Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer mussten einen Vortrag halten, etwa über spiegelnde Glasuntersetzer, die das Trinkwasser reinigen (mein Sitznachbar), oder über den Theaterautor Heiner Müller (ich, weil ich damals gerade an einer kleinen Publikation zu Müller arbeitete, abends, weil ich tagsüber im Kurs sein musste). In einem Einzelgespräch sagte die Kursleiterin eben jenen Eingangssatz. Und jetzt muss ich tatsächlich manchmal an sie denken.
Das ist kein Zufall. Denn genauso, wie solche Kurse wohl ehrlich helfen sollen, aus der Arbeitslosigkeit herauszufinden, sorgen sie auch dafür, dass ich nicht so schnell wieder zurückfinden will: Meine eigenen Erfahrungen und die von Freundinnen und Freunden suggerieren, dass in diese Kurse bisweilen Abschreckungsmomente eingebaut sind – «Sie werden noch an mich denken!» –, um die Arbeitslosigkeit nicht zu angenehm werden zu lassen. Bei Mitchell Anderson war das auch nicht anders: Der Künstler (geboren 1985) hat auch ein solches Programm zur Beschäftigungsförderung besuchen müssen. In Baar, weil der in Chicago geborene Anderson im Kanton Zug angemeldet ist, seit er 2008 in die Schweiz gekommen ist. Während dreieinhalb Monaten hat er dort Kunsthandwerkliches geschaffen, und zwar ebenfalls ganztags. Mitchell Anderson hat nun selbst dafür gesorgt, dass er immer an diesen Kurs zurückdenken wird: Er hat nämlich aus den darin entstandenen Dingen die Einzelausstellung as mountain winds in der Fri Art Kunsthalle Fribourg entwickelt.
Ich, als Geisteswissenschaftler, musste meine Bewerbungsunterlagen optimieren. Der Künstler Mitchell Anderson musste Fuchsmasken ausschneiden, einem Karton-Garfield eine Kartonlasagne zwischen die Kartonpfoten klemmen oder aus einem zerbrochenen Spiegel eine Discokugel fertigen. Was ein Künstler oder eine Künstlerin halt so macht – gemäss einem veralteten, sich aber immer noch hartnäckig haltenden KünstlerInnenbild. Dabei macht Mitchell Anderson sonst zum Beispiel Readymades, für die er – AnhängerInnen des veralteten KünstlerInnenbildes halten das heute noch für einen Skandal – selbst keinen Finger rührt. Eine Edition für Brand New Life – sie ist schon fast ausverkauft – besteht aus dem Kartondeckel eines Abfallbehälters für alte US-Flaggen. Nun kommt noch das «RAVmade» hinzu: Der Künstler hat die Gegenstände, die er und seine KurskollegInnen in der Halle44, einer Zuger RAV-Initiative, hergestellt haben, zum Teil zurückgekauft und stellt sie im Fri Art auf tiefen Holzpodesten aus.
Ich werde noch an diese Ausstellung zurückdenken. Weil sie mich beschäftigt – und weil sie mich irritiert. Sie beschäftigt, weil Mitchell Anderson mit einer entwaffnenden Offenheit die Realitäten des Daseins von Künstlerinnen und Künstlern anspricht. Im Gegensatz etwa zum Theater und zum Tanz, wo es durchaus möglich scheint, eine Karriere auch ohne Kunstmarktimmersion und ohne unzählige Nebenjobs zu verfolgen, erlaubt es die Betriebskultur in der Bildenden Künste ihren ProtagonistInnen nach wie vor kaum, in Ruhe künstlerisch zu arbeiten. Mitchell Anderson – er hat selber schon in Galerien gearbeitet, betreibt in Zürich-Schwamendingen den Kunstraum Plymouth Rock und betätigt sich auch kunstkritisch – macht aus der Not eine Tugend: Statt wie ich damals am Abend an der Heiner-Müller-Publikation zu arbeiten, baut er seine eigene künstlerische Arbeit nicht um den RAV-Kurs herum, sondern macht die Erzeugnisse ebendieses Kurses zu seinen eigenen Werken. Sie heissen alle «Pieces» – «Growth ring card box piece» oder «Das Leben ist schön card piece» –, um noch einmal zu betonen, dass die Karte jetzt eben ein «Piece», ein Kunstwerk ist, und nicht mehr nur eine «Das Leben ist schön»-Karte. Das Leben ist schön? Für mich sagt diese Ausstellung in ihrer letzten Konsequenz auch, dass es eigentlich nicht möglich ist, eine Ausstellung zu machen; dass wir schon so weit sind, dass das in einer Ausstellung landet, was den Künstler eigentlich von seiner Arbeit abhält. Das ist hart. Aber ein wichtiger Punkt.
Was mich irritiert: Mitchell Anderson ist nur in dieser Beziehung transparent. Am Ende ist er doch der einzige angegebene Autor, obwohl die ausgestellten Objekte mit anderen zusammen entstanden sind. Mitchell Anderson fordert das System Bildende Kunst und seine Honorarstrukturen heraus – wären diese anders gestaltet, hätte er sich, als in einer national und international bekannten Institution wie dem Fri Art ausstellender Künstler, erst gar nicht beim RAV anmelden müssen. Nicht aber deren AutorInnenkult. Schon das Duchampsche Readymade war eigentlich überheblich – ein von jemand Anderem hergestellter Alltagsgegenstand wurde zum «Piece» von Marcel Duchamp erklärt, eine nachträgliche, chauvinistische Autorisierung. Das «RAVmade» ist nur wenig anders: Mitchell Anderson hat zwar an einigen Elementen mitgearbeitet, am Ende sind aber alle sein «Piece».
Ich denke wirklich manchmal an meinen RAV-Kurs zurück, weil ich darin Menschen kennengelernt habe, die ich sonst nie getroffen hätte, weil sie sich nicht in der Echo Chamber des Kunstbetriebs oder in den anderen Blasen, in denen ich atme, bewegen. Die Menschen aus Mitchell Andersons RAV-Erfahrung könnten hier vorkommen, tun es aber nicht. Der Künstler ist wieder allein. Nicht jede künstlerische Arbeit muss inklusiv sein. Sie muss aber auch nicht so exklusiv bleiben – gerade wenn, wie hier, ohnehin Personen involviert sind, die der Künstler gut intensiver einbeziehen könnte. In letzter Konsequenz: Wenn wir – KünstlerInnen und KuratorInnen – es vorziehen, darin so allein zu bleiben wie Mitchell Anderson, können wir unsere Räume bald ganz in ‹Echo Chambers› umtaufen.
Ich werde noch an diese Ausstellung denken. Nicht zuletzt, weil sie mir bewusst macht, dass ich selber mittlerweile eine gut bezahlte Anstellung an einer städtischen Institution habe – dem Helmhaus Zürich. Und weil sie zeigt, dass nicht nur Ausstellungen eigentlich unmöglich sind, sondern in der Konsequenz auch, Künstlerinnen und Künstler zu kritisieren, die unter noch viel schwierigeren ökonomischen Bedingungen die Inhalte produzieren, die wir im Helmhaus anschliessend ausstellen. Eigentlich müsste ich jeden Tag an diese Ausstellung denken.