Engagierte Kunstkritik

7 Thesen

Noch nie wurde in Tageszeitungen, internationalen Fachzeitschriften und auf Onlineplattformen so viel über Kunst geschrieben. Gleichzeitig wird seit längerem eine nachhaltige Krise der Kunstkritik diagnostiziert. Pablo Müller und Ines Kleesattel denken über diesen vermeintlichen Widerspruch nach und skizzieren – aller Klagen zum Trotz – Möglichkeiten und Ansätze einer kunstkritischen Praxis heute.
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1. Noch kein Ende in Sicht

Spätestens seit 2000 wird in Feuilletons und Fachzeitschriften emphatisch eine Krise der Kunstkritik konstatiert. Die lautesten Vorwürfe innerhalb dieses wiederkehrenden Raunens besagen, heutige Kunstkritik sei schlicht zu wenig kritisch. So wird erklärt: Ein neutrales Mäandrieren würde der polemischen Stellungnahme vorgezogen und kaum jemand wage mehr ein Urteil (James Elkins);[1] gegenwärtige Kunstkritik sei zu einer Simulation von Tiefsinn und ritualisierten Scheinverhandlungen verkommen (Christian Demand);[2] und in dieser post-kritischen Situation mache sich ein unspezifischer Relativismus breit (Hal Foster).[3] Diese Kritik an der Kunstkritik ist historisch keineswegs neu und angesichts institutioneller und ökonomischer Verstrickungen auch durchaus berechtigt. Doch ist das ausschliessliche Konstatieren eines ‹Das-ist-nicht-kritisch-genug› beziehungsweise  ‹Es-gibt-keine-wirkliche-Kritik-mehr› alles andere als produktiv.

Weiter wird wiederholt auf die Wirkungslosigkeit und Machtlosigkeit der Kunstkritik hingewiesen. Benjamin Buchloh und Rosalind Krauss sehen die Kunst aktuell primär von Kunstmarkt und institutionellen Interessen geprägt. Entsprechend reiche die Tatsache einer regelmässigen Präsenz in etablierten Institutionen für eine Validierung künstlerischer Werke. Das kunstkritische Urteil spiele in diesem Prozess keine Rolle mehr.[4] Institutionelle Selektion hat nach Stefan Germer das kritische Urteil abgelöst;[5] Kritik sei lediglich ein Verstärker der kunstbetrieblichen Betriebsamkeit. Ohnehin kann sich Kunstkritik in Anschluss an Luc Boltanski und Éve Chiapello der gegenwärtigen allumfassenden, kapitalistischen Verwertung nicht entziehen.[6] Kunstkritik diene einzig dem gesellschaftlichen Spektakel[7] und auch eine noch so radikale Kritik sei letztlich als inkorporiertes Kapital aufzufassen.[8]

Diese tendenziell fatalistische, ja deterministische Sicht leitet aus der gesellschaftlichen Eingebundenheit eine Machtlosigkeit von Kritik ab, und nicht – was eigentlich naheliegend wäre – aus der Bedingung der Möglichkeit von Veränderung. Aus tatsächlichen Machtverschiebungen (Ausbau des institutionellen Apparats, ausgeweitete Verwertungszonen, ein gestärkter Kunstmarkt…) lässt sich nicht zwangsläufig auf ein Ende politischer, das heisst kritisch-emanzipatorischer Potenziale schliessen. Weil Kunstkritik inmitten der bestehenden Machtverhältnisse agiert – die sie auch selbst mit produziert –, kommt ihr die Möglichkeit zu Perspektivenwechsel und veränderndem Eingriff zu.

Aus unserer Sicht gibt es heute durchaus Momente gelingender und angebrachter Kritik. Wir denken hierbei zum Beispiel an die Zeitschrift Mute aus London. Mute diskutiert die kulturelle Produktion in Bezug auf aktuelle gesellschaftliche und technologische Entwicklungen (Digitalisierung, Biopolitik, Netzkunst, radikale Demokratie) und praktiziert dezidiert eine diskursive Teilhabe. Ein anderes Beispiel ist der Kunstraum Les Complices in Zürich (2007–2014). In ihrer kritischen kuratorischen Praxis hinterfragte die Betreiberin Andrea Thal hegemoniale Repräsentationsformen und stabilisierende Dispositive in historischen Narrativen, fortbestehende Identifizierungsmechanismen und gegenderte Kulturpraktiken. Oder auch ein Schlagabtausch wie der zwischen Claire Bishop, Liam Gillick und Nicolas Bourriaud zur Idee der Relational Aesthetics zeigt uns,[9] wie lebendig und nötig Kritik auch heute ist. Solche vorhandenen und fruchtbaren Ansätze werden im vorgängig erwähnten Kritizismus häufig aktiv ausgeblendet und marginalisiert. Dieses Ausblenden negiert eine – durchaus mögliche – produktive Nutzung gegebener Spielräume und bestätigt eine passiv fatalistische Perspektive gegenüber dem scheinbar allumfassenden Verwertungszusammenhang.

 

2. Mit der Kritik in der Welt sein

Es gibt kein Ausserhalb. Kunst und ihre kritische Reflexion sind in gesellschaftliche und politische Verhältnisse eingebunden und produzieren diese mit. Diese Tatsache wird von der engagierten Kunstkritik keineswegs beklagt.[10] Im Gegenteil: Ihr besonderes Interesse richtet sich genau auf diese Schnittstelle. Soziogeohistorische Situierungen der Kunst werden mitreflektiert und in das kritische Urteil einbezogen. Die Bedeutung eines Kunstwerkes kann sich über die Zeit, je nach Ort und Publikum verändern. Ein vormals fades Werk erhält ein paar Jahre später oder in einem veränderten Ausstellungskontext vielleicht plötzlich eine Brisanz. Die engagierte Kunstkritik entwickelt ihre Argumentation folglich im Hinblick auf die jeweils spezifische Konstellation, in der die Kunst produziert, präsentiert und rezipiert wird, und geht nicht von allgemein gültigen, überzeitlichen Kriterien aus.

Die von der engagierten Kunstkritik an und mit der Kunst diskutierten Fragen weisen über das Kunstfeld hinaus und greifen laufende gesellschaftspolitische Debatten auf. In diesem Sinne begreift engagierte Kunstkritik die Kunst und ihr Feld gesellschaftspolitisch; unter Umständen kann sie so zu einem explizit politischen Unterfangen werden. Das gesellschaftliche Verstrickt-Sein ist für eine engagierte Kunstkritik Chance für Austausch, Allianzen und Kollaborationen mit anderen sozialen Kräften und kulturellen Praktiken. Erst durch diese Zusammenhänge und Wechselwirkungen wird eine Veränderung auch von strukturellen Bedingungen denkbar.[11]

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3. Institutionskritik

Engagierte Kunstkritik sitzt nicht dem Phantasma auf, unabhängig zu sein. Sie reflektiert, bedenkt und verhandelt ihre eigene Verortung innerhalb von kunstbetrieblichen Abläufen und anderen Beziehungsgeflechten. Nicht nur die besprochenen Kunstwerke, Projekte und Ausstellungen, auch sich selbst reflektiert sie als involviert in hegemoniale Strukturen und Interessenzusammenhänge. In diesem Sinne ist die engagierte Kunstkritik ein genuin institutionskritisches Unterfangen. Sie befasst sich explizit mit einem angemessenen Thematisieren ihrer eigenen, nie unparteiischen Positionierung innerhalb des Kunstfeldes und zum besprochenen Gegenstand. Das betrifft inhaltliche, pragmatische, politische und persönliche Interessen, also ihre fachlichen Kriterien und normativen Prämissen ebenso wie ihre Auftragssituation, Arbeitsbedingungen und finanzielle oder andere Abhängigkeiten. Ihre Voraussetzungen, (Produktions-)Bedingungen und Anliegen macht sie folglich möglichst transparent.

In Bezug auf die besprochenen Kunstwerke und Ausstellungen können für die engagierte Kunstkritik beispielsweise folgende Aspekte wichtig werden: Steuerersparnisse, Wertsteigerungen, kunstbetriebliche Entwicklungen und Verschiebungen, kulturpolitische Gegebenheiten, prekäre Arbeitsbedingungen, disziplinäre Verortungen, laufende Debatten zu Begriffen wie ‹Politische Kunst›, ‹Global Art› und ‹Contemporary Art› oder auch die Situation in Ausbildungsinstitutionen (Stichworte wären hier etwa Bologna, Artistic Research oder die postkoloniale Expansion europäisch-nordamerikanischer Curricula und Formate). Von den Recherche basierten Ansätzen der Tradition künstlerischer Institutionskritik kann sie dabei einiges lernen; mit ihrer Unnachgiebigkeit, analytischen Schärfe sowie ihren unorthodoxen Untersuchungsgegenständen und -orten sind diese der institutionskritischen Kunstkritik eine wichtige Inspirationsquelle.

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Kunst- und ästhetikspezifische Aspekte müssen deshalb also nicht vernachlässigt werden, im Gegenteil. Es kann nicht darum gehen, die institutionskritische Analyse struktureller Bedingungen gegen ästhetische Erfahrungsmomente auszuspielen. Vielmehr müssen Wechselverhältnisse zwischen beidem wahrgenommen werden. Ähnliches gilt für das Problematisieren von falschen Autonomiebehauptungen einerseits, und das Verteidigen von trotzdem bestehenden Autonomiebegehren andererseits. Eine engagierte, institutionskritische Kunstkritik beschränkt sich nicht auf das Aufzeigen von Abhängigkeiten, profitablen Netzwerken und versteckten Allianzen. Sie will immer auch auf mögliche Ausgänge und Alternativen hinweisen, statt resignativ bei einem Verabschieden jeder künstlerischen Autonomie und Kritik zu verharren. Es geht ihr stets um ein problematisierendes Kontextualisieren und um ein Ausloten potenzieller Spielräume. Nur so kann sie eine emanzipatorische, nicht nur feldinterne Relevanz für sich beanspruchen; nur so kann sie ein erweitertes (und zuweilen womöglich unterschätztes) kritisches Potenzial der Kunst an konkreten Werken hervorheben – ein Potenzial das für unterschiedlichste Akteur/innen Anknüpfungspunkt sein kann.

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4. Eine Theorie des Kritischen

Engagierte Kunstkritik trägt dazu bei, die viel diskutierte, umstrittene und oft ebenso vorschnell behauptete wie verworfene ‹Kritikalität› von Kunst zu differenzieren. Dem Hype von ‹Kritischer Kunst› schließt sie sich ebenso wenig an wie generalisierenden Kritikverabschiedungen, die annehmen, dass künstlerische Kritik prinzipiell als profitable Strategie vom Neoliberalismus vereinnahmt und für emanzipatorische Anliegen also in Gänze unbrauchbar seien (Luc Boltanski und Éve Chiapello).[12] Neben fallspezifischen Problematisierungen dessen, wie und wo vermeintlich kritische Kunst in hegemoniale Interessen verstrickt bleibt und in welcher Form sie in welchem Zusammenhang Ort von Alternativen und Widerständigkeiten ist, fragt engagierte Kunstkritik grundlegend: Was meint Kritik überhaupt – in der Kunst und darüber hinaus? Welche Formen der Kritik kennen und wollen wir? Inwiefern, wann und wo wird welche (künstlerische und andere) Kritik politisch?

Gelingende und angezeigte Kritikalität verstehen wir als ein Projekt, an dem vonseiten der Kunstkritik gleichermassen gearbeitet wird wie vonseiten der Kunst. Uns interessiert: Welche gegenwärtigen Formen des Kritischen gibt es; was fehlt; was ist fruchtbar; was wäre auszubauen? Inwiefern machen Arbeitsteilungen zwischen Produktion und Rezeption Sinn; wo nähern sich Kunstkritik und Künstler/innenkritik an; und weshalb ist es wichtig, dennoch an Differenzen zwischen beidem festzuhalten? Ausserdem greift engagierte Kunstkritik auch auf verschiedene theoretische und empirische Analysen dessen zurück, wie veränderte gesellschaftliche Bedingungen die Möglichkeiten von Kritik beeinflussen und verschieben. Kunstkritik steht also im Zusammenhang mit anderen Formen und Feldern der Kritik.

Was das Kritische ist, steht für die engagierte Kunstkritik nicht von vornherein fest. Vielmehr ist es im Zuge ihrer jeweiligen Einzelauseinandersetzungen immer wieder konkret zu bestimmen: Was ist gegenwärtig fällig; was besitzt hier und jetzt Dringlichkeit und Relevanz? Engagierte Kunstkritik ist insofern eine Form der Wahrheitspolitik, das heisst sie ist eine parteiische Praxis, die sich für unterschätzte, übersehene und gefährdete Möglichkeiten einsetzt. Wir schlagen vor, dass sie sich dabei Walter Benjamins Forderung anschließt, dass jede einzelne Kritik auch eine theoretische Reflexion ihrer Grundlagen sein muss,[13] und dass sie sich an Foucaults Methode orientiert, dominante Wirkmächtigkeiten stets im Blick zu behalten und gleichzeitig inmitten derer Widerstände zu suchen, die daran arbeiten «nicht dermassen regiert zu werden»[14]. Diese Widerständigkeiten sind im Einzelfall kontext- und situationsspezifisch auszumachen. Eine Theorie des Kritischen heisst für uns also nicht Verallgemeinerung, sondern Konkretion.

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5. Konkrete Ausgangspunkte, distanznehmendes Urteilen und engagierte Fürsprache

Traditionell gehört zu den Aufgaben der Kunstkritik, Kunst mit Fachkenntnis zu beurteilen. Das besprochene Kunstwerk wird für gut und somit bedeutsam beziehungsweise  schlecht und somit unbedeutend befunden. Diese Aufgabe lässt sich in direkter Relation zu verwertungslogischen Ansprüchen sehen. Heute tritt diese Verbindung von Werturteil und Kunstmarkt in «must-sees», in Best-of-Ratings und Like-Funktionen offen zutage.

Engagierte Kunstkritik ist kein simples Werturteil. Sie kommentiert, differenziert und lässt auch in sich widersprüchliche Bewegungen zu. Den Ausgangspunkt der Kritik bildet eine konkrete Beobachtung. An und mit dieser wird argumentiert und ist die jeweilige kritische Beurteilung überprüfbar. Ein solches differenziertes Schreiben (und Sprechen) über Kunst ist nicht ohne Weiteres quantifizierbar und in eine Rating-Logik integrierbar. Doch trotz dieser differenzierenden Haltung urteilt die engagierte Kunstkritik und bezieht Position. Sie bekennt sich, affirmiert, weist zurück. Dies geschieht jedoch im je konkreten Einzelfall und aufgrund der je spezifischen Situation von Werk und Welt. Sie nimmt nicht ein für allemal Stellung für eine/n bestimmte/n Künstler/in und sieht ihre Erfüllung auch nicht in der Fürsprache für eine bestimmte künstlerische Strömung.

Engagierte Kunstkritik lässt sich auf die Kunstwerke ein. Sie begegnet dem spezifischen Einzelfall mit offenem Ausgang. Das Kunstwerk tut etwas mit dem/der Kritiker/in. Er/sie lässt sich affizieren und verliert sich auch mal in einer konkreten Situation. Doch verzichtet die engagierte Kunstkritik nicht auf reflektierende Distanznahme. Das Besondere und das Allgemeine sind für die engagierte Kunstkritik unbedingt verschränkt.

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6. Heterogen und streitbar

Momente des Dialogischen, des Diskutierens und des Widerspruchs erfahren in der engagierten Kunstkritik eine besondere Gewichtung. Sie unterstützt Formate jenseits der üblichen monologisch auktorialen Form. Diese können sein: mehrere Reviews zu einer Ausstellung, ein Artikel von mehreren Autor/innen, Gesprächsrunden, Kommentare, Leserbriefe, zwei widerstreitende Autor/innen zu einem Thema. Durch unterschiedliche Formate des Austausches sollen sogenannte Lai/innen aktiv einbezogen werden. Eine solche engagierte Perspektive setzt auf Heterogenität. statt auf einen elitären Kreis von Kunstkenner/innen. Unterschiedliche Personen können aus ihren je spezifischen Situierungen heraus zu einer erweiternden Interpretation beitragen und Fragen einbringen, die Fachpersonen nicht zugänglich sind. In diesem Sinne möchte die engagierte Kunstkritik nicht nur akademischer Fachdiskurs sein und zielt auf den Einbezug einer weiteren Öffentlichkeit.

Gleichzeitig werden wir dabei natürlich bildungsbürgerlichen Vorsätzen und besserwisserischen Annahmen widerstehen müssen. Uns also auch fragen: Wie weit sind wir überhaupt in der Lage, wirkliche Heterogenität zuzulassen? Und was wäre überhaupt das Interesse derer, die nicht bereits Teil des Kunstfeldes sind, in einen Austausch mit uns zu treten? So unsicher dieses Unterfangen auch sein mag, wir sind der Überzeugung: Kollaborativ und multiperspektivisch lässt sich ein Kunstwerk vielschichtiger erschliessen und verhandeln denn aus einer singulären Position. Engagierte Kunstkritik steht für eine intersubjektive Praxis, die sich sowohl kollaborativ solidarisch als auch streitbar verunsichernd mit den Kunstwerken auseinandersetzt.

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7. Auch eine emanzipatorische Vermittlungspraxis

Kunstkritik wird vorgeworfen, sie sei heute oftmals nur mehr deskriptiv. Doch gerade ihrer beschreibenden Funktion kommt aus unserer Sicht durchaus eine wichtige Rolle zu. Denn die Beschreibung macht den zur Debatte stehenden Gegenstand deutlich; sie fokussiert dessen Zentrum, benennt seine Relevanz und kontextualisiert ihn. Was leicht zu übersehen ist, kann sie hervorheben und festhalten. Die Grenzen zwischen Beschreibung, Erschliessung und Beurteilung sind daher meist fließend und selten klar zu ziehen. Zudem hat nicht jede/r Leser/in die betreffende Ausstellung gesehen oder das zu einem Verständnis häufig notwendige Hintergrundwissen. Oft ermöglichen erst Beschreibungen und zusätzliche Informationen auch den Nichteingeweihten einen Zugang.

Der integrative, anti-elitäre und vermittelnde Moment ist für die engagierte Kunstkritik bedeutend, weil sie sich an eine heterogene Öffentlichkeit richtet. Allerdings muss sie sich dabei fragen, wie sie ihr Wissen bereitstellen und teilen kann, ohne autoritär entmachtend zu wirken. Zwei Aspekte erscheinen uns dabei besonders wichtig: die Funktion der Sprache und die gleichberechtigte Anerkennung anderer Wissensformen. Text schafft immer Kontext. Deshalb ist ein reflektierter Umgang mit Sprache für die engagierte Kunstkritik unverzichtbar. Auch wenn ein voraussetzungfreies Sprechen und Schreiben freilich unmöglich ist, muss sich der/die Kritiker/in stets bewusst halten, dass Begriffe eine Geschichte haben und immer gewollte wie ungewollte Konnotationen mit sich bringen, dass jeder Jargon Ein- und Ausschlüsse produziert und dass nicht alles, was gut klingt, einem kritischen Engagement zugutekommt.

Da engagierte Kunstkritik eine ermächtigende Vermittlungsarbeit sein und zu einer diversifizierten kritischen Öffentlichkeit beitragen will, fragt sie ausserdem, wie sie Formate eines gemeinsamen Beschreibens, Befragens und Kontextualisierens begünstigen kann. Eine entscheidende Vorannahme für das kollaborative (oder streitende) Gespräch mit einem heterogeneren Publikum ist, dass es kein unwissendes Publikum, sondern heterogene Ausgangspunkte und Wissensformen gibt. Engagierte Kunstkritik schließt deshalb an Antonio Gramscis, Walter Benjamins, Stuart Halls und Roger Behrens’ Annahme an, dass jeder Mensch ein/e Spezialist/in ist, und dass unterschiedlichste Halbwissen produktiv zu machen sind.

 

Der Artikel basiert auf einem Vortrag präsentiert an der Tagung Engagiertes vermitteln. Kunstpädagogik Kunstkritik Kunstvermittlung. Die Tagung wurde von der Forschungsgruppe Kunst, Design & Öffentlichkeit der Hochschule Luzern – Kunst & Design in Zusammenarbeit mit dem Master of Arts in Fine Arts organisiert und von AICA – Association internationale des critiques d’art: Section suisse unterstützt.

Die Visualisierungen sind von Annatina Caprez.

[1] So schreibt James Elkins in seinem 2004 erschienen Essayband What Happened to Art Criticism?: «Art criticism was once passionate, polemical and judgmental: now critics are more often interested in ambiguity, neutrality, and nuanced description.» Elkins, James. What Happened to Art Criticism?. Chicago: Prickly Paradigm Press, 2004.

[2] Demand, Christian. Die Beschämung der Philister. Wie die Kunst sich der Kritik entledigte. Springe: Zu Klampen Verlag, 2003, 11 und 262.

[3] Foster, Hal. «Post-Critical». October 139 (2012): 3–8.

[4] Baker, George, Rosalind Krauss, Benjamin Buchloh, Andrea Fraser, David Joselit, James Meyer, Robert Storr, Hal Foster, John Miller und Helen Molesworth. «Round Table. The Present Conditions of Art Criticism». October 100 (2002): 201–228, hier: 202.

[5] Germer, Stefan. «Wie finde ich mich aus diesem Labyrinth? Über die Notwenigkeit und Unmöglichkeit von Kriterien zur Beurteilung zeitgenössischer Kunst». In Germeriana. Unveröffentlichte oder übersetzte Schriften von Stefan Germer zur zeitgenössischen und modernen Kunst, hrsg. von Julia Bernard. Köln: Oktagon, 1999, 233-244, hier: 238.

[6] Boltanski, Luc und Éve Chiapello. Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK, 2003.

[7] Behrens, Roger. «Kritik. Rettend wie rücksichtslos». Kunstforum International 221 (2013): 165–181. 

[8] Draxler, Helmut. «Der Habitus des Kritischen. Über die Grenzen der reflexiven Praxis». In Nach Bourdieu. Visualität Kunst Politik, hrsg. von Beatrice von Bismarck, Therese Kaufmann und Ulf Wuggenig. Wien: Turia + Kant, 2008, 265–273.

[9] Bourriaud, Nicolas. Relational Aesthetics. Dijon: Les presses du réel, 2002; Bishop, Claire. «Antagonism and Relational Aesthetics». October 110 (2004): 51–79; Gillick, Liam und Claire Bishop. «Letters and Responses». October 115 (2006): 95–107. 

[10] Die Bezeichnung ‹engagiert› ist uns eine Behelfskonstruktion und eher ein Ausdruck mangelnder Alternativen. Interessant an diesem Begriff finden wir (im Unterschied zu ‹kritisch›) sein Insistieren auf eine gesellschaftliche Involviertheit und das zugleich betonte Streben nach einer konkreten, politischen Praxis. Ferner ist Engagement nicht alleine einer reflektierenden Vernunft verpflichtet und bezieht auch spontane Reaktionen und Affekte mit ein. Das für uns Problematische am Begriff ‹Engagement› besteht in seiner heute vor allem neoliberalen Verwendung. Anrufungen verpflichten heute jede/n Angestellte/n, Freischaffende/n und Arbeitssuchende/n zum Engagiert-Sein; in der Freizeit fordern uns Quartiervereine und behördlich initiierte Partizipationsprojekte zum unentgeltlichen Engagement auf; und Unternehmen belegen in ihren Engagement-Rubriken ihren lobenswerten Beitrag zu sozialem und ökologischem Ausgleich.

[11] Eine solche Perspektive macht auch Jens Kastner stark. Kastner, Jens. «Zur Kritik der Kritik der Kunstkritik. Feld- und hegemonietheoretische Einwände». In Kunst der Kritik, hrsg. von Birgit Mennel, Stefan Nowotny und Gerald Raunig. Wien/Berlin: Turia + Kant, 2010, 125–147.

[12] Boltanski und Chiapello 2003. Siehe Endnote 6.

[13] Vergleiche dazu: Benjamin, Walter. «Ankündigung der Zeitschrift. Angelus Novus». In Walter Benjamin. Gesammelte Schriften Band II. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, 241–246; Benjamin, Walter. «Memorandum zu der Zeitschrift ‹Krisis und Kritik›». In Walter Benjamin. Gesammelte Schriften Band VI. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995, 619-621.

[14] Foucault, Michel. Was ist Kritik?. Übersetzt aus dem Französischen von Walter Seitter. Berlin: Merve-Verlag, 1992, 12.