Der Raum, in dem ich stehe und den ich betrachte, trägt Spuren, die über die Zeit, die ich sehe, hinausweisen. Da ist zunächst ein blaugrauer, abgeriebener Teppichboden, an dessen Kanten sich ausfransende Wände anfügen. Diese Wände tragen Materialien menschlichen Lebens, Schichten aus Tapete, Putz und Leim, die sich auftürmen und ähnlich der Jahresringe eines Baumes übereinanderlegen. An einer Stelle zeigt der nunmehr in dunklem Grün gestrichene Raum eine rechteckige Fläche, die durch die Spuren von kreisenden Schleifbewegungen ein Farbrestemuster aus Grau, Weiß und Sandgelb aufscheinen lässt. Ein Kabelschacht, der wie eine Brücke über den Heizkörper führt, liegt frei. Und auch an der Decke des Raumes zeigen sich allerhand Baumaterialien wie Schrauben, die Halterungen für die Gitterkonstruktion der noch vorhandenen Rasterleuchten oder Perforationen gebohrter Löcher, bauliche Einpassungen in den Ecken und gezeichnete Markierungen, die den Raum in einer ehemaligen Nutzung definieren sollten.
Bea Schlingelhoff hat den Showroom des Neuen Berliner Kunstvereins n.b.k. in seinen vormaligen baulichen Zustand rückversetzt: Durch die Freilegung des Bodenbelags, den Rückbau der Wände und der hiermit einhergehenden Öffnung der Fensterfront zur Chausseestrasse hin hat Schlingelhoff eine Situation geschaffen, die nicht nur die vorherige Nutzung des Raumes als Büro kenntlich werden lässt, sondern auch durch die Fenster den Blick auf eine Stadt freigibt, die sich ganz ähnlich der Dicke der Farbschichten im Raum im Laufe der Jahre ein anderes Gesicht zugelegt hat, seitdem der n.b.k. hier in Berlin-Mitte liegt – wo er 1994 aus Charlottenburg hinzog, um bewusst näher an der ehemaligen innerdeutschen Grenze verortet zu sein.
Durch Schlingelhoffs künstlerische Setzung sind nun etwa auf der gegenüberliegenden Straßenseite bei einem Haus die Fensterrahmen aus Holz sichtbar, deren weiße Farbe abbröckelt und durch die vergraute Spitzengardinen sichtbar werden – während ein direkt angrenzendes und mit einem Baugerüst verkleidetes Haus die frisch verputzte Fassade neben einem Schuttcontainer zeigt. Sichtbar wird im städtischen Raum ein sozioökonomischer Strukturwandel, von dem im Innenraum die Reste der Einbauten eines Ortes des Planerisch-Organisatorischen eines ehemaligen Bürohauses künden.
Bea Schlingelhoff (geboren 1971, lebt und arbeitet in Zürich) schafft mit ihrer Ausstellung Accounting Confessions die Möglichkeit, in verschiedene Richtungen der Zeit zu blicken und menschliches Handeln in von Menschen gemachten Gefügen zu durchleuchten. Zentral für ihre Arbeit ist die Auseinandersetzung mit einem konkreten Ort sowie den Strukturen, die diesen begleiten. So richtet Schlingelhoff über das Entkleiden des White Cube einer auf das Zeigen, Besprechen, Sammeln, Vermitteln und Entleihen von Kunst spezialisierten Institution in einem weiteren Schritt den Blick auf die internen Gefüge, und zwar auf die Bankkonten des Neuen Berliner Kunstvereins e.V. und der Neuen Berliner Kunstverein n.b.k. gGmbH. Zwei an der Wand in Metallrahmen angebrachte und in Tusche ausgeführte Schriftbild-Zeichnungen verweisen in englischer und deutscher Sprache darauf, dass mit dem Beginn der Ausstellung Accounting Confessions zwei neue Konten für den n.b.k. bei einer konfessionslosen Bank eingerichtet worden sind, und zwar ein Konto für n.b.k.-Mitglieder und Sammler*innen, um Mitgliedsbeiträge, Editionskäufe und andere Zahlungen vorzunehmen; sowie ein Konto für Künstler*innen für Finanzläufe, die im Rahmen von Ausstellungen und Projekten anfallen. Bea Schlingelhoff hebt mit ihrer grafischen Setzung hervor, dass die Geschäftskonten des Neuen Berliner Kunstvereins bei einer konfessionellen Bank geführt werden. Implizit ist der Informationsgabe ihrer Bilder wie beispielsweise mit der Formulierung, dass «Künstler*innen jetzt bis auf Weiteres auch das Konto einer konfessionslosen Bank nutzen» können, ein diskursives Denken: Welche Auswirkungen hat es für den Geldfluss und die Kunst, wenn eine die Kunst vertretende Institution mit einer Bank arbeitet, der römisch-katholische Wertvorstellungen zugrunde liegen? Schlingelhoff fokussiert auf Mechanismen von Inklusion und Exklusion: Welche Strukturen unterstützt ein solches Finanzinstitut und wer oder was wird ausgeschlossen? Welche widersprüchlichen Lebenskonzepte und Werte begegnen sich gar über den Geldfluss zwischen mir und (m)einer Kreditgenossenschaft? Wie lassen sich die Anlage- und Investitionsleitlinien einer Bank, die sich etwa gegen die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen oder die Produktion von nidationshemmenden Verhütungsmitteln ausspricht, vereinen mit einer emanzipatorischen Haltung von Künstler*innen und ihren Lebensrealitäten? Brauchen wir ein laizistisches Modell für die Kunst?
Die für die Ausstellung Accounting Confessions substanziellen Gedanken Schlingelhoffs nahm der Geschäftsführer, Direktor und Kurator der Neuen Berliner Kunstverein n.b.k. gGmbH, Marius Babias, auf und hat der Eröffnung von zwei neuen, nun zusätzlich eingerichteten Konten für den n.b.k. bei einer konfessionslosen Bank zugestimmt, die seit dem Tag der Eröffnung der Ausstellung am 13. September 2023 genutzt werden können. Von jenem Konto für Künstler*innen etwa sind bisher Transaktionen im Rahmen der Ausstellungsumsetzung von Accounting Confessions wie die Zahlungen von Materialkosten oder von Honoraren ausgeführt worden. Marius Babias gewährleistet das Fortbestehen dieser Konten, solange er am n.b.k. tätig ist, wie er mir beim gemeinsamen Besuch der Ausstellung in Berlin erzählt. Hierbei entsteht auch die Überlegung, als Geste einen Teil meiner Reisekosten als freiberufliche Autorin vom neu eingerichteten Künstler*innenkonto zu erstatten. Babias’ Haltung, den von Schlingelhoff gegebenen Impuls in der Struktur des n.b.k. zu verankern, kommt dem Anliegen nach, das die Arbeiten der Künstlerin grundlegend begleitet: eine künstlerische Intervention nicht nur in Bezug auf die Dauer einer Ausstellung zu denken, sondern die im Kontext einer Ausstellung erarbeiteten Aspekte und hervorgebrachten Gesten nachhaltig wirksam werden zu lassen. Bea Schlingelhoffs künstlerisches Handeln beinhaltet, Alternativen einer Institution in Betracht zu ziehen mit der Überlegung: Wie lassen sich institutionalisierte Strukturen im Kunstsystem grundsätzlich anders denken? Oder umgekehrt, was kann künstlerisches Handeln über das reine Bespielen eines Ausstellungsraumes hinaus bewirken, wie kann es den institutionellen Rahmen weiten, Strukturen lösen oder gar ein Umdenken alltäglicher Lebenspraxis auslösen? Welche Erkenntnisse lassen sich durch Bekenntnisse gewinnen?
Der von Bea Schlingelhoff freigelegte Showroom im n.b.k. gibt sich karg. Doch gerade in seinem archäologisch-staubigen Erscheinungsbild lädt er dazu ein, zu betrachten, den Ort und sein Umfeld wahrzunehmen, das Leben, das draußen in einer Zeitkapsel festhängt oder vorbeizieht. Dieser Zustand des Rezipierens erlaubt auch einen Blick in sich selbst hinein, in die eigenen gewachsenen oder abgetragenen Lebensstrukturen: (vermeintlichen) Dogmen ein Zugeständnis zu schenken, das in davon befreiende Handlungen münden könnte.
Bea Schlingelhoff, Accounting Confessions, Neuer Berliner Kunstverein, Berlin, 14. September 2023 bis 12. Januar 2024.