In Claire Denis’ Film Beau Travail gibt es eine Szene, in der die Legionäre mit voller Wucht aufeinander zurennen, um sich in die Arme zu springen. Die entblössten Oberkörper klatschen hart aneinander und umfangen sich gleichzeitig voller Zärtlichkeit. Minutenlang hält die Kamera auf diese Choreografie harter Soldatenkörper, deren Routine weich wird und der Kameradschaft etwas Homoerotisches verleiht. Diese Szene kommt mir inmitten von Daphne Ahlers Ausstellung Die Langstreckensängerin in den Sinn, wahrscheinlich getriggert durch eine Architektur der Körper (statt des Raumes), welche die Künstlerin hier realisiert. Auf dünne Stangen gesteckte Schaumstoffzylinder, jeweils individuell drapiert oder eingekleidet, verteilen sich im Raum und erinnern sowohl an Boxsäcke als auch an Torsi. Sehr schön ist, dass zwischen diesen Polen eine Festlegung nahezu unmöglich ist. Gelegentlich sind körperliche Features angelegt, während bei anderen eine Anthropomorphisierung geschieht. Konkret hat beispielsweise Common Myth (2019) über den gesteppten weissen Baumwollüberzug ein Paar weiblicher Brüste geschnallt. Das Gegenteil ist der Fall bei Privacy of a Face (2019), bei dem der Zylinder aus Schaumstoff in gerafften braunen Pannesamt eingehüllt ist, der oben mit zwei Schlitzen und einem Knoten die Andeutung eines Gesichts aufwirft. Jedenfalls stellen die wie auch immer gearteten Figuren oder Figurinen eine Körperlichkeit aus, die auf verschiedene Weisen Berührung thematisiert. Zunächst über die Stimulierung eines taktilen Blicks, schliesslich schmeicheln gerade der mehrfach verwendete Pannesamt und der Samtjersey dem Auge und verführen zur Berührung. Dieser Konnex von Auge und Hand wird in der Ausstellung über die Arbeiten Screen (beige) und Screen (grau) (beide 2018) explizit gemacht: Beide Skulpturen stellen eine Art Bildschirm aus Samt dar, der sich jeweils mittig zu starken Falten rafft. Diese Verschaltung von Seh- und Tastsinn schafft eine starke sensuelle Aufladung, die Distanz abbaut, aber auch den eigenen Körper in die Rechnung aufnimmt.
Eine taktile Erfahrung findet hier unmittelbar statt; die Figuren/Figurinen können berührt werden. Sie beginnen dann auf ihren drehbaren Metallstangen zu tanzen, bis sie sich langsam wieder in ihre Grundposition gependelt haben. Interessant ist Daphne Ahlers Verwendung von Stoff oder Mode im weitesten Sinne. Bei Muskelkleid (2019) etwa ist der Schaumstoff mit weissem Baumwollfeinripp überzogen, wie man ihn mit bierbäuchigen Männerkörpern in Verbindung bringt. Darüber liegt cremefarbenes Badefutter, das in seiner Transparenz an Chiffon erinnert. Zwischen Badefutter und Feinripp finden sich acht Wattepolster, die so etwas wie eine Bauchmuskulatur andeuten, aber sicherlich keinem Körperideal folgen. Die aufgeworfene Körperlichkeit ist wegen der Kreuzung von Feinripp und Chiffon extrem diffus, Geschlechtercodes rutschen ineinander, interessanterweise ausschliesslich bei Stoffen, welche zumeist direkt auf nackter Haut getragen werden. Als weiterer, eigentlicher Clou kommt hinzu, dass die Stoffe nicht verhüllen, sondern auch immer den Körper meinen bzw. Körper sind. Diese Nivellierung von Haut und zweiter Haut fällt bei Muskelkleid auf, da sie in den anderen Arbeiten subtiler stattfindet. Man nehme etwa Luxury of Shame (2019), bei der eine Hülle aus himbeerfarbenem Cord Falten wirft. Durch die Falten wurden verschiedene Intimpiercings gestochen, an denen Strass besetzte Skorpione und Totenköpfe baumeln. Von Kleidung kann also nicht gesprochen werden (oder zumindest nicht immer), wenn die zahlreichen Faltungen durch die Piercings plötzlich als Vulvas sichtbar werden. Klar, es könnte sich um eine Projektion des Betrachters handeln, zusätzlich unterstützt von den Screens, deren gekräuselten Faltungen diese Lesart eindeutig kitzeln und überhaupt eine erotische Aufladung in die Ausstellung reinbringen, Beau travail nicht unähnlich. Den Verweis der beiden Screens auf Courbets Der Ursprung der Welt, die sich dadurch öffnet, spielt Ahlers ziemlich gewitzt aus. Denn durch das Zusammenfallen von Vulva und Vorhang, Geschlecht(sbild) und Verhüllung, wird über Courbets ikonisches Bild vor allem betont, dass das weibliche Geschlechtsteil (als Bild) lange nur verhüllt, z.B. durch ein Bild André Massons, gezeigt werden konnte.
In Bezug auf Geschlechtlichkeit zieht Ahlers häufig solch eine humorvolle Ebene ein, die meiner Meinung nach vor allem in der Übersetzung sprachlicher Bilder funktioniert. So hängen an der Figur Spiesser (2019) am unteren Ende des Torsos einige Tennisbälle, die sich durch den Lycrastoff abzeichnen – «balls» eben. Common Myth hat an ähnlicher Stelle zwei opulente Ohrringe mit grossen Steinen, wodurch eine Unterscheidung von «Kronjuwelen» und «Schmuckkästchen» (umgangssprachliche Bezeichnungen für das männliche bzw. weibliche Geschlechtsteil) nicht final getroffen werden kann. Ausgesprochen klingt das extrem platt, allerdings stellt es sich so absolut nicht dar, da dieser dreckige Humor sich einerseits nicht so schnell aus den Arbeiten lösen lässt und andererseits extrem gut mit dem Billo-Chic der Materialen korrespondiert (die in dieser feinen Verarbeitung an die Mode von Wendy Jim erinnert, deren Kollektionen übrigens auch auf Geschlechtergrenzen balancieren). Im Falle von Luxury of Shame, das einen Popschutz (für Mikrophone) vor die Unterkante des Torsos montiert hat, poppt im Kopf sofort das Wort «Erdbeermund» als Vokabel weiblicher Bodypositivity auf, die den zahlreichen pejorativen Spitznamen für das weibliche Geschlechtsteil eine positive Alternative an die Seite stellt. Wobei der Farbton eher Himbeer ist. So stumpf diese Denkbewegungen klingen, hilft die Auflösung der Arbeiten in Sprache ungemein beim Verständnis derselben, so dass die Annahme, Ahlers könnte denselben Weg andersherum gegangen sein, durchaus plausibel scheint. In jedem Fall ermöglicht diese Versprachlichung einen sichtbaren Bezug zwischen dem Ausstellungstitel Die Langstreckensängerin und den gezeigten Arbeiten.Sowieso erinnert der eigentümliche Ausstellungstitel (der Text zur Ausstellung spricht von der Langstreckensängerin als «eine an sich schon paradoxe Figur, da der Gesang niemals soweit reichen kann wie es die Langstrecke andeutet») daran, dass Ahlers Arbeiten bislang häufig von Narrativen gestützt wurden, wie z.B. dem von der Unbekannten aus der Seine oder der Geschichte eines schottischen Hexenbrunnens, was inzwischen allerdings nur noch stark fragmentiert passiert. Der Titel markiert einen Rückzug aus dieser narrativen Absicherung, da er keine direkte Erzählung transportiert. Vielmehr zielt er mit einem feministischen Wortspiel auf den Begriff Langstreckenläufer: Er gilt als männlich, willens- und leistungsstark, Sieger über den inneren Schweinehund, hart zu sich selbst und anderen. Der Marathon als die Sportart des harten Managermannes, des funktionalen Psychopathen. Althergebrachten Mustern scheinbar folgend, mobilisiert Ahlers ein überkommenes Klischee und stellt der aktiven männlichen Figur ein passives Weibsbild entgegen. Denn die Langstreckensängerin ist, gerade mit Luxury of Shame im Hinterkopf, höchst ungewollt aktiv – obwohl eigentlich passiv, trällert sie (oder ihr Erdbeermund) als ewig lockende Frau, krakenarmige Kirke, angeblich Langstrecke. Formal entsprechend brauchen die Figurinen auch immer einen Beweger, der sie anstösst. Selbstredend betreibt die Künstlerin das absolut nicht als Akzeptanz solcher Muster, sondern als komplette Ironisierung solch gegensätzlicher Geschlechterkonstruktionen, wie sie sich formal zum Beispiel in der Unauflösbarkeit von Kronjuwelen/Schmuckkästchen findet. Wobei sie Passivität deutlich goutiert, allerdings nicht als schlechteren Counterpart von Aktivität, sondern als nachgiebige und durchaus body-positive Abgrenzung zu einer autodestruktiven Testo-Härte, von der man sich zurückbiegt, nur um unverrückt zurück auf die eigene Position zurückzukehren. Diese Haltung lässt sich zumindest aus Ahlers formalem Register ableiten, das Weichheit und Elastizität vorantreibt, womit sie auch ein hartes und durchtrainiertes Körperbild zugunsten eines hedonistischen Körperkultes zurückweist. Gesang statt Training! Und doch ist diese Weichheit als Haltung keine Kapitulation, sondern durchaus als wehrhafte Alternative zu verstehen. Als weiche Umarmung, die wie in Beau Travail auch als Klammergriff durchgehen kann.