprofitieren und mitfeiern und zugleich den Kunstbetrieb von innen heraus wirkungsvoll kritisieren und verändern zu können, ist es das? Der Kampf geht weiter, auch am Lachsschnittchenbuffet der Vernissagen und Messepreviews, auf in den Kampf-Mampf! Diese Haltung erinnert stark an das alte revolutionäre Konzept des Marsches durch die Institutionen, wobei die Marschierenden Schritt für Schritt zu Repräsentant/innen des ihnen früher so verhassten Systems wurden.
«Die engagierte Kunstkritik entwickelt ihre Argumentation folglich im Hinblick auf die jeweils spezifische Konstellation, in der die Kunst produziert, präsentiert und rezipiert wird, und geht nicht von allgemein gültigen, überzeitlichen Kriterien aus.»
Bedeutet das den endgültigen Abschied vom Werkbegriff, von einheitlichen, nachvollziehbaren und vermittelbaren Gestaltungsregeln? Wenn es heisst, dass ein Werk, das in dem einen Kontext schwach wirkt, an einem anderen Ort, bei anderer Gelegenheit doch stark und gelungen wirken kann, wenn die Bewertung eines Werks stets vom spezifischen räumlichen und zeitlichen Rahmen, vom kuratorischen Kontext und dem Rezeptionsverhalten des jeweils anwesenden Publikums abhängt, scheint es auf einen autonomen gestalterischen Kern gar nicht mehr anzukommen. So gesehen würde die künstlerische Arbeit entwertet und beliebig.
«Ihre Voraussetzungen, (Produktions-)Bedingungen und Anliegen macht sie [die engagierte Kunstkritik] folglich möglichst transparent.»
Ohne Zweifel vorbildhaft. Indem die Kunstkritik – im Gegensatz zu allen anderen unaufhörlich weitermauschelnden Player/innen des Kunstfeldes – ihre Beziehungen und Abhängigkeiten benennt, geht sie als positives Beispiel voran und kann Transparenz auch von den anderen einfordern, oder selbst thematisieren. Vielleicht bleibt sie in ihrer Tugendhaftigkeit aber auch ohne Nachahmer/innen. Die Attraktivität des Kunstmarktes besteht ja gerade in seiner Undurchsichtigkeit. Clean it up would kill it! Transparenz wäre tödlich für das Geschäft.
«Engagierte Kunstkritik ist kein simples Werturteil. Sie kommentiert, differenziert und lässt auch in sich widersprüchliche Bewegungen zu.»
Verständlich: Man möchte als Kritiker/in nicht zur Preisschilddesigner/in von Galerieware absinken. Doch kann man sich der allgegenwärtigen Verwertungslogik überhaupt entziehen? Etwa indem man ein Kunstwerk erst für gut und später für schlecht erklärt, indem man bei jedem Werk eine lange ‹Einerseits-Andererseits›-Rechnung aufmacht? Es geht ja nicht nur darum, den Wert von Kunst durch ein Lob oder Gutachten zu steigern, sondern dies durch ein bestimmtes Quantum Aufmerksamkeit auszudrücken, die man ihr schenkt. Ausserdem: Kunstkritik ohne Präferenz für bestimmte Künstler/innen oder künstlerische Strömungen scheint kaum vorstellbar, denn Kunstgeschichte und Kunstmarkt sind ja grundsätzlich nach Künstler/innen, Gattungen und Stilen strukturiert, und wissenschaftliche Kompetenz und Kennerschaft ist ohne Spezialisierung auf bestimmte Gebiete nicht denkbar.
«Momente des Dialogischen, des Multiperspektivischen, des Diskutierens und des Widerspruchs erfahren in der engagierten Kunstkritik eine besondere Gewichtung. [...] Durch unterschiedliche Formate des Austausches sollen sogenannte Lai/innen aktiv einbezogen werden.»
Gute Idee, doch welche Rolle spielen die Lai/innen im Rahmen der professionellen Kunstkritik? Welche Art von ‹engagierter Perspektive› wird von ihnen erwartet? Sind sie exotische Stichwortgeber/innen, ‹edle Wilde›, welche die Kritik aus einer naiven, emotionalen Perspektive inspirieren? Man sollte hier keine Wunderdinge erwarten. Lai/innen sind auch nur Menschen. Lai/innen sind meistens langweilig und ressentimentgesättigt – so wie die Profis, aber auf andere Weise.
Lieber draussen bleiben
Diese Auswahl von Zitaten verdeutlicht: die Engagierte Kunstkritik begreift sich als Mitspielerin auf dem Kunstfeld. Die Regeln des Spiels und die Stärke der Teams bestimmen aber andere, nämlich die finanzstarken Player/innen des Kunstmarktes. Welche Möglichkeiten bleiben der Kunstkritik, um beim Bild des Ballsportes zu bleiben? Auf der Ersatzbank brav warten, bis einen der/die Trainer/in einwechselt? Bis der Kunstmarkt wieder einmal nach einer akademisch-intellektuellen Wertbeglaubigung für seine Produkte verlangt? Oder den Ball bei Gelegenheit mit Absicht ins Aus schiessen? Besser noch, ihn unter den Arm klemmen und weglaufen? Das Spiel des Kunstmarktes sabotieren? Auch im Wissen, dass dies nur punktuell gelingt, dass der nächstbeste Balljunge sofort den Ersatzball aufs Spielfeld werfen wird, wäre dies ein Akt der Selbstbehauptung, des Willens zur Unabhängigkeit, wie ihn auch Jörg Scheller in seinem Kommentar zur Engagierten Kunstkritik anmahnte.
Widerstand oder Kollaboration, Draussenbleiben oder Mitmachen, Outsider oder Insider? Und wo überhaupt ist die Grenze zwischen Innen und Aussen? Der Schlüsselbegriff der Engagierten Kunstkritik – wie auch der zeitgenössischen Kunstvermittlung überhaupt – scheint ‹Grenze› zu sein. Um Grenzziehungen dreht sich alles. Einmal geht es darum, die Grenzen der künstlerischen Autonomie zu verteidigen, ein andermal darum, die Exklusivität von Kunstmarktmilieus infrage zu stellen. Oder es wird das Prinzip der Inklusion für möglichst viele Gruppen gefordert. Tatsächlich ist das Kunstfeld ja in vielen Bereichen sozial recht homogen, jedenfalls viel besser situiert und homogener, als es vielen Beteiligten recht ist. Aus schlechtem Gewissen über die eigene Privilegiertheit traktiert man Randgruppen mit Kunstvermittlungsangeboten: Migrant/innen, junge Mütter, Demente, Lernbehinderte und viele mehr. Der Albtraum vieler engagierter Kunstkritiker/innen, -theoretiker/innen, -vermittler/innen und Kurator/innen wäre es, zu blossen Wertsteigerungsinstrumenten einer Kunst degradiert zu werden, die als reines Oberschichtaccessoire und pure Geldanlage diente. Statt Luxusdienstleistungen und Expertenwissen für die Reichen zu liefern, wird lieber an einem quasisozialdemokratischen Volksbildungskonzept des 19. Jahrhunderts festgehalten. Der Aneignung des bürgerlichen Erbes durch die aufstiegsorientierten und bildungsaffinen Teile der Arbeiterschicht, ausgedrückt in den Slogans: ‹Gute Kunst macht gute Menschen›, ‹Kultur für alle› und ‹Jeder ist ein Künstler›.
Vom zahlemmässigen Wachstum des Publikums und vielen wohlmeinend-paternalistischen Kunst-für-alle-Programmen verdeckt gibt es aber Tendenzen zur Ausgrenzung, welche die Öffnung des Kunstbetriebs zur Gesellschaft gefährden, und zwar von zwei Fronten aus. Eine ausgrenzende Front bildet das Geschehen auf dem Hochpreiskunstmarkt, die dort geparkten Vermögen/Gelder/Summen oder fliessenden Geldströme, die hohen Preise, die exklusiven Events für VIPs, die Klassengesellschaft von Vernissagen und Messen. Viele Kunstfreund/innen empfinden diese Welt als fremd oder abstossend. Eine andere Front der Ausgrenzung wird von Ideologie und Intellekt gebildet. Hier überformen ideologische Ansprüche, wissenschaftliche Phrasen und theoretische Diskussionen das Kunstgeschehen, auf Englisch wird weltweit ein abgehobener ideologisch-philosophisch Diskurs geführt, den vielen Menschen nicht verstehen können (und anscheinend auch nicht sollen). Insofern droht der Gegenwartskunst entgegen vieler schöner Versprechen auf Inklusion, Vermittlung und Teilhabe eine umfassende Elitisierung. Auch der mittlerweile ausdifferenzierte Kunstvermittlungsapparat konnte dies nicht verhindern. Kunstsoziologische Studien über die Besucher/innen von Ausstellungen belegen diesen Trend. Die Grenzen zwischen Hochkultur und Populärkultur wurden in den letzten Jahrzehnten zwar formal und motivisch durchlässiger, doch die Differenzen haben sich «auf der Ebene von Vokabular, Syntax und Codes eher noch vergrössert», heisst es in der Zürcher Studie Das Kunstfeld.[1]
Grenzenlos geworden ist jedenfalls sicher der Kunstmarkt. Die Begriffe ‹Kunstbetrieb› und ‹Kunstmarkt› sind inzwischen deckungsgleich. Was man auch immer über Kunst schreibt – es ist Reklame für irgendein Produkt, eine Marke oder ein Unternehmen. Neue Formen der Zensur werden durch die Inanspruchnahme des Urheberrechts ausgeübt. Je nach Gusto können Künstler/innen und Galerist/innen die Reproduktionsrechte verweigern und damit unliebsame Publikationen quasi unterbinden. Man darf nicht mehr abbilden, worüber man kritisch schreiben will. Und dies betrifft mittlerweile auch Prominente, wie der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ulrich kürzlich in eigener Sache beklagte.[2] Vor diesem Hintergrund einer überbordenden Macht des Kunstmarktes erscheint mir jegliche ‹engagierte› Kritikposition problematisch.
Interesselose Kunstkritik
Dennoch ist eine strategische und konstruktive Diskussion um die Rolle der Kunstkritik notwendig. Wer weder damit zufrieden ist, zur B-Besetzung des VIP-Klüngels zu gehören, noch Rädchen in der Wertsteigerungsmaschine des Kunstmarktes zu sein, sollte sich grundsätzlich fragen: Warum schreibt man heute noch über Kunst, warum betätigt man sich als Kritiker/in? Ein existenzialistisches Motiv wäre, dadurch eigene Erlebnisse und Eindrücke quasi im Selbstgespräch zu verarbeiten. Doch als soziales Wesen schreibt man eigentlich für andere Menschen, für ein allgemeines oder ein ganz bestimmtes Publikum. In vielen Fällen befindet sich die Zielgruppe innerhalb des Kunstbetriebs. Die Schreibenden wollen andere Player/innen des Kunstfeldes auf sich aufmerksam machen, sich bei ihnen beliebt machen und für ‹höhere Aufgaben› empfehlen.
Doch es gibt möglicherweise auch noch ein Publikum ausserhalb des Kunstbetriebs. Für diese Zielgruppe gilt es, Fachdiskurse quasi zu übersetzen, die Kunstwerke und die Kunstdiskurse auf ihre Relevanz für die Gesellschaft und für die Alltagsrealität hin zu überprüfen, gegebenenfalls auch den einen oder anderen Popanz vom Sockel zu stossen, PR-Blasen die Luft abzulassen, schmutzige Wäsche zu waschen, Dinge und Diskurse ohne Marketingblendwerk und intellektuelle Schaumschlägerei darzustellen. Dazu gehört auch, das Inklusionsversprechen der Gegenwartskunst beim Wort zu nehmen: Ist es überhaupt ernst gemeint oder nur Fassade, Selbsttäuschung der im Kunstfeld Aktiven? Und schliesslich kann das Geschehen auf dem Kunstmarkt auch etwas Unterhaltsames für ein Laienpublikum haben. Es lassen sich herrliche Geschichten erzählen von Hoffnung, Aufstieg und Absturz, von Freundschaft, Lüge und Betrug, von Enthusiasmus, Hochmut und Eitelkeit. Der Kunstmarkt als Bühne. In dieser Perspektive betrachtet man das Kunstgeschehen wohl besser mit einer gewissen Kühle, einer inneren und äusseren Distanz. Eine Haltung des fröhlichen Zynismus, auf die vielleicht eher die Beschreibung interesselose Kunstkritik zutrifft; interesselos, weil sie keine Aktien am Kunstmarkt hält, und keine Position in den selbstreferenziellen Kunstdiskursen bezieht, und interessiert nur insofern, was die Kunst der ganzen Gesellschaft, der breiten Öffentlichkeit bieten kann.
[1] Munder, Heike und Ulf Wuggenig (Hrsg.). Das Kunstfeld. Eine Studie über Akteure und Institutionen der zeitgenössischen Kunst am Beispiel von Zürich, Wien, Hamburg und Paris. Zürich: JRP Ringier, 2012.
[2] Ulrich, Wolfgang. «Abbildungsverbote». H-ArtHist, 23.02.2016. Zugriff am 19. April 2016, http://arthist.net/archive/12261.