Münster – A Giant’s Tale

Glauben und Aberglauben, Abschied und Begrüssung, Häme und Hysterie verweben sich zu einem Szenario, das apokalyptische Züge trägt. Das folgende ist ein Wiederabdruck von Peter Wächtlers Kurzgeschichte Münster – A Giant’s Tale. Ursprünglich entstand dieser Text für ein Video, welches Peter Wächtler für den Westfälischen Kunstverein produzierte. Zu einer animierten Zeichnung eines Zauberers liest Wächtler selbst diesen Text.
Do you like Brand-New-Life?
Become a Member
140825 arendt wkv waechtler 43

Peter Wächtler, Ohne Titel, 2014, Tusche auf Papier, 150 x 250 cm, Privatsammlung. Foto: Thorsten Arendt

Liebe Freunde, liebe Familie, liebe Kollegen und liebe Myrte,
wenn ich daran denke, was Sie alle hier, stehen und liegen haben lassen müssen – ja welche Schnippelschere Sie aus der Hand gelegt, welchen Gabelstapler geparkt und welchen kleinen Blumenladen, welche Grosskanzlei Sie verriegelt haben – um heute hier bei mir zu sein, möchte ich mich als erstes bei Ihnen allen, bei jedem Einzelnen von Ihnen, aus tiefstem Herzen bedanken. Bedanken möchte ich mich aber heute vor allem für die gemeinsame Zeit, in der Sie für mich da waren und ich für Sie. Aber die hohe Klippe, von der ich heute zu Ihnen sprechen muss, ist dieses Mal leider, leider nicht umschiffbar und von hier oben aus muss es ich Ihnen jetzt so sagen: Unsere gemeinsame Zeit ist vorbei und es ist das letzte Mal, dass ich zu Ihnen sprechen werde. Erlauben Sie mir also, das Aussetzen der werktäglichen Hammerschläge zu nutzen, um zusammen mit Ihnen im erkalteten Brei der Jahre nach ein paar Fundstücken und Wertgegenständen zu fischen.

Wir alle kennen diese kleinen, vergeblichen Erinnerungshilfen und Souvenirs, die man schlendernd am Wegrand des Lebens aufliest. Muscheln, Kronkorken, eine Locke, ja manche nehmen sich ja sogar aus dem Urlaub ein Döschen schwarzen Strandsand mit, um ihn dann zurück zu Hause in das zermalmende Getriebe des Alltags zu streuen. Nach der Hochzeit mit meiner Frau zum Beispiel, wollte auch ich unbedingt ein solches Andenken. Irgendetwas was mich über die Rituale hinaus begleiten würde, denn immerhin fühlte ich mich meiner damaligen Frau, vielleicht wie keinem Menschen davor oder danach, auf ehrliche, direkte Art verbunden und das soll dann doch schon etwas heissen.

In einigen arabischen Ländern gibt es ja den Brauch, das blutbefleckte Laken nach der vollzogenen Hochzeitsnacht aus dem Fenster zu hängen. Das konnte ich immer gut nachvollziehen, gerade deshalb weil mir solche Pärchendinger eigentlich ziemlich fremd sind. Nach zwei Wochen Flagge zeigen an der Balkonbalustrade wurde mir aber bewusst, dass mir diese Geste auf Dauer nicht ausreichte. Ja, deshalb habe ich mich also dazu entschlossen, dieses Laken jeden Tag bei mir zu haben, ja, anzuziehen. In Mannheim während des Studiums habe ich es zunächst noch als eine Art Toga getragen, später dann, habe ich es mir zu diesem Button-Down-Shirt umschneidern lassen, was Sie heute an mir sehen. Mit meiner Frau hatte das dann allerdings immer weniger zu tun, schliesslich bestanden ja auch die Flecken hauptsächlich aus meinem eigenen Blut. Auch deshalb habe ich immer daran geglaubt, dass dieses Hemd etwas von mir erzählt, wie es liebgewonnene Kleidung nun einmal tut, und über die Jahre malte das Leben mit all seinen Flüssigkeiten viele, viele wichtige Momente auf meinem Hemd nach. Man sah mir also an, ich hatte bereits etwas hinter mir, teilweise auch nicht ganz so schöne Sachen, aber natürlich nichts wirklich Schlimmes und auch schöne Begebenheiten dabei, wie bei allen anderen auch.

Nach einer Weile fing ich jedoch damit an, die Flecken miteinander zu verwechseln, ja, später, als ich die wirklichen Ereignisse vergessen hatte oder mich nicht mehr an sie erinnern wollte ohne gleich in die Klapse zu kommen, habe ich damit begonnen diesem oder jenem Flecken ein neues Ereignis zuzuweisen und daraus entwickelte sich dann irgendwann eine ziemlich paradoxe Situation. Einerseits also stellte das Hemd meine Vergangenheit als eine historische Sammlung von stolzen Flecken dar, andererseits war diese Vergangenheit durchaus neu auslegbar. Sowohl bei feierlichen Anlässen als auch bei lockeren Kumpel-Zusammenkünften, konnte ich so ziemlich bei allen Gesprächen mitreden, weil ich so aussah, als hätte ich es bereits mehrfach am eigenen Leib erfahren. Gleichzeitig sah ich aber dann doch so romantisch aus, als hätte ich mich in letzter Sekunde mit meiner letzten Kraft an Bord gehievt, auf das Rettungsboot der oberen Zehntausend. Und dort sind ja diese Neuzugänge entweder besonders verhasst oder besonders geliebt und keiner weiss das besser als Sie, meine liebe, liebe Gräfin, ich werde sie nicht vergessen. Aber es sind ja auch genügend Geistes- sowie Naturwissenschaftler unter Ihnen, dass ich an dieser Stelle den winzigen Schritt vom Chamäleon, diesem miesen Reptil, zum Lügner, ja, zum farbenfrohen Heuchler nicht erklären muss. 

Und mit der Zeit rechnete ich dann immer mehr damit die Stadt nur noch geteert und gefedert verlassen zu können. Ich war mir also sicher, dass mir jemand dieses Hemd in einem heroischen Anschlag auf die Falschheit der Welt vom Körper reissen würde, um mich somit für immer zu enttarnen. Gleichzeitig hing ich ja wirklich an dem Lappen, es war ja wirklich ein Andenken an die wichtigste Zeit meines Lebens, gewissermassen von einem Strand an dem ich hätte glücklich sein können. Wie dem auch sei, irgendwann wurde ich wegen dem Teeren und Federn nervös, im Sinne von ziemlich nervös. Darunter litt dann auch meine schillernde Reptilienhaut und sie zerbröselte in eine grobe, rissige Tarnjacke mit einem Camouflagemuster aus nur zwei verschiedenen Farben: Richtig und Falsch. Und, na klaro, wann immer sich unser Leben in ein derartiges Muster kleidet, geht es um Angst. Angst ist allerdings immer privat, daher möchte ich an dieser Stelle nicht davon reden und ich bitte Sie dafür um Ihr Verständnis.

Aber es kam wie es kommen musste. Eines fahlen Morgens also erwachte ich voller Schmerzen und Scham und wusste, dass der Pakt zwischen mir und meinem Button-Down-Bettlaken-Hemd null und nichtig geworden war und ein weiterer Lebensabschnitt für immer vorbei. Ich ging einmal um meinen Block und mir wurde klar: es würde so schnell auch kein neuer Abschnitt kommen, bzw. nichts würde kommen, nada, niente, keine Luft von keiner Seite. Und nach so einem Bruch, Sie werden das verstehen oder sogar aus Ihrem eigenen Leben kennen, taumelt man benommen umher, weiss eigentlich gar nichts, nimmt 80 Kilo ab und grüsst den Postboten nicht mehr. Jeder Tag liegt dann vor einem wie der K2 im trüben Morgendunst, nur ohne spirituellen Sing Sang und weit und breit kein einziger Sherpa in Sicht. 

Die Zeit von mir und meinem Laken war also vorbei und das grüne, grüne Gras of Home, wurde und blieb, was es immer war: Gras. Und genauso stehe ich heute vor Ihnen und nehme meinen Abschied, mit allen Was-mach-ich-nur-, was-mach-ich-nur-Wässerchen gewaschen. Und bitte glauben Sie mir, es ist ein Abschied, der mir nicht leicht fällt und die paar griffigen Deutungen, die ich von mir hatte, einfach so an den Nagel zu hängen ist auch für jemanden von meinem Format nicht gerade easy. Das sind natürlich müssige Gedanken und ich würde normalerweise auch rumposaunen: Das Leben gehört den Handelnden, den Pionieren und den Nüsseknackern und man kann sich vor dem Zug nicht im Tunnel verstecken. 

So habe ich dann auch versucht, selbst in meiner neuen Anti-Ära, meine Lippen zu schürzen, um, über mein Werkstück gebeugt, die alte Melodie des Fortschritts vor mich hin zu pfeifen. Aber es kam mir kein Ton mehr über die Lippen, an den besseren Tagen höchstens Mal eine Art Keuchen, ein bisschen so wie das Fiepen der Madagaskar-Fauchschabe. Und ich möchte Ihnen dieses Geräusch wirklich nicht länger zumuten. Bitte aber haben Sie Nachsicht mit mir, denn selbst in der Wirklichkeit der Handelnden, bedarf es nur einer Briefmarke auf dem Rotorblatt des Helikopters, um das ganze Ding zu kippen und wenn die Teile dann erstmal eine Unwucht drin haben, schrauben die sich ja geradezu in den Erdboden rein und man ist dann für immer verloren.

«Es sei wie es wolle, es war doch so schön.» Diese Zeilen aus Faust II, habe ich in meinem kranken Gehirn in diesen letzten Monaten hin und her gewendet. Was kann an einer Zeit schön gewesen sein, deren Zeichen ich anscheinend überhaupt nicht lesen konnte? Welche Möglichkeit des eigenen Handelns habe ich lautlos an mir vorbeiziehen lassen, gleich einer chinesischen Dschunke, die in der seichten Strömung des Zhu Jiang an den klobigen, verwitterten Steinen des schattigen Ufers vorbei, leicht und frei ihrer Bestimmung, entgegentreidelt? Und wann kam die Briefmarke an meinem Rotorblatt ins Spiel?

Lassen Sie mich also versuchen diese Zeitenwende genauer zu datieren: War es als der Winter die Strassen leerte und ich wahnsinnig hungrig in einer übervollen Pizzeria eine Funghi dermassen gedankenverloren in mich hinein schlang, dass alle anderen Gäste aufhörten zu essen, die Kinder weinten und die Wölfe heulten. Oder war es das Treffen mit Martin Walser in Konstanz? Der alte Herr hatte mich stundenlang mit seiner Salzgurken Problematik zugedröhnt. Ich sollte für ihn ein paar seiner Briefe nach Marbach ins Archiv bringen, solche Sachen konnte ich eigentlich immer ganz gut. Aber aus unerklärlichen Gründen hab ich die dann alle weggeschmissen die Scheiss-Briefe, auf der Autobahn, bei 210 km/h – zack – aus dem Fenster raus und dazu die Doors voll aufgedreht. 

Oder war es als meine Frau mein Email-Kennwort von «Majakowski2002» in «FalscheSau2014» umänderte? An diesem neuen Passwort habe ich ganz schön geknobelt, das kann ich Ihnen aber sagen. Aber als ich es dann hatte, fand ich es wiederum so naheliegend, dass ich es beibehielt. Aber schon als ich versuchte für Sie diese Liste von Verdachtsmomenten zusammenzustellen, drängte sich in mir eine andere Frage geradezu auf: wann war es eigentlich nicht? Wann stand ich also einmal nicht auf der Kippe, war gerade nicht am Abschmieren, Verzweifeln etcetera pp? Wann konnte ich einmal für einen Moment den Ausblick aus meinen stahlblauen Augen geniessen und nur auf Sitting Bull hören, der in mir zu mir sagte: Vergiss einfach die ganze Scheisse, Pete, im Sommer singst du deine Lieder und im Winter frisst du Ameisen, und wenn Du dann da bist, dann satteln wir den Sturm und reiten Seite an Seite, wie Bruder und Bruder, in die ewigen Jagdgründe hinein.

Und beim Wegschmeissen meiner eigenen Tagebücher habe ich dann tatsächlich eine Notiz gefunden, die in diese Richtung geht und die ich gerne an dieser Stelle gekürzt mit Ihnen teilen möchte.

Sonntag, 10. August:

Habe mir heute beinahe ein Haus gekauft, Seegrundstück, am Kellersee das Ganze, ehemalige Pension. Zu dem See kann man eigentlich nur sagen, dass er sein dunkles Geheimnis in seinen morastigen Tiefen auch noch für die nächsten tausend Jahre bewahren wird und mit seinen Badestränden, quirligen Wellen und schattigen Joggingstrecken bis dahin darüber hinwegtäuschen wird, dass er sich die ganze Zeit nur auf das Töten, ja, auf das Töten von Menschen vorbereitet. Besichtigung mit einem Makler, im Haus erstmal dieser Geruch nach alten Leuten, ich würge und reisse alle Fenster auf, die ich finden kann. Im Schlafzimmer eine Toilette am Kopfende, dazu der Hinweis, dass die Pensionsbetreiberin extrem krank war, ihr ganzes Leben lang.  

Ich sage, das müsste man natürlich alles rausreissen, der Makler nickt und sagt: Alles rausreissen. Hinter den Gardinen der tödliche See. Es wird Abend. Der Makler zeigt mir noch die Apfelbäume im Garten. Aus ehrlichem Interesse heraus frage ich ihn, ob er in seinem Leben überhaupt schon mal was anderes als Granny Smith zu futtern gekriegt hat. Er fragt, ob ich das Haus kaufen wolle oder nicht, es gäbe nämlich noch zwei andere Interessenten. Ich lächle in mich hinein und sage sicher, aber so schnell schiessen die Preussen nicht, ich muss da noch einmal mit meiner Frau drüber schlafen. Wir können beide einfach nicht aufhören über diese Bemerkung zu lachen und nicken uns dabei zu als wären wir jetzt Freunde bis zum Ende aller Tage. Lachend steigt er in seinen Wagen und fährt weg und lachend winke ich ihm hinterher. Ich bin sehr froh nicht mehr reden zu müssen, das Haus ist mir dann schon vollkommen egal. Ein alter Mann mäht mit einer Sense das lange Sommergras der Wiese nebenan. Ich grüsse so beiläufig wie möglich, keine Reaktion. Ich habe in meinem Leben noch keine einzige Tätigkeit in einer derartig angebrachten Körperhaltung durchgezogen. 

Die Grillen trommeln auf sich selbst rum, dicke Abendwolken. Bald wird es Herbst. September ist mein Lieblingsmonat. August ist aber auch sehr schön. In unserer aktiven Zeit, hätte ich sogar ernsthaft darüber nachgedacht, diesen schönen Abend vielleicht doch mit Conny zu teilen und sie anzurufen. Hätte mir am liebsten einen Heuhaufen zusammengeschoben, mit Conny, all night long. Sitze dann noch etwas im Citroën, am Radio ein Zettel mit den Sendereinstellungen in der Handschrift meines verstorbenen Grossvaters. Vierzehn Seevögel überfliegen gemeinsam das Binnenland, der Mann mäht seine Wiese. Ich denke über Verläufe nach, nicht über Blöcke. Wie schnell der Wind die Wolken treibt. Die Wolken, sie tragen, sie tragen den Abend. Und vielleicht will mich der Kellersee gar nicht umbringen, bevor der Hahn dreimal kräht.

Zitatende.

Liebe Anwesenden, 

bevor ich bald diese Rede beende, meinen Abschied nehme und dem nächsten Redner, wer immer das auch sein mag, was mir logischerweise in meiner Situation wirklich vollkommen egal ist, dieses Pultchen hier überlasse, möchte ich Ihnen noch eine zweite Notiz vorlesen, die der ersten gewissermassen gegenüber steht.

Sonntag, 10. August: 

Bin heute wieder in meinem Button-Down Bettlaken Hemd an dieser mistigen Pension vorbei gejoggt, das ist jetzt auch schon wieder vier Jahre her, nein, was nicht alles passiert ist in diesen Jahren. Es war zur gleichen abendlichen Stunde und wieder liegt der See im letzten Licht, bleiernes, stilles Süsswasser, Algenblüte. Ich höre Stimmen, ja, sogar Musik wird gespielt und im Garten hängen Lampions. Es wird gegrillt, auf Bierbänken und Tischen sitzen junge Menschen und lachen und trinken. Gartenfeste finde ich super, die erinnern mich immer an meine erste Novelle: Das Gartenfest von mich und mir.

Na, ihr feiert hier wohl eine Gartenparty! Was dagegen wenn ich mitfeiere? Und die fröhliche Runde klatscht in die Hände, als ich – zack – über die mannshohe Hecke springe, aber schön mit durchgedrücktem Kreuz, und direkt neben dem spanischen Au-pair-Mädchen auf der Bierbank lande und dort alle mit einem Witz über Begrüssungsformeln sofort auf meine Seite ziehe. Ein Teller wird mir hingeschoben, voll bis oben hin mit rotem saftigen Fleisch, Zucchini mit schwarzen Streifen, verbrannte Kartoffeln dazu und ordentlich Wein. Ich bin voll in meinem Element. Alle lachen viel und laden mir den Teller immer wieder voll und freuen sich über meinen Appetit und klatschen nach jedem Wort von mir in die Hände.  

Bei der vierten Geschichte über mein Leben – die kleine Spanierin, war anscheinend noch nie selbst in Tokio – fällt mir hinten am Grill ein Alter in Unterhemd auf, ein bisschen verbuckelt, der heizt mit so einer billigen Schlauchbootpumpe der Kinder den Grill an und sein Gesicht glänzt und leuchtet im Widerschein der Glut, als würde er sich hier gerade im Walzwerk verdingen. Er knetet diesen Tankstellenblasebalg ganz schön durch, wie sich das gelbe Gummi so zwischen den schwarzen Plastikdeckeln verklemmt, das Ding tut mir fast schon leid. Ich kann mich kaum noch auf das Abenteuer konzentrieren, von dem ich gerade dem Lockenkopf neben mir erzähle, der wiederum kann sein Glück nicht fassen und schreit nur noch schrill: Wanderer! Tokio... Japan... und schmeisst dann auch mehrmals total wahnsinnig seine Zotteln in den Nacken, wiehert und zappelt und strampelt mit den Füssen unter dem Tisch, als könne er es kaum noch aushalten. Mein Weinglas fällt um und anscheinend ist es in Spanien, oder zumindest in den dortigen Au-Pair-Mädchen-Kreisen, dann so üblich aufzuspringen und den Wein vom Tisch zu lecken. Die Länge der Zunge ist mir dann aber doch aufgefallen. Und dazu pumpt der Alte den Blasebalg, als wolle er später den Grillrost noch in eine andere Form giessen. So: ff, fff, fffff.  

Einer der Familienväter haut ihm einen riesigen Brocken Fleisch auf den Grill. Ich wüsste wirklich nicht, wo man an einer Kuh so einen Batzen abschneiden kann. An unserem Tisch fangen alle an ziemlich rumzugrölen und die Spanierin auf dem Tisch zu betatschen, die schlingt sich jetzt die restlichen Fleischstücke von meinem Teller rein und ihre schwarzen Haare fallen mir in den Schoss. Der Lockige ist jetzt so ausser Rand und Band, dass er den Beat für die Epilepsie der anderen mit seinem Kopf auf der Tischplatte vorgibt. Ungefähr so: wums, wumms wumms. Die Stimmung ist zwar ganz gut, aber ich entschliesse mich dann doch zu gehen. Irgendwie aber kommt mir der pumpende Alte am Grill immer bekannter vor. Als ich drauf komme schlage ich mir mit der flachen Hand auf die Stirn: Das ist der Alte der die Wiese gemäht hat! Und als hätte er dieses Klatschen gehört dreht er sich um und schaut mich an, so ganz ruhig. Die weissen Haare fallen dem Alten von beiden Seiten des Mittelscheitels in die Stirn und formen so eine Art hochkant gestelltes Auge auf seiner braunen Haut. Und da wo in diesem neuen Auge, die Pupille sässe, hat der Mann eine runde, schorfige Wunde, so ein bisschen wie der rote Fleck bei den Indern.

Ich denke noch: dieser Zyklop macht sich seinen Spiess im Höllengrill lieber selber heiss, bevor er es einem nutzlosen Weltenbummler wie mir erlaubt, ihm sein einziges Auge auszubrennen, geschweige denn sich unter seine spanischen Merino-Schafe zu hängen, nur um dann das Weite zu suchen. Ich stehe vom Tisch auf und schlendere schonmal etwas in Richtung Gartentor. Das Unterhemd ist so besudelt, dass mein Hemd dagegen geradezu reinlich wirkt. Buckeldibuckel, humpel, humpel, schlurf, schlurf und dann pflanzt er sich direkt vor mir auf. Und so ein bucklig Männlein ist das dann auch wieder nicht, eher so vier Köpfe grösser als ich und mit einer weissglühenden Grillzange in der rechten Hand. Er schaut zu mir runter und murmelt und kichert und deutet mit der Zange auf mein Hemd und es wirkt als wolle er jetzt erstmal diese ganzen Flecken durchzählen. Und ich sehe die Flecken auf seinem zerfetzten Unterhemd. Verstehe, verstehe, mein altes Ich.

Da sind wir dann also, das dreckige Duo, High Noon der befleckten Vollidioten. Das Au-pair-Mädchen glitscht leise durch die schmierigen Teller an ihren Platz zurück und der lockige Typ liegt mit dem Gesicht in seinem Essen, die ganze Tischrunde wirkt plötzlich wie ausgeschaltet. Die Lampions erlöschen, das Licht ist jetzt sehr grau und fahl, schattenlos und unwirtlich. Das ganze Haus modert mir förmlich entgegen, ich rieche wieder diesen Geruch den die alte kranke Frau ihrem Heimatort vererbt hat. Höre die Wellen des Sees an den grünlich, morastigen Ufern lecken, ein Rauschen geht durch die hohen, glattstämmigen Buchen des Waldes, der Wind bläst in das Feuer. 

Der Zyklop nuschelt mir irgendetwas zu, irgendetwas zwischen «Bleiben Sie doch noch ein Weilchen, möchten Sie ein Bier?» und «Wer aber, Wanderer, nimmt deinen Samen in sich auf?» Der Alte lächelt mich an, schmierig wie ein Schmalztopf, dreckig und gemein und er sucht anscheinend irgendetwas mit der Zunge in seinem pestösen Mundraum. Meine Kieferschmerzen auf einmal, so als hätte ich mir bereits seit einer halben Stunde die Seele aus dem Leib geschrien. Und dann, dann renne ich fort, fort von diesem See, durch den dunklen, stillen, grauen Wald, fort von diesem Haus, fort von allen Häusern.

Zitatende.

Sie werden jetzt bei sich denken, der Typ hätte sich dem Alten zur Abwechslung einfach mal stellen sollen, anstatt schon wieder den Schwanz einzuziehen, was ja hier das eigentliche Thema zu sein scheint. Jetzt will ich Ihnen mal was sagen, Sie Schlauberger, das Männlein wollte logischerweise so einen Waagschalenmoment mit mir aufmachen, in dem ich alles reinschmeisse, was ich habe und der Penner muss nur einen seiner Backenzähne in die andere Schale rotzen, um meinen ganzen Ramsch wie den abgehackten Kopf meines besten Mannes zurück in meine eigene Festung zu katapultieren. Und solchen Momenten werde ich mich niemals stellen können, dazu habe ich einfach nicht genug dabei von allem was es gibt. Immerhin aber half mir diese Begegnung dabei endlich die blaue Mauritius zu orten und auf dieser stand geschrieben: «Alle Wünsche werden klein gegen den, gesund zu sein.» Will sagen, meine eigenen Bilderwelten zerschellten an den Grenzen ihrer Haltbarkeit und sowohl Bettlaken wie Briefmarken hielten, wie gesagt, ab da nur noch bedingt brauchbare Ratschläge für mich parat.

Aber, liebe Anwesenden, so schlimm ist das alles dann auch wieder nicht. Ja im Gegenteil, vielleicht ist es auch gut, wenn eine Zeit mal wieder vorbei ist und man die neue nicht gleich betiteln kann, dann hat man halt einmal nicht die passende Anekdote parat, ist doch egal. Dann muss man sich auch nicht dauernd ableiten von einem Selbst, mit dem man streng genommen schon nicht allzuviel zu tun hatte als es noch aktuell war. Sich mal wieder ein bisschen lösen, Neid und Gier wieder in Werden und Wachsen eintauschen. Und anstatt ewig an der Fähigkeit zu feilen, sich alle seine Fehler gleichzeitig einzugestehen, um sich diese dann zu guter Letzt alle selber zu vergeben, lieber neue Fähigkeiten, neue Tätigkeiten, von dem Zaun brechen, der einen von irgendeinem Gartenfest aussperren will. Jeden Tag Tabula Rasa. Zum Vergleich gar nicht erst antreten und dabei noch nicht mal über Feigheit nachdenken, sich sein eigenes Beispiel sein, Platz schaffen für neue, andere Vorstellungen vom eigenen Leben, Vorstellungen also, mit denen man sich nicht jeden Tag bis auf’s Blut herumprügeln muss. Vielleicht mal ein quod erat demonstrandum weniger am Tag, statt sich dauernd die Schuhe zuzumachen, einfach mal die Schnürsenkel wegschmeissen. Genau, Bummsi, bummsi, Schubidubi, egal ob da jetzt jemand zuguckt oder nicht, Hamlet ist doch auch ohne Publikum total interessant.

Wenn Sie jemanden kennen, der das auch nur behauptet hinzukriegen und dabei nicht für die Regierung arbeitet, lassen Sie es mich bitte wissen, mit dem- oder derjenigen würde ich mich wirklich gerne mal länger unterhalten. Ich nämlich kenne niemanden, der stolz verkünden kann: Ich bin alleine und einsam an den Punkt gelangt, mich einfach mal alleine und einsam fühlen zu dürfen. Aber an dieser Stelle muss ich es Ihnen gestehen, auch wegen dem ganzen Falschspielerkomplex habe auch ich mich immer nach diesem Alleinesein gesehnt, wo ich niemanden mehr zu irgendetwas überreden musste, sei es auch nur dazu noch ein paar Minuten bei mir zu bleiben. Das war irgendwie attraktiv für mich und dann kommen ja auch meistens Unabhängigkeit und Emanzipation vorbei, die ja immer in die Isolationshaft so ein politisches Küchlein reinschmuggeln. Und die beiden Jungs hängen sowieso den ganzen Tag mit dem zwar sehr stillen, aber leider auch völlig überbewerteten, analytischen Beobachter rum. Aber eins kann ich Ihnen sozusagen persönlich an dieser Stelle garantieren: Diese Welt ist leider, leider nicht zur optischen Anteilnahme konzipiert und sie ist auch nicht von ungefähr durch Magnetismus geprägt. Ergo wer da nicht mitfummeln kann, der fummelt einfach nicht mit. Was nicht blüht, wird nicht gegossen. Fertig, Schluss, Aus. Ende der Durchsage. 

Ich fasse also zusammen:

Jede Nacht, wenn ich mich keuchend von meinem Schreibtisch erhebe, um mich langsam und sehr, sehr umständlich in mein kaltes Bett zu legen und der Vollmond fragend durch das Fenster auf einen gebrochenen Mann jenseits von Ebbe und Flut hinunterschaut, sehe ich mich barfuss und nur mit einer roten Unterhose bekleidet einen langen Korridor entlang gehen und hier und da bleibe ich an einer der unzähligen Türen dieses Korridors stehen und horche, ob vielleicht ein verzücktes Lachen, eine geliebte Stimme, ein «Ich glaube dir» oder auch nur ein «Ich liebe dich doch noch» durch das schwere, dunkle Holz an mein Ohr dringt. Und ich streichle dann zärtlich mit leichenkalten Fingern über diese Vollstrecker-Siegel, die diese Türen für immer versperrt haben und die mit meinen eigenen Initialen in mittelalterlicher Grafenmanier verziert sind. Aber das einzige was ich in diesem Korridor vernehme ist das Tapsen meiner nackten Füsse auf dem kahlen Boden, der sich in meiner Vorstellung allerdings nicht einmal weiter in Richtung Kacheln, Holz oder Teppich ausdefiniert. 

Und jede Nacht gehe ich immer weiter an den stummen, versiegelten Türen entlang, alleine, ohne Tarnjacke, ohne Reptilienhaut, ohne Bettlakenhemd, ohne Briefmarke, nur in meiner roten Unterhose, die ich mir mal auf einem Open-Air-Festival in der italienischen Schweiz gekauft habe, wo ich mit meiner Band vor 16.000 Leuten aufgetreten bin. Ich danke Ihnen, machen Sie sich nicht so fertig, für Dinge, die Sie nicht ändern können, kommen Sie gut heim.

Dieser Beitrag ist lizenziert unter der CC-BY-NC-ND Lizenz 4.0 International (Creative Commons, Namensnennung, nicht-kommerziell, keine Bearbeitungen). Im Beitrag integrierte Bilder und Videos werden unter «Free For Private Use» publiziert und erfordern ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch die jeweiligen Rechteinhaber*innen.