Am ersten Tag des schweizweiten Lockdowns also die Anfrage bei der Institution, ob man der Rezensentin kurzfristig einen Videorundgang durch die Ausstellung zur Verfügung stellen könne? Und die erfreulich rasche Zusage der Kurator*innen David Lemaire und Marie Gaitzsch zu einem solchen improvisierten Digitalformat. Ein Format, das, in den meisten Fällen mit kunstvermittelnder Dialogfunktion, zum Standard nationaler wie internationaler Kunstinstitutionen geworden ist.
Das im vorliegenden Fall absichtsvoll ‹basal› gewählte Setting – eine kommentarfreie Videoaufnahme der Ausstellung – erweist sich allerdings als nicht ganz störungsresistent: Das Gefühl, in einer überdimensionalen Bubble gefangen zu sein, ohne Chance gehört oder gar gesehen zu werden. Und der ständige Impuls zum Zwischenruf: «Anhalten – stehenbleiben – bitte noch mal nach links ...» Aber der namenlose Mensch hinter der Smartphone-Kamera hört einen einfach nicht. Nur sein Atmen ist zu hören, seine Schritte, ab und zu sein im Spiegel der Bilderrahmen aufblitzendes Basecap. Und die wenigen im Format der Videoaufnahme zur Verfügung stehenden Tasten am heimischen Rechner: ‹Vor›, ‹Zurück›, ‹Pause›. Mit der Zeit mutieren er* und ich zum maschinellen ‹Dividuum› – eines mit inneren Konflikten. Er scheint es eilig zu haben, kennt die Ausstellung, weiss um die annähernd 100 Bilder, die er noch zu filmen hat. Ich hingegen kenne die Ausstellung nicht. Nicht einmal die für die Kontextualisierung von Kunst nicht ganz unwichtige Institution – für die aus der Redaktion so viel lobende Worte zu hören waren. Und habe Mühe ihm zu folgen, fühle mich – Pausetaste hin oder her – gehetzt. Keine guten Voraussetzungen für Kunst und ihre Betrachtung.
Dabei ist das, was wir hier tun, auf paradoxe Weise sinnvoll. Kontextbasiert, möchte man meinen. Wie von langer Hand geplant: Sein Blick auf die Ausstellung, mein Blick auf das Notebook, und dazwischen das Auge der Handy-Kamera. Ein in dreifacher Hinsicht technisch vermitteltes Blickregime, und das im Kontext einer künstlerischen Praxis, in der ‹Mensch-Maschinen›, oder zumindest die ‹Durchdringung› des Menschen durch Technik eine wichtige, wenn nicht gar zentrale Rolle spielen.
LES CYBORGS NE SONT PAS RESPECTEUSES (CYBORGS SIND RESPEKTLOS) – so der auf Donna Haraways Manifest für Cyborgs zurückgehende Titel der Ausstellung. Cyborgs werden von Haraway als «Anhänger*innen von Partialität, Ironie, Initimität und Perversität»[1] gefeiert. Nicht ganz abwegig für eine Position wie die von Kiki Kogelnik. Der Fokus dieser Retrospektive liegt auf der zeitaktuellen Frage des «Körpers in sozialer, medizinischer und technologischer Hinsicht» und einer damit zusammenhängenden «Ambivalenz des Fortschritts», wie es im Ausstellungstext heisst. Sehr prophetisch – denkt man mit einem Mal: Ein (a)sozialer und (anti-)kapitalistischer Virus pandemischen Ausmasses. Globale Verkettung wie Vereinzelung. Die Macht der Medizin und Wissenschaften an ihren vorübergehend todbringenden Grenzen. Lockdown-bedingt Homeoffice praktizierende, sich durch die Welt der Arbeit «zoomende» Maschinenmenschen. Und mittendrin: Kiki Kogelnik. Eine (noch) wenig rezipierte und in der Welt ‹männlich› geprägter Pop-Art ab den 60er-Jahren auf sehr eigene Weise feministisch agierende Künstlerin. Eigen, weil Kogelniks Feminismus einerseits der ostentative Fingerzeig fehlt, sich also eher an der Praxis denn am Diskurs orientiert. Er stellt aber auch eine sich selbst inszenierende ‹Weiblichkeit› ins Zentrum, die den hegemonialen Leitlinien eines in den 60er-Jahren üblichen schattenhaften Frauen-Daseins diametral und damit natürlich umso ostentativer zuwiderläuft. Sowie: Eine künstlerische Position mit ästhetisch ansprechendem, wenn auch sehr plakativem – sprayendem, malendem, siebdruckendem, Skulpturen oder auch Vinyl-Cut-Outs produzierendem – Weitblick für uns und unsere Gegenwart.
Womans Lib gleich zu Beginn der Ausstellung dokumentiert dabei auf beispielhafte Weise die Haltung Kogelniks: eine überdimensionierte Schere als «[protofeministische] Neucodierung eines weiblichen konnotierten Schneidewerkzeugs»[2]. Direkt zwischen Kogelniks Beinen – dort wo sich sexuelle Gewaltphantasien bis heute gerne mal hin verirren. Kogelnik selbst im Stil einer punkigen Domina-Amazone inszeniert: stark, unabhängig, frei von Konventionen. Dabei soll Kogelniks Feminismus interessanterweise gar kein ‹echter›, jedenfalls kein explizit-ausgestellter, gewesen sein. Wie sie selbst es einmal zu Protokoll gab: «Mein feministischer Beitrag ist eher meine Arbeit an sich und mein Lebensstil, aber nicht der künstlerische Inhalt.»[3]
Self Portrait als weiteres Beispiel solcher künstlerischer, feministisch-unfeministischer Inhalte: sehr bunte Farben auf grossflächiger Leinwand. Eine Bombe – klassisches Motiv einer in Zeiten des ‹Kalten Kriegs› und symbolisch operierender Ideologie-Kämpfe sozialisierten Künstlerin. Dazu (scheinbar) mit der Schere zerschnittene, das Konstrukt (somatisierter) Identität hinterfragende Körpersilhouetten als weiteres zentrales Sujet im Formenspektrum Kogelniks. «Das Zickzack [des] Scherenschnitts [als] Gestus, mit dem sie ihren männlichen Pop-Kollegen, die in rot geschminkte Münder, Pin-Ups, Celebrities und fleissige Hausweibchen verliebt sind, den Mittelfinger zeigt»[4].
Weil das Setting der maschinenbasierten, fremdgesteuerten Ausstellungsbesichtigung in sich fragil bleibt, stützt sich der eigene Blick beim Rundgang doch vor allem auch auf die Ikonographie des schon Bekannten – also auf das kanonisch gewordene Bildwerk im Œuvre der Künstlerin. So etwa im Fall des überlebensgrossen, aus vielfarbigen Vinyl-Cut-Outs geformten Totenkopfs Skull.
Der dort vom (vermeintlichen) Fortschritt der Moderne verdrängte und in vielen von Kogelniks Arbeiten zur Darstellung gebrachte Tod als Reminiszenz und Erinnerung an die Fragilität des Lebens lässt einen in der aktuellen Lage tatsächlich ein wenig schauern. Und entspannen. Selten wurde der Tod auf so bunte wie poppige Weise in den Horizont unserer Gegenwart katapultiert.
Dann, im Raum mit Kogelniks ‹Röntgen-Kunst› – grossformatige Abbilder partiell durchleuchteter Humanoiden und im ‹Werden› befindlicher Embryonen – haben mein ‹Alter Ego› und ich doch noch zu einer Art Routine im Betrachten der Kunst vor Ort gefunden. Sind vertraut und aufeinander eingestimmt in der Bedienung der Geräte zwischen unseren Händen. «In meinen Bildern geht es hauptsächlich um die Darstellung eines künstlichen Menschen»[5], soll Kogelnik einmal den Kern ihres Arbeitens umschrieben haben. Lange bevor das Prinzip «Künstlicher Intelligenz» (KI) zum Wiedergänger einer sich scheinbar neu erfindenden und mit staatlichen Geldern überhäuften Wissenschaftlichkeit wurden.
Kogelniks Interesse galt der «Gemachtheit des Menschen»[6], der Sinnleere (post-)moderner Wohlstandsgesellschaften, der «Schablonenhaftigkeit»[7] fragmentierter und fragmentierender Identitätskonstruktionen, den Hoffnungen und Ängsten beginnender kybernetischer Allmachtsphantasien. All dem also, das uns heute mit so viraler Vehemenz auf die Füsse zu fallen droht. In La Chaux-de-Fonds scheinen die Kurator*innen für das breitgefächerte, auf bizarre Weise zeitaktuelle Themenspektrum Kogelniks einen sehr soliden und in sich schlüssigen kuratorischen Rahmen gefunden zu haben, der sich vor allem in der klassischen Dramaturgie einer in Schaffensphasen sowie Themenschwerpunkten aufgeteilten Ausstellung widerspiegelt.
In einem der letzten Räume zeigt sich ausserdem die ‹klassische› Sorgfalt, mit der in dieser Ausstellung die Fluchtlinien von Kogelniks künstlerischem Arbeiten nachgezeichnet wurden: Angefangen bei Kogelniks in den 70er-Jahren entstandener bildnerischer Kritik an Frauenfiguren und Werbekörpern oberflächlichkeitenaffiner Hochglanzmagazine (wie etwa Look Again, 1979), die angesichts der ‹Sexyness› der dort zu sehenden Frauengestalten zeigen, wie nah kritische Parodie und affirmierende Imitation oft beieinanderliegen. Über die malerische Abbildung Kogelniks ikonographisch gewordener Hangings, Körperumrisse nachzeichnende Vinyl-Cut-Outs, die bunt, schlaff und reglos über den Bügeln hängen. So als liesse sich das ‹Selbst› in die Garderobe der Geschichte hängen ... Zusammengenommen mit Kogelniks technik- und fortschrittaffinem Interesse an der Weltraumfahrt und ihrem weitsichtigen Fokus auf die Verschmelzung von Mensch und Maschine zeichnet die Ausstellung damit insgesamt das Bild einer Künstlerin, die im ‹Neuen› die einengenden Grenzen des ‹Alten› zu überschreiten suchte. Dabei konnte sie sich – passgenau zu zeitgenössischen Erzählungen über einen ‹schönen› postmodernen Feminismus – in ihren Pop-Art-(Selbst-)Inszenierungen auf eben diese verlassen ...
... denke ich noch, als plötzlich eine junge Frau im Bild erscheint, die den Menschen hinter der Handy-Kamera zu kennen und zu suchen scheint. Ein Riss in der Matrix. Als habe sich Kogelniks junges Ich für einen Moment in die Gegenwart hineingestohlen. Mein bebasecapter Avatar schwenkt abrupt ab, beendet seine Aufnahme. Ich schliesse meinen Rechner. Draussen vor dem Fenster herrscht immer noch diese seltsame Stille. «Man wird so stark auf sich selbst zurückgeworfen», muss ich an die Klage einer sich pandemiebedingt durch ihren Arbeitsalltag und Teamkonferenzen zoomenden Kollegin denken. Und ich beginne mich zu fragen, ob Ähnliches nicht auch für Kunst in Zeiten von Covid-19 gilt? Ob da nicht etwas fehlt im flachen digitalen ‹Raum› zwischen 0 und 1 – Digital-Kunst ‹sui generis› einmal ausgenommen? Gerade angesichts einer anhaltenden Krise, in deren Kontext sich die Welt zu verengen und sich der technisch-globale Fortschritt vor unseren Augen noch bei weitem sichtbarer in sein ziemlich unsoziales, ungerechtes und unberechenbares Gegenteil zu verwandeln scheint. Ob da nicht so etwas wie räumliche Resonanz fehlt, ein Gefühl subjektiv-somatisierter Situiertheit? Nicht nur in den transversalen Austauschbeziehungen zwischen ‹der› Kunst und ihren Betrachter*innen, sondern auch im machtdurchdrungenen historischen Gefüge dieser Kunst und ihrer Institutionen.
[1] http://www.medientheorie.com/doc/haraway_manifesto.pdf, S. 2., zuletzt aufgerufen am: 18.05.2020, 11.18 Uhr
[2]Angela Stief, «Touch! Attraktion und Repulsion in Kiki Kogelniks Malerei der 1960er Jahre», in: Kiki Kogelnik, hrsg. von Florian Waldvogel, Publikation anlässlich der Ausstellung Kiki Kogelnik: I Have Seen the Future im Kunstverein Hamburg, Köln, 2012, S. 70.
[3]Susanne Längle, «Die vielen Gesichter der Kiki K.», in: Kiki Kogelnik. Retrospektive, hrsg. von Hans-Peter Wipplinger, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung an der Kunsthalle Krems, Nürnberg, 2013, S. 25.
[4]Stief, 2012, a.a.O., S. 69.
[5]Stief, 2012, a.a.O., S. 66.
[6]Stief, 2012, a.a.O., S. 71.
[7]Vgl. Florian Waldvogel, «All dreams are ins us prophetic», in: Waldvogel 2012, a.a.O., S. 37.