Vor kurzem wurde unter dem Titel «Verstreute Archive und Geschichten ohne Zentrum. Herausforderungen einer Aufarbeitung selbstorganisierter Kunstorte» das Forschungsprojekt «Off OffOff Of? Schweizer Kulturpolitik und Selbstorganisation in der Kunst seit 1980» vorgestellt.[1] Auch wenn das Projekt gemäss Selbstdarstellung offenbar auch die «Erschliessung und Ordnung von bis anhin kaum gesichteten Dokumentationsmaterialien» umfasst, wurde in der Präsentation schnell deutlich, dass das Projekt nicht auf die Sicherung der archivischen Überlieferung selbstorganisierter Kunsträume zielt, sondern primär auf eine Publikation, in der Fragen nach Möglichkeiten alternativer, dezentraler oder partizipativer Formen der Geschichtsschreibung erörtert werden. Tatsächlich werden die titelgebenden «verstreuten Archive» von den Forschenden nicht erschlossen, sondern ausgewertet. Damit ist das Projekt symptomatisch für ein Verständnis von Archivierung, das das Archiv als gesellschaftliche Institution und seine Rolle für die Demokratisierung von Geschichte nicht miteinbezieht. Ein Archiv (im Sinne einer «ruhenden Ablage») erfährt einen Funktionswechsel, wenn es aus privater Hand in eine öffentliche Institution übergeht und dort auf eine Weise gesichert wird, dass nicht nur sein Inhalt, sondern idealerweise auch seine Struktur für Forschende im denkbar weitesten Sinn des Wortes lesbar bleibt. Genau in dieser «Umwidmung» liegt die gesellschaftliche Funktion des Archivs und seine politische Bedeutung.
Besonders im Beitrag von Gabriel Flückiger, der über Herausforderungen und Perspektiven bezüglich Dokumentation und Archivierung spricht, wurde die Tendenz deutlich, die aus Archivsicht grundlegende Unterscheidung zwischen der Sicherung eines Archivbestands und der Repräsentation von ausgewähltem Archivmaterial im Rahmen einer Ausstellung oder in Buchform zu verwischen. Damit tritt an die Stelle der archivischen eine kuratorische Praxis. Ohne das Monopol auf die Festlegung eines schillernden Begriffs behaupten zu wollen, bin ich der Meinung, dass bei der Rede vom Archiv eine begriffliche Klärung Not tut. Dem hinlänglich bekannten metaphorischen Archivbegriff Michel Foucaults möchte ich dabei die konkrete Erfahrung der Arbeit mit dem Archiv als Institution entgegensetzen.
In der aus der institutionellen Praxis erwachsenen Archivtheorie wird ein Bestand (engl. «archive») im allgemeinen verstanden als der (vorzugsweise schriftliche) Niederschlag einer schöpferischen, geschäftlichen oder anderweitigen Tätigkeit. Unter dem Archiv (engl. «archives») versteht man entsprechend eine Institution, die solche Bestände dauerhaft sichert und zugänglich macht. Die damit verbundene Erschliessung eines Archivs bedeutet idealerweise die Bewahrung einer überlieferten Struktur, die als solche weitgehend interpretationsoffen bleiben soll. Ausgehend vom Archiv als Institution verweist das Verb «archivieren» also gerade nicht auf den Prozess der Fixierung und Determinierung von Bedeutung – wie bei Foucault –, sondern im Gegenteil auf das Offenhalten möglicher Bedeutung.
Auch wenn in Archiven zweifellos «stille Narrative», unreflektierte mediale Bedingtheiten und institutionelle Traditionen herrschen, die diese prinzipielle Offenheit einschränken und nach einer kritischen Beschäftigung verlangen, verweist Archivierung auf eine spezifische Form demokratischer Institutionalisierung, die deutlich von einer Musealisierung zu unterscheiden ist, bei der die Überlieferung auf eine Weise dekontextualisiert wird, die das musealisierte Objekt vollkommen von seiner ursprünglichen Funktion abschneidet. Als Archivgut erhalten Dokumente zwar einen anderen Status, ihr ursprünglicher Gebrauchswert bleibt dabei aber weitgehend erhalten. Der Gebrauchswert eines Archivs wird durch seine Institutionalisierung nicht reduziert, sondern erweitert. Es bleibt ein Archiv im Sinne seiner Anlage und wird als «archiviertes Archiv» zusätzlich aber auch anders und durch andere nutzbar. Bei der Frage nach dem Umgang mit der dokumentarischen Überlieferung selbstverwalteter Projekte ist Institutionalisierung also nicht mit Musealisierung gleichzusetzen, wie von Flückiger an einer Stelle impliziert wurde.
Auch wenn der Vortrag insgesamt weitgehend frei war von einer Abgrenzungsrhetorik, welche «die Institution» als Feindbild identifiziert, blieb das Verhältnis von Archiv und Institution ungeklärt – und damit auch die Frage der Öffentlichkeit unberührt, die Frage, wer unter welchen Bedingungen Zugriff auf das Überlieferungsgut hat. Es scheint mir in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass die offenbar intensive Arbeit der Forschungsgruppe mit dem am SIK-ISEA gesammelten und hier im Rahmen des Schweizerischen Kunstarchivs öffentlich zugänglichen Dokumentationsmaterial[2] in ihrer Befragung der historischen Überlieferung von Off-Spaces und ihrer «verstreuten Archive» keine Erwähnung fand.
Damit reiht sich das Projekt ein in eine Tradition künstlerischer Forschung, die das Begehren nach anderen Archiven formuliert, ohne sich die Mühe einer vertieften Auseinandersetzung mit den bestehenden Strukturen in diesem Feld zu machen. Paradoxerweise resultiert diese in ihrem Selbstverständnis institutionskritische Archivpraxis in den meisten Fällen in vergleichsweise geschlossene Formen wie Publikationen in Buchform oder Ausstellungen – womit die einer solchen Schliessung entgegenstehende Eigenlogik des Archivs letztlich der Logik akademischer oder kuratorischer Karriereplanung untergeordnet wird. Für diese hat eine Publikation oder eine Ausstellung nun mal einen deutlich anderen Wert als ein erschlossenes Archiv.[3] Diese Tendenz führt zu einem Diskurs über Archive, bei dem weder die Perspektiven von Archivar/innen noch von Archivnutzer/innen berücksichtigt werden.
Einen vorläufigen Tiefpunkt in dieser Beziehung markiert der 2016 erschienene Sammelband The Archive as a Productive Space of Conflict – Resultat eines kollaborativen Forschungsprojekts zwischen der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG) und der Haute école d’art et de design (HEAD) in Genf.[4] Die Publikation versammelt 58 Beiträge von im Kunstfeld hochrangig positionierten Stimmen, alphabetisch nach Namen geordnet. In einem überaus selbstbewusst formulierten Klappentext wird in Abgrenzung zu den «konventionellen Archiven» und deren starren Strukturen ein verlockend schillerndes «konfliktuöses Archiv» ins Spiel gebracht, das neue Perspektiven auf eine archivarische Praxis ermögliche. Diese Aussage wird in den Raum gestellt, aber nicht weiter vertieft. Vielmehr wird auf über 700 Seiten eine Vielfalt «nicht-traditioneller Archive» vorgestellt. Mögen die Projekte dabei im einzelnen durchaus interessant sein, liegt das grosse Problem der Publikation in einem lautstarken Postulieren gesellschaftlicher Relevanz ohne erkennbaren Willen, sich ernsthaft mit einer Welt ausserhalb der eigenen exklusiven Kreise auseinanderzusetzen. Man fragt sich, warum das ganze Getue, wenn es am Ende doch um nichts anderes als um Kunst geht (oder darum, die eigenen Studierenden zu beeindrucken und/oder zu beschäftigen)? Jedenfalls scheint es den beiden Herausgebern Markus Miessen und Yann Chateigné nicht notwendig, sich um ein vertieftes Verständnis des Feldes zu kümmern, das durch sie neue Impulse erhalten soll. Die «Innovation» des Projekts besteht entsprechend auch vor allem im Ignorieren des Unterschieds zwischen einer Ablage in der Verfügung einer für die Entstehung derselben verantwortlichen Person oder Stelle und der Archivierung dieser Ablage mit dem Ziel ihrer Sicherung und Bereitstellung für Dritte. In anderen Worten: zwischen einer privaten Praxis des Informationsmanagements und einer, die auf die nachhaltige Ermöglichung einer möglichst vielfältigen Nutzung von Archivgut durch eine möglichst breite Öffentlichkeit zielt. Auf diese Weise trägt die Publikation entgegen der verkündeten Intention weniger zu neuen Impulsen bei, sondern vertieft vielmehr den «Graben wechselseitiger Missverständnisse» zwischen einer theoretisch inspirierten Rede vom Archiv und der institutionellen Praxis der Archive, den es eigentlich zu überbrücken gälte.[5]
Ohne ihre institutionelle Rahmung ist Archivierung im engen oder auch im weiteren Sinn kaum sinnvoll zu denken. Als auf Langfristigkeit angelegte Praxis ist sie angewiesen auf entsprechende Formen gesellschaftlicher Organisation. Wenn die im Bereich der künstlerischen Forschung gerne vorgenommene Neuperspektivierung des Archivischen tatsächlich in eine Veränderung der archivischen Praxis resultieren soll, darf das Institutionelle nicht bloss als Instrument der sozialen Kontrolle und als Mittel gesellschaftlicher Stabilisierung verstanden werden. Es gilt genauso den «schöpferischen» Aspekt der Institutionalisierung in den Blick zu bekommen. Die Institution ist weniger als Hülle oder Grenzsetzung, sondern vielmehr als Handlungsmodell zu verstehen.[6] In den Worten des Soziologen Robert Seyfert: «eine Anordnung heterogener Elemente, ein Agens, das einen sozialen Effekt hervorruft».[7] Die von Institutionen hervorgerufenen sozialen Effekte sind dabei nicht zwingend stabilisierender Natur, sie können ebenso Momente des Aufbrechens des Repetitiven und Momente des Übergangs vom Geschlossenen zum Offenen beinhalten. Bedeutungen und Möglichkeiten des Archivs als demokratischer Institution erschliessen sich eher in dieser Perspektive als mit Begriffen einer Institutionskritik, die primär aus der Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen des Museums gewonnen wurde.
Ein immer noch sehr lesenswerter Beitrag für eine entsprechende Perspektive auf das Archiv als Metapher und Modell einer politischen Kultur stellt der Essay «Potentialität und öffentlicher Raum» von Bart De Baere dar, der vor 15 Jahren im Rahmen des auf die gleichnamige Ausstellung im Kunstraum der Universität Lüneburg folgenden Buchprojekts Interarchive publiziert wurde.[8] De Baere, damals Berater des flämischen Kulturministeriums im Bereich Kulturerbe und Gegenwartskunst, beschreibt die Schwierigkeit des Archivs als Institution im Rahmen einer Kulturpolitik, die allein auf messbaren Output ausgerichtet ist. Gegenüber der Unmenge an Archivmaterial und der grossen Anstrengungen, die das Archiv permanent erfordere, befinde sich seine Nutzung dabei auch im besten Fall stets am Rande des Unzureichenden. Diese Situation wendet De Baere nun dahingehend, dass das Archiv zum Modell wird, mit dessen Hilfe die gesellschaftliche Rolle kultureller Institutionen neu bestimmt werden kann. Die von den Archiven verwaltete dokumentarische Überlieferung versteht er dabei «als Repertoire der Beziehungsmöglichkeiten zwischen dem, was war, und dem, was wird».[9]
Folgt man De Baere, geht es beim Archivieren weniger um ein Bewahren von Kulturgut als Selbstzweck, als um ein Gegenwärtighalten der potentiellen Komplexität gesellschaftlicher Kontingenz – das Archiv verwaltet «potentielle Zusammenhänge» und biete sich damit einer aus Akteuren bestehenden Gesellschaft als handlungsermöglichendes Netzwerk an.
Archivische Praxis in diesem Sinn ist klar zu unterscheiden mit einer forschenden Arbeit im oder mit dem Archiv, sie zielt vielmehr auf das Ermöglichen solcher Arbeit. Darin liegt die institutionelle Bestimmung des Archivs und sein demokratisches Potential. Neue Perspektiven auf den Umgang mit einem weiter gefassten Bereich «kultureller Archive» (im Sinne von Boris Groys) sind damit weniger durch ein begriffliches Verwischen der Unterschiede zwischen Archiv, Bibliothek und Museum zu gewinnen, sondern viel eher durch ein Produktivmachen der ausgeführten «archivischen Differenz».
Das Archivwesen stellt dabei eine spezifische Form von Ressourcensystem dar, das nicht Werke, sondern eher historische «Rohdaten» verwaltet. Archivische Praxis zielt deshalb nicht bloss auf Zugänglichkeit von Archivgut, sondern auf seine Verfügbarkeit. Verfügbarkeit bedeutet dabei ungleich mehr als die Möglichkeit, sich eine kuratierte Ausstellung anzusehen, es bedeutet, Material nutzen und frei kontextualisieren zu können. Bedauerlich ist in diesem Zusammenhang, dass die Diskussion um das gesellschaftliche Potential «konventioneller» Archivinstitutionen nun fast ausschliesslich von Kulturfunktionär/innen wie De Baere geführt wird, während kritische Kulturarbeiter/innen sich in vielen Fällen auf eine Haltung zurückziehen, die primär die eigene Szene im Blick hat und den öffentlichen Gedächtnisinstitutionen im besten Fall gleichgültig gegenüberstehen. Dabei könnte gerade eine eingehendere Beschäftigung mit der spezifischen institutionellen Praxis von Archiven durchaus befruchtend wirken auf eine breiter geführte Diskussion um Überlieferungsbildung als gesellschaftlicher Praxis.
[1] «Verstreute Archive und Geschichten ohne Zentrum. Herausforderungen einer Aufarbeitung selbstorganisierter Kunstorte», Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Archives on Stage» des Schweizerischen Kunstarchivs von SIK-ISEA, 04.04.2017, https://www.hslu.ch/de-ch/design-kunst/agenda/alle-veranstaltungen/2017/04/04/verstreute-archive-und-geschichten-ohne-zentrum/.
[2] Bei der Dokumentation des Schweizerischen Kunstarchivs von SIK-ISEA handelt es sich um eine seit Mitte der 1970er Jahre bestehende systematische Sammlung von Presseberichten, Flyern und Einladungen. Vgl. Philipp Messner, «Die Dokumentation zeitgenössischer Schweizer Kunst – eine Grabung», 19.01.2017, http://www.isotype.ch/home/dokumentation-sik.
[3] Eine Ausnahme bildet das an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) angesiedelte Forschungsprojekt «Archive forschender Kunst», dass zwar ebenfalls nicht ohne gewisse Abgrenzungsrhetorik auskommt, in seiner Praxis aber gezielt eine Politik der An- und Einbindung «anderer Archive» an die Strukturen bestehender Gedächtnisinstitutionen verfolgt: https://www.zhdk.ch/forschungsprojekt/431911.
[4] Markus Miessen / Yann Chateigné (Hgs.), The Archive as a Productive Space of Conflict, Berlin, 2016.
[5] Vgl. Marcel Lepper / Ulrich Raulff (Hgs.), Handbuch Archiv: Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart, 2016, S. VII.
[6] Vgl. Robert Seyfert, Das Leben der Institutionen: Zu einer Allgemeinen Theorie der Institutionalisierung, Weilerwist, 2011, S. 20.
[7] Ebd., S. 20.
[8] Bart De Baere, «Potentialität und öffentlicher Raum: Archive als Metapher und Modell einer politischen Kultur», in: Interarchive, hrsg. von Beatrice von Bismarck et al., Köln, 2002, S. 447–455.
[9] Ebd. S. 450.