Heute haben sich hier Kleinfamilien zusammengerottet. Die Jugend im Wedding lästert. Umziehen ist zu teuer geworden. Wohnraum inexistent. Stattdessen ersetzen Erbengemeinschaften und ihr Wohneigentum ehemals zu humanen Preisen bewohnbaren Lebensraum und das retrospektive Gefühl grenzenloser Zügellosigkeit.
Auch davon erzählt eine in Zusammenarbeit von ifa (Institut für Auslandbeziehungen) und ARCH+ Zeitschrift für Architektur und Urbanismus, sowie unter Mitwirkung von universitären Forschungspartnerinnen aus den USA und Berlin entstandene Wanderausstellung. Ein auf zehn Jahre und seine kontinuierliche wie internationale Erweiterung hin angelegtes Ausstellungs- und Publikationsprojekt – ein Atlas of Commoning, dessen erste Station im Juni 2019 im Berliner Kunstraum Bethanien eröffnet wurde und durch ein Sonderheft der ARCH+ begleitet wird. «Facebook, Airbnb & Co., deren Geschäftsmodell auf der Kommerzialisierung sozialer Beziehungen beruht, haben Begriffe wie Community oder Sharing in leere Worthülsen verwandelt», lese ich im ausstellungsbegleitenden Pressetext. In Reaktion darauf fokussiere das Projekt auf «städtische Gemeingüter», worunter «die Schaffung und Bewirtschaftung (materieller und immaterieller) kollektiver Ressourcen und Räume als Grundlage demokratischer Teilhabe» verstanden werde. «Orte des Gemeinschaffens» – wie es in der Wortneuschöpfung der Ausstellungsmacherinnen und –macher so schön heisst. Trotz der etwas abschreckenden Diskurs-Prosa in Form einer Pressemitteilung beschliesse ich, mich via U-Bahn – diesem wohlriechenden Un-Ort einer Gemeinschaft – auf den Weg nach Kreuzberg zu machen. Vor Ort bestätigt sich, dass hier eine Ausstellung unter massgeblicher Mitwirkung sieben diskurserprobter Architekt*innen und Ausstellungsmacher*innen entstanden ist. Streng, etwas didaktisch und der Ordnung eines Katasterplans entlehnt, wirkt die Schaffung dreier thematisch wie räumlich sortierter Themenschwerpunkte («Eigentum / Zugang», «Produktion / Reproduktion», «Recht / Solidarität») – sowie die darin implizierte politische Stossrichtung des Projekts. Im mittig gelegenen Flur des Kunstraums dann die Quintessenz des verräumlichten Atlas of Commoning: 25 ausgewählte Projekte des Gemeinschaffens, die in Flyern auf Stellwänden vorgestellt und im Laufe der internationalen Ausstellungstournee unter Mitwirkung lokaler Akteur*innen ergänzt und somit als Teil eines stetig wachsenden Wissensarchivs verstanden werden sollen.
Erst im Durchwandern der Ausstellung allerdings, angesichts einzelner, auf visuell gelungene Weise präsentierter Projekte und in Ergänzung durch künstlerische Arbeiten, entfaltet das Langzeitprojekt eine gewisse frei flottierende Eigendynamik. Etwa, wenn im Rahmen des Themenschwerpunkts «Produktion / Reproduktion» die Geschichte der an Hamburgs Reeperbahn verorteten so genannten Esso-Häuser erzählt wird. Häuser, die 2009 zu Gunsten von Neubauten abgerissen werden sollte, und auf Grund anhaltender Proteste in der Bevölkerung den Investor dazu zwangen, das interdisziplinär arbeitende Kollektiv PlanBude mit einem «unabhängigen und ergebnisoffenen Beteiligungsprozess zu beauftragen». Anwohnerinnen und Anwohner waren aufgefordert, ihre Wünsche hinsichtlich einer Neubebauung zu äussern und zu dokumentieren: im Rahmen von Workshops, mittels «taktischer Möbel» und mit Hilfe von Modellen aus Lego und/oder Knetgummi. Ein etwas infantilisierend wirkendes Unternehmen, das nichtsdestotrotz dazu angelegt war, den machtvollen Akt des Investor-gestützten Bauens mit einer Art demokratischem Fundament zu versehen. Begleitet von Sylvie Kretschmars Esso Häuser Requiem (2014) – einer Performance, bei der die Künstlerin gemeinsam mit 9 weiteren Frauen Interviews mit Passant*innen, Aktivist*innen und Bewohner*innen der Esso-Häuser per Megaphon-verstärktem Chor öffentlich in Szene setzte – wähnt man sich für Sekunden an Hamburgs Reeperbahn und als Teil einer selbstermächtigten Stadt-Bevölkerung.
Ähnliches gilt für das Projekt Prinzessinnengarten, ein unweit des Bethanien gelegenes, eigenmächtig und unter Mithilfe der Anwohnerschaft bebautes, ehemals braches Areal, das mit einem dieser so schön anzusehenden, weil fein ziselierten architektonischen Modelle im Ausstellungsraum dokumentiert ist. «Ein Ort», wie es auf der erläuternden Ausstellungstafel heisst, «an dem Fähigkeiten und Wissen geteilt werden sowie alternative sozio-ökologische Visionen für die Stadt diskutiert werden». Und ein Fleck Berlin, der sich nach neun Jahren des Bestehens, Bauens, Säens, Jätens und Diskutierens zu einer Institution im Nachbarschaftsleben etabliert hat. Und sich insofern auch mit der Frage konfrontiert sieht, wie sich der emanzipatorische, bewegliche und experimentelle Charakter der Anfangszeit aufrechterhalten lässt. Fragen, die zwei der Initiator*innen auf unaufgeregt-intelligente Weise im Video-Interview mit ARCH+ thematisieren und teils unbeantwortet an die Ausstellungsbesucherin weitergeben.
Dass An Atlas of Commoning thematisch ausserdem über ein beeindruckendes historisches wie genealogisch abgesichertes Fundament verfügt, beweist neben vielem anderen auch die Dokumentation der aus dem Jahr 1968 stammenden, in Indien gelegenen Experimental-Stadt Auroville. Auf Initiative des Architekten Roger Anger wurde dieser, mit dem zentral gelegenen Bau des so genannten Matrimandirs versehene, Ort als «internationale Gemeinschaft ohne Regierung, Geld, Religion oder Grundeinkommen erdacht und ist ein andauerndes materielles und spirituelles Experiment, dessen Ziel die Einheit der Menschen in Vielfalt ist». So die Ausstellungsmacher*innen und über dieses offensichtlich utopische Urprojekt eines ‹Gemeinschaffens›, das in seiner historischen Konzeption bis heute wenig an Aktualität verloren zu haben scheint – mit einem Architekturmodell, einem Videointerview sowie einer informativen Stellwand allerdings etwas unscheinbar im allgemeinen Ausstellungsgeschehen zu verschwinden droht.
Am Ende der Ausstellung ist klar, dass An Atlas of Commoning auch eine Ausstellung ist, sich allerdings in erster Linie als durch die Welt(-Geschichte) wanderndes Wissensarchiv und Publikationsprojekt begreift. In Verbindung mit künstlerischen Projekten wie Martha Roslers Semiotics of the Kitchen (1975) erweist sich dieses Konzept als gewagt und etwas willkürlich. Im Fall des vom Chor des Hongkonger Gewerkschaftsbundes wispernd und flüsternd vorgetragenen Charity-Songs We are the World (Video von Samson Young, 2017) wiederum gelingt der intendierte Dialog zwischen Theoriediskurs und künstlerischer Praxis. Dann, wenn die Reinszenierung den von neoliberalem, popkulturellem und pseudogemeinschaftlichem Gönnertum durchdrungenen Showcharakter des Songs auf so stille und dennoch gekonnte Weise ad absurdum führt.
Dennoch wirkt das Projekt als Ausstellung insgesamt etwas unentschieden, und mit all seinen historischen Tiefenrecherchen sowie unzähligen kleinen und grossen Informationstafeln auch etwas überladen. Dass die Relevanz der ambitionierten Projektreihe, die 2019 ihre Auslandspremiere in Pittsburgh (USA) feiern soll, allerdings unhinterfragbar bleibt, zeigt sich vor allem beim Verlassen der Ausstellungsräumlichkeiten und beim Betreten der zentral gelegenen Kreuzberger Oranienstrasse. Dort, wo sich Alt-68er, Turkish-Community und hippe Stadt-Youngster ein- und dieselbe Stadtzone, und der Anarcho-Charme des Viertels mittlerweile etwas zerfahren, kulissenhaft und nur mehr uneigentlich wirkt.
Zurück bei meinen Umzugskartons muss ich selbstbeschämt an die Frau und Mutter denken, die in einem der vielen Ausstellungsvideos auf so positive und lebensbejahende Weise von ihrem Leben im Flüchtlingslager Al Fawwar im Westjordanland erzählt. Ich schliesse die letzte meiner Kisten und erkenne, dass Berlin nicht mehr mein ‹place-to-be› ist. Nicht zwingend. Und fürs erste jedenfalls.