
Nikhil Vettukatil, Alienation, 2021, Video, Shedhalle Zürich, Protozone16: Hallucinogenesis, kuratiert von Thea Reifler und Phila Bergmann. Photo von Irem Güngez.
Dienstag, 29.10.2024. Ich betrete die Ausstellung ProtoZone16: Hallucinogenesis (13.09.2024-03.11.2024). Ich bin allein. Laute Klänge und Stimmen prasseln aus allen Richtungen auf mich ein. Mein erster Impuls ist, meine Aufmerksamkeit auf einen Sound zu lenken, um nicht die Orientierung zu verlieren. Erst in einem zweiten Schritt versuche ich die überwältigende Geräuschkulisse anzunehmen und loszulassen von der Vorstellung, genau jetzt in diesem Moment verorten zu können, woher welcher Sound kommt und was die Stimmen, die ich höre, genau sagen.
Aus naher Entfernung erkenne ich im Tonchaos Techno und lasse mich vom Rhythmus zum Video Alienation (2021) von Nikhil Vettukattil leiten. Vor dem Eingang bemerke ich einen Hinweis, der mich darauf aufmerksam macht, dass ich mit lauter Musik und Stroboskop konfrontiert sein werde. Etwas weiter neben der Triggerwarnung hängt eine Beschreibung der Arbeit in einfacher Sprache. Alle Arbeiten in der Ausstellung sind mit solchen Schildern versehen. Ich schiebe die schwarzen, schweren Vorhänge zur Seite und trete in den dunklen Raum. Lichtblitze und dröhnender Bass schlagen mir entgegen. Nach einigen Sekunden kehre ich wieder um, ohne die Arbeit ganz gesehen zu haben.
Freitag, 13. Juni 2025. Mein zweiter Besuch in der Shedhalle. ProtoZone19: Ruptures, Reliances ist die letzte Ausstellung von Phila Bergmann und Thea Reifler, bevor ein neues Team die künstlerische Leitung übernimmt. Als ich ankomme, ist Thea Reifler am Kochen und fragt mich, ob ich hungrig sei. «Nein, danke. Ich habe schon gegessen», antworte ich. Ich stehe im Foyer. Später findet die Performance tangerine von Göksu Kunak statt. Es sind einige Leute gekommen. Dieses Mal höre ich neben Gesprächen im Hintergrund nur plätscherndes Wasser.

Vika Kirchenbauer, COMPASSION AND INCONVENIENCE, 2024, Textile Banner mit Digitaldruck, Shedhalle Zürich, ProtoZone19: Ruptures \ Reliances, kuratiert von Thea Reifler und Phila Bergmann. Photo von Irem Güngez.
Auftakt der Ausstellung ist einer von Vika Kirchenbauers sechs Bannern, die an verschiedenen Orten im Raum installiert sind. In einer alten Schrift übermitteln sie Auszüge historischer Texte aus dem 18. Jahrhundert. Bevor ich die Ausstellung betrete, lese ich:
Wer sein Werk ausstellt, wünscht sich natürlich ein grosses Publikum, aber dieser Wunsch verfehlt seinen Zweck, wenn die Menschen so zahlreich kommen, dass sie sich gegenseitig den Blick versperren. Obwohl wir natürlich keiner Gesellschaftsschicht das Vergnügen verderben oder deren Gefühle herabsetzen wollen, so ist uns doch klar, was jedem klar ist, nämlich dass nicht jeder Kunst beurteilen oder kaufen kann; aber es hat sich erfahrungsgemäss gezeigt, dass eine Kunstausstellung jeden anzieht. Als die Bedingungen für den Einlass niedrig waren, drängten sich in unseren Saal solche Massen, dass Gefahr bestand, und dies gerade diejenigen abschreckte, nach deren Zuspruch wir uns so sehnten.[1]
Vika Kirchenbauers Banner und das performative Videoessay Compassion and Inconvenience (2024) gehen auf die Entstehung moderner europäischer Kunstinstitutionen ein und darauf, wie sich darin von Beginn an soziale und ökonomische Machtverhältnisse manifestierten.[2] Es etablierte sich ein Zugang zu Kunst, der auf Wissen, Macht und Geld beruhte. Affektive Zugänge galten im Umkehrschluss als mindere Betrachtungsweisen. Künstler_innen waren an diesem Prozess beteiligt, indem sie aus einem Gefühl der kultivierten Überlegenheit ein Eintrittsgeld forderten, damit jene, die ihrer Auffassung nach nichts von Kunst verstanden und sie sich auch nicht leisten konnten, der Ausstellung fernblieben. Der aufklärerische Ruf nach Demokratisierung ging einher mit Ausschluss und Abgrenzung – auch heute noch. Doch müssen sich weder Künstler_innen noch Kurator_innen Sorgen machen, dass ihre Ausstellungen überrannt werden.
Phila Bergmann und Thea Reifler versuchten in den letzten Jahren in der Shedhalle, einen Umgang mit diesem historischen Narrativ zu finden. Das Anliegen wurde in den flexiblen Eintrittspreisen ohne Kontrolle, den Triggerwarnungen oder den Texten in einfacher Sprache erkennbar. In der Ausstellung ProtoZone16: Hallucinogenesis erlebte ich aber eine sensorische Überforderung. Diese zeigt auch: es wäre illusorisch zu denken, dass vermittelnde Interventionen systematische Ausschlüsse in der Kunstbetrachtung aufheben würden. Vielmehr macht ihre Notwendigkeit deutlich, dass Barrieren auch weiterhin bestehen.
Phila Bergmann und Thea Reifler traten die Leitung zu einem schwierigen Zeitpunkt an, als die Covid-Pandemie die Welt in einen Ausnahmezustand versetzte. In der ersten ProtoZone, Contamination/Resilience (2020), stellten die beiden mit Octavia Butler, Ursula K. Le Guin, Silvia Federici und Donna Haraway die Frage, wie «die Welt aussehen [könnte], wenn wir uns dazu entscheiden, Dinge radikal anders zu tun?»[3] Informiert durch (queer)-feministische, ökologische und dekoloniale Praktiken rückte die Ausstellung widerständige Resilienz, Care- und Beziehungsarbeit sowie gegenseitige Unterstützung ins Zentrum. Die Bemühungen zeigten sich seither auch in der künstlerisch-kuratorischen Praxis.
Phila Bergmann und Thea Reifler bezeichnen die Shedhalle als «Raum für prozessbasierte Kunst», wobei die beiden den Prozess als ein Werkzeug verstehen, das dazu dient, mit «der Kunst unbekannte Handlungs- und Denkräume zu erschliessen».[4] Gemeinsam mit dem Team entwarfen sie Ausstellungen im Format der ProtoZone. Angelehnt an Ideen aus feministischer Science-Fiction ist die ProtoZone ein Ort, wo andere Spielregeln gelten und utopische Zukunftsentwürfe Platz finden. In den Ausstellungen trafen lokale und internationale Einzelpositionen und Kollektive aufeinander. Oft waren es marginsalisierte Stimmen im Kunstbetrieb, die gesellschaftspolitische Probleme adressieren, in unterschiedlichen Disziplinen, irgendwo dazwischen oder darüber hinaus arbeiten.
Sarai Rose Duke, Fairplay, 2024, Partizipative Performance, Shedhalle Zürich, Lange Nacht der Museen, kuratiert von Vanessa Bosch. Photo von Vanessa Bosch.
Anstatt lediglich singulären Positionen eine Plattform zu bieten, bildeten sich in den ProtoZonen besonders während den «Hi-Intensity-Phasen» vorübergehende Gemeinschaften. In diesen öffnete die Shedhalle für mehrere Tage, teilweise sogar für ganze Nächte und erweiterte die Ausstellung durch Live-Ereignisse. An der ProtoZone16 fanden ein Reading Rave von lila., einem queeren Festival, und der Roundtable Archiving Queer & Disabled Practices von X COLLECTIVE X statt. Während des Aufbaus der Ausstellung kuratierte Vanessa Bosch zudem den Abend A Play With Patterns. WAT TAKLEAW spielte ein Konzert und die Künstlerin Sarai Rose Duke bereitete Nudelteig und verschiedene Füllungen vor. Der Fokus lag auf der gemeinsamen Zubereitung, dem Essen und Musikhören. Bei meinem ersten Besuch in der Shedhalle erzählte mir Phila Bergmann, dass das Team mit Gastfreund_innenschaft einen Raum schaffen wolle, in dem sich alle Beteiligten willkommen und wohl fühlen. Wo die finanzielle Sicherheit fehle, sei es umso wichtiger, durch einen wertschätzenden und aufmerksamen Umgang ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln.
Eine sorgsame kuratorische Praxis,[5] die versucht Zugänglichkeit herzustellen, auf verschiedene Bedürfnisse gleichzeitig einzugehen und Beziehungsarbeit jenseits eines nutzenorientierten Netzwerkens zu denken, ist im neoliberalen Kapitalismus keine Selbstverständlichkeit. In vielen Kunst- und Kulturinstitutionen fehlen die materiellen und zeitlichen Ressourcen und die Bereitschaft für diese Arbeit. Dort, wo sie stattfindet, sind es mehrheitlich Frauen* und queere Personen, oft auch mit Migrationserfahrung, die sich darum kümmern, und gar nicht oder nur schlecht dafür bezahlt werden. Ich denke an die materialistische und antikapitalistische Kritik zahlreicher Feminist_innen seit den 1970er-Jahren und frage mich, ob es nicht widerständiger wäre, die Arbeit kollektiv zu verweigern, anstatt es sich in der doppelten Prekarisierung von gesellschaftspolitischer Kunst und Care so gut es geht gemütlich zu machen. Doch die Möglichkeit auf kollektive Verweigerung im Kunstbetrieb, der noch immer von Individualismus und Leidenschaft für sinnstiftende Arbeit zehrt, besteht zur Zeit kaum.
Die Potenziale lagen in der Shedhalle der letzten Jahre im Kleinen. Es waren mikropolitische Veränderungen, die mit Blick auf die Geschichte der Institution erkennbar werden. 1994 wurde die Shedhalle einer (Re-)Politisierung unterzogen, als der Vorstand das Betriebskonzept überarbeitete. In Abgrenzung zur Kunsthalle und zu Galerien schlug der Vorstand vor, dass Teams die Ausstellungen kuratieren und keine Einzel-, sondern Gruppenpräsentationen auf dem Programm stehen. Auch das Umfeld der Shedhalle, die Rote Fabrik, sollte miteinbezogen werden, deren Entstehung den Kämpfen um selbstorganisierte Freiräume in den 1980er-Jahren geschuldet ist.[6] Seit der Überarbeitung des Betriebskonzepts bestimmt ein Kunstbegriff die Shedhalle, der die Nähe zum Aktivismus, Technologie und Wissenschaft sucht und das Soziale vor ökonomische und ästhetische Kriterien stellt. Der gesellschaftspolitische Anspruch von Phila Bergmann und Thea Reifler fügt sich in diese Geschichte der Shedhalle ein.
Bevor die beiden die Leitung übernahmen, kritisierte Pablo Müller 2019, dass die Institution in den Jahren zuvor begonnen hätte, sich um sich selbst zu drehen, um erkennbar zu bleiben und so stagnierte.[7] Zeichen der Erstarrung zeigten sich in der Archivstruktur, wo Schlagworte aus Projekten der 1990er-Jahren unreflektiert übertragen wurden. Zeitgleich herrschte Unübersichtlichkeit vor, was einer produktiven Aktualisierung der Geschichte im Weg stand. Seine Kritik bezieht sich auf Zugänglichkeit. Doch die Probleme damit liegen auch im offenen Kunstbegriff und in mangelnder Finanzierung. Denn disziplinübergreifende und diskursive Ausstellungen und Arbeiten sowie ein komplexes Rahmenprogramm erfordern in Bezug auf Zugänglichkeit mehr Bemühungen als andere Präsentationsformen. Dies versuchten Phila Bergmann und Thea Reifler in den ProtoZonen zu leisten.
Wobei die Zugänglichkeit in Teilen beschränkt bleibt, ist es den beiden gelungen, die Shedhalle trotz Unsicherheiten und widrigen Umständen zu reaktivieren. In der Vergangenheit gab es in der Institution kaum eine Leitung, die sich nicht in Konflikten wiederfand und auseinanderbrach. Bestenfalls gelang eine Koexistenz, in der alle ihr eigenes Ding machten.[8] Es hätte also auch anders kommen können. Dass die Geschichte aber weitergeht, ist nicht zuletzt der Care- und Beziehungsarbeit sowie der gegenseitigen Unterstützung zu verdanken. Vielleicht braucht es also anstatt radikaler kollektiver Verweigerung genau das Gegenteil.
[1] Die Texte auf den Bannern sind in englischer Sprache verfasst. In der Ausstellung lag aber eine deutsche Übersetzung auf.
[2] Am 15.06.2025 organisierte die Shedhalle im schwarzescafé, LUMA Westbau auch eine Buchpräsentation gefolgt von einem Gespräch zwischen Phila Bergmann, Thea Reifler und Vika Kirchenbauer.
[3] Thea Reifler, «Feministische Science-Fiction», in: Fabrikzeitung 7. Dezember 2020, https://www.fabrikzeitung.ch/feministische-science-fiction/#.
[4] Webseite Shedhalle, https://shedhalle.ch/about/2020-2025/ (Letzter Zugriff: 11. Juli 2025).
[5] Ich danke Sarah Merten für das Gespräch und dass sie mich an ihren Recherchen teilhaben liess, die unter anderem ein unveröffentlichtes Interview mit Phila Bergmann und Thea Reifler beinhalten. Durch die Unterhaltung mit Sarah Merten hat sich auch der Fokus auf das sorgsame Kuratieren verfestigt.
[6] Vgl. Pablo Müller, «Ein neues Betriebskonzept», in: Brand-New-Life, 2019: https://brand-new-life.org/b-n-l-de/ein-neues-betriebskonzept/ (Letzter Zugriff: 11.07.2025).
[7] Vgl. Pablo Müller, «Dead End?», in: Brand-New-Life, 2019, https://brand-new-life.org/b-n-l-de/dead-end/ (Letzter Zugriff: 11.07.2025).
[8] Vgl. Pablo Müller, Peter Spillmann, «Zusammenhänge herstellen», in: Brand-New-Life, 2020, https://brand-new-life.org/b-n-l-de/zusammenhaenge-herstellen/ (Letzter Zugriff: 11.07.2025).