Gleichsam als Prélude für das Symposium Was ist Kritik? intonierte der französische Philosoph Jean-Luc Nancy mit seinem Vortrag Unser Zeitalter ist nicht mehr das eigentliche Zeitalter der Kritik im Berliner Theater Hebbel am Ufer (28. Januar 2016) unter anderem die Frage nach der Relevanz von Kritik angesichts der globalen Krisen des Kapitalismus. Wie verhält sich Kritik dabei zu Macht, welche Möglichkeiten hat sie, mehr zu sein als eine subjektive Form von Fortschrittskritik, die längst nach neuen Narrativen verlangt?
Das Symposium selbst, das zwei Tage lang im stets gut besuchten N.B.K. stattfand, begann mit einem «Statement» des Berliner Philosophen Marcus Steinweg, der den diskursiven Rahmen für die dann folgenden Einzelvorträge absteckte. Steinweg unterteilte seinen in das Thema einführenden Beitrag in drei Abschnitte: 1. Was ist Kritik?, 2. Wie kann eine Kritik der Kritik aussehen? Und 3. Wie verhält sich Kritik zu Affirmation? Kritik, so vereinfacht Steinweg explizit, sei ein Denken der Welt, die diese als «Realität» infrage stellt. Die Kritik der Kritik zeichne sich dadurch aus, dass sie sich bewusst sei, der Überkomplexität der Welt nicht gerecht werden zu können, dass sie so zum Beispiel nie angesichts des zu Kritisierenden über einen wirklichen «Überblick» (Steinweg) verfüge. In diesem Zusammenhang erinnerte Steinweg an den Unterschied von «Wahl» und «Unterscheidung»: Die «Wahl» wählt aus zwischen Bestehendem, die «Entscheidung» aber eröffnet neue Horizonte. Wegweisend für den Verlauf des Symposiums war vor allem Steinwegs daran anschliessende Erläuterung zum Verhältnis von Kritik und Affirmation, geht er doch davon aus, dass jede Kritik affirmativ sei, dieses nämlich in dem Sinne, dass diese stets zwar urteilend gegen den Strom der Welt schwimmen könne, dieses allerdings nur, wenn sie sich in diesem Strom bewege, quasi im Diesseits der angenommenen Realität. Ein mögliches Aussen also scheint keine Option (mehr) zu sein.
Diese Dominanz der Realität bestimmte dann also wichtige Zentren der folgenden Einzelvorträge. So zum Beispiel Thomas Hirschhorns fast schon pädagogischen Ausführungen zu seinem eigenen künstlerischen Werk. Der Schweizer, er war der einzige bildende Künstler, der mit einem Vortrag am Symposium teilnahm, erläuterte anhand seiner Collagen und neueren ‹Pixel-Arbeiten› sein Verständnis von einem vom ihm aufzubauenden «kritischen Körper» (Hirschhorn). Dieser Körper sei nicht nur kritisch, er sei auch zu kritisieren, da er sich in einem kritischen Zustand befände. Und er bewege sich zitternd, schwebend und selbstbewusst behauptend in der Welt. Letzteres vor allem deswegen, weil Hirschhorn in seiner Arbeit stets auf Elemente der bestehenden Realität zurückgreife. Aus diesen Elementen stelle er dann als Künstler seine visuellen Bildwelten zusammen, mit ausdrücklicher «Kopflosigkeit» (Hirschhorn) und mit hohem Risiko. Auch wenn Hirschhorn hofft, so, etwa im Medium der Collage, Neues zu schaffen, so schwimmt er dennoch mit seiner Kunst im Strom unserer postmodernen Bilderflut mit, überaus kritisch zwar, aber dennoch abhängig von der Auswahl aus diesen Bildern.
Die in Jerusalem lehrende Soziologin Eva Illouz ging mit ihrem Vortrag so weit zu behaupten, dass es dem Kapitalismus nicht nur gelänge, Emotion in Ware umzuwandeln, sondern auch genau deswegen zu bestimmen, wie wir Sachverhalte beurteilen. Kritik verbleibt so auch hier explizit in dem den Menschen determinierenden Rahmen des real-existierenden Systems, das «Jenseits» (Illouz) eines alternativen Lebens wird so nur im Kontext herrschender Ökonomie als Möglichkeit bedacht. Spätestens hier lässt sich fragen, ein widersprechender Einwand aus dem Publikum warf prompt dieses Problem auf, ob es sich bei dieser Emphase der Macht des Bestehenden nicht um so etwas wie einen vorauseilenden Gehorsam handelt, der dem globalisierten Kapitalismus (ungewollt) in die Hände spielt.
Der Vortrag von Sabeth Buchmann, Professorin für Kunstgeschichte an der Akademie der Künste in Wien, war der einzige, der sich während des durchaus spannenden zweitägigen Symposiums im engeren Sinne mit Kunstkritik auseinandersetzte. Sie argumentierte dezidiert gegen eine Form der Kritik, in der Fakt und Fiktion ein virtuoses Spiel miteinander treiben, die dabei aber soziale Komplikationen gezielt ausblendet, wie ihrer Meinung nach des Öfteren in der sogenannten «postnormativen» Kritik. Buchmann stellte stattdessen die rhetorische Figur des «polymorphen Sprechens» (Buchmann) in das Zentrum ihres Vortrages, denn dieser Figur vermöge aus unterschiedlichsten Perspektiven zugleich, die für sie für eine Kunstkritik entscheidenden Fragen des «Wann, wo, wozu, was, wessen» (Buchmann) zu stellen. Diese Fragen nämlich werfen die prekären Implikationen von Kritik mit Macht und Gesellschaft auf, die ja schon Michel Foucault in seiner dem Symposium den Namen gebenden Vortrag Was ist Kritik? 1978 in die Diskussion einbrachte, als er die «kritische Haltung» als eine definierte, die versucht den «Regierungskünsten» «zu misstrauen, [sie] abzulehnen, sie zu begrenzen». Doch trotz dieses systemkritischen Ansatzes betonte bekanntlich auch Foucault, dass die Kritik «gleichzeitig Partnerin und Widersacherin» sei.[1] «Partnerin» des Systems sei die Kritik, so Buchmann, weil sie heute Teil der kapitalistischen Logik sei, so würden selbst in der Werbung noch Elemente von Kritik zu finden sein. Kein Zufall war es dann auch, dass zu den von ihr ausgesuchten Beispielen einer Kunstkritik des polymorphen Sprechens auch die Strategie des «Camp» zählte, die Susan Sontag in ihrem Aufsatz Notes on Camp 1964 analysierte. Denn diese Strategie ist eben auch durch das Uminterpretieren bereits bestehender ästhetischer Formulierungen charakterisiert. Es gilt also wiederum: Im Strom kritisch gegen den Strom schwimmen.
Ein unschönes Beispiel dafür, dass Kritik tatsächlich vollständig in kapitalistischer Logik aufgehen kann, war der das Symposium beendende Auftritt des Schriftstellers Maxim Biller. Dieser nämlich vermochte nicht mehr als eine marktgerechte Form der Selbstpromotion beizusteuern, die sich in postpubertärer Provokation à la «Wer schlecht sitzende Jacketts trägt, kann kein guter Kritiker sein» erschöpfte. Und er war der einzige Symposiumsteilnehmer, der nicht eine Minute länger reden wollte, als er bezahlt werden sollte.
Trotz dieses Ausrutschers war das Symposium insgesamt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema, diese meist auf hohem Niveau. Schade nur, dass radikalere Formen von Kritik, solche, die ein Leben jenseits des real-existierenden Systems für denkbar halten und daran auch konkret arbeiten, man denke etwa nur an die Occupybewegung, von allen Teilnehmer/innen akademisch-brav ignoriert wurden.
Der zweite Teil des Symposiums findet am 1. und 2. April am Institute for Contemporary Art Research an der Hochschule der Künste in Zürich statt.
[1] Foucault, Michel. Was ist Kritik?. Übersetzt von Walter Seitter. Berlin: Merve 1992, 12.