Ähnlich wie der doppelte Blick der Meditation wird in Not Titled Yet (2020) ein (Hin-)Schauen und gleichzeitig In-Sich-Kehren sichtbar gemacht. Links daneben hängt ein fast quadratisches Siebdrucknetz, auf dem eine schwarze Linie mit vielen Schlaufen einen Bogen zieht. Wie ein paradigmatisches Zeichen, das wiederholt in Semadenis Arbeiten auftaucht, wird es hier selbstbewusst exponiert zum einzigen Bildelement. Schnörkel-Linien, weit auslaufende Linienschwünge und kleinteilige Kritzeleien prägen die Malereien, welche die Ausstellung dominieren. In diesen Malereien durchziehen Linienverläufe den ganzen Bildraum, andere kleinteilige Strukturen halten sich selbstverloren an einer Bildstelle fest und scheinen die Gesamtkomposition zu ignorieren, reagieren aber manchmal auf die Gegebenheiten durch die größeren Linienzüge.
Man mag die Bilder von Linda Semadeni, die eher mit graphischen als mit malerischen Mitteln realisiert wurden – sie nutzt Kugelschreiber, Marker und Bleistifte mehr als Pinsel, die ähnlich linear eingesetzt werden – als eine konsequente Erweiterung ihrer zeichnerischen Praxis verstehen. Dieser Bezug wird besonders im hinteren Ausstellungsraum ersichtlich: Das Diptychon, ihr erster Schritt im Medium der Malerei, steht zwei Zeichnungen gegenüber, die im letzten Jahr entstanden sind. Schnörkel und schraffierte Flächen changieren in beiden Gattungen zwischen stellenhaften Träumereien und kompositorischen Entscheidungen. Außerdem ist spätestens seit der Diskursivierung von Malerei seit den 1960er Jahren klar, dass zur Identifizierung eines «paintings» lediglich eine Leinwand nötig ist und die Tools, mit welchen diese bearbeitet wird, frei wählbar sind. Besonders bei Linda Semadenis Arbeit könnte die Spraydose als eine Art Zwitterwerkzeug verstanden werden, das die Weichheit und Möglichkeit zum flächigen Farbauftrag der Malerei entlehnt und gleichzeitig die homogene Linearität eines Zeichenwerkzeugs erfüllt. Dieses Tool, die wenigen Pinselzüge, aber besonders die Leinwand machen diese Strichbilder zu Malereien.
Erste mit dem Pinsel gemalte Farbflächen finden sich bei Sie liegen und hängen neben uns und wir sehen durch sie durch (2020). In der unteren rechten Bildecke treffen Farbfelder aufeinander, die wiederum mit gesprayten und gezeichneten Kringellinien interferieren. Manchmal zieht die Künstlerin eine gesprühte Linie mit einem Marker nach, ein anderes Mal tilgt sie eine gezeichnete Linie mit der Spraydose. Wie Notationen ziehen sich Schnörkel, Geschmiere, deltahafte Ausfransungen und Krickelkrakel uneinheitlich durch die zweidimensionalen Arbeiten. Ähnlich wie Roland Barthes resignierend bei Twomblys Kringeln bemerkt, handelt es sich auch bei Semadenis gestenhaften «markings» nicht um Chiffren, die sich entziffern lassen. Im Unterschied zu Twombly suggerieren Lindas Striche nicht den Anschein von Lesbarkeit, sondern es sind Spuren einer Herangehensweise, die zusammengenommen die Beurteilung hinterfragt, was als gelungene Linie bzw. Malerei gilt. Die roten Häkchen in der oberen linken Ecke sind allgemeingültige Zeichen eines Bewertungssystems, sie reflektieren die darunterliegende Sprühlinie, die wiederum durch das seitliche Wegdrehen der Spraydose ein unentschlossenes Ende findet und einfach verpufft. Nicht zuletzt entdeckt man in den silbernen Linien des dritten Gemäldes einen geschriebenen Satz, dessen zweideutige Interpretation sich wie ein Kippbild lesen lässt, wenn man die Linien überhaupt als Buchstaben erkennen möchte. Das aktive Zulassen von verträumten Schnörkeln als wiederholte Bildelemente muss als progressive Entscheidung Semadenis gelesen werden, verspielte No-Gos in ihre Malerei aufzunehmen, ohne selbst eine Hierarchie zwischen Kritzelei und malerischer Geste zu entwerfen.
Die kleine Skulptur Model (2019), unauffällig auf einer Fensterbank der Galerie inszeniert, spiegelt Semadenis Vorgehensweise wider. Bei dem würfelartigen Gebilde gibt es kein oben und kein unten. Es lassen sich lose Systeme von Ordnung finden, und Gebissabdrücke an den Eckseiten sind indexikalische Spuren von einem verzweifelten Umgang mit den (immer auch selbst gesetzten) grenzbestimmenden Elementen des Objekts.
Die Ausstellung in der Galerie Kirchgasse ist von einem Ausloten medialer Grenzen geprägt: Welche Einschränkung bedeutet das Format oder das Werkzeug? Wann ist eine Linie vorbei und wie wird eine künstlerische Entscheidung gelesen? Dieses Ausloten pendelt immer wieder zwischen Makro- und Mikroebenen, einer physischen und konzeptionellen Ebene, zwischen selbstbewusst ausgeführten Kritzeleien und selbstreflexiven Interaktionen. Jedes Format, jede Linie ist eine Grenzmarkierung und wird von der Künstlerin befragt, ohne dabei jedoch qualitative Bewertungskriterien anzuwenden. Wie bei der Meditation entwerfen Linda Semadenis Arbeiten in der Ausstellung Scripts eine souveräne Selbstverlorenheit, die die Künstlerin aber immer wieder destabilisiert.