«Invocations» der Gross-Ausstellung «Sonsbeek20->24»

Die Grossausstellung und Manifestation Sonsbeek20->24 im niederländischen Arnhem trägt den Titel Force Times Distance und beschäftigt sich mit Arbeit und ihren Bedingungen in verschiedenen geo-kulturellen Kontexten. Diese Themen werden durch die Linse des Auditiven behandelt: Verschiedene Formen des Hörens und Zuhörens decken auf, was bislang verdeckt blieb. Matthias Sohr hat die von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, dem designierten Intendanten am Haus der Kulturen der Welt (HKW) Berlin und seinem Team kuratierte Ausstellung an der Eröffnung besucht. Für seine Besprechung lotet Sohr das Potential der sogenannten Einfachen Sprache aus.
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Sonsbeek 2021

Jennifer Tee, Respire, the World Begins with Trees, 2021, Sonsbeek20->24, Courtesy die Künstlerin und Galerie Fons Welters, Foto von Django van Ardenne

‹Sonsbeek› ist der Name eines Parks in der niederländischen Stadt Arnhem. Sonsbeek ist auch der Name einer Gross-Ausstellung in Arnhem. Die aktuelle Ausgabe Sonsbeek20->24 hat wegen der Covid-Pandemie 2020 im Internet begonnen. Der Pfeil zwischen den Jahreszahlen bedeutet, dass Sonsbeek20->24 länger dauert als ein Jahr. Der künstlerische Leiter Bonaventure Soh Bejeng Ndikung nennt das alles ‹Manifestation›. Die Ausstellung Sonsbeek20->24 konnte erst im Sommer 2021 ihre Türen öffnen. Die Ausstellungs-Eröffnung und die Presse-Konferenz haben am 30. Juni in Arnhem stattgefunden. Die ersten Ausstellungs-Gäste sitzen bei der Presse-Konferenz in einem grossen Stuhl-Kreis. Alle Kuratorinnen von Sonsbeek20->24 lesen Texte vor: Amal Alhaag, Antonia Alampi, Zippora Elders, Aude Christel Mgba und Krista Jantowski.

Sonsbeek hat für Zippora Elders eine ganz besondere Bedeutung. Die Kuratorin erzählt darüber, und ich übertrage ihre Erzählung in Einfache Sprache: «Meine Eltern hatten ihre erste Verabredung im Park Sonsbeek. Sie hatten sich per Telefon kennengelernt. Meine Mutter arbeitete in der Telefonzentrale in Arnhem. Sie hatte ein erstes Gespräch mit meinem Vater, der verzweifelt nach seinem Bruder suchte. Mein Vater hatte in den 1960er-Jahren mit seinem Bruder eine Rock-Gruppe. Sie spielten Indo-Rock, und Black Magic war der Name ihrer Gruppe.» Zippora Elders sagt, dass dieser Name am besten mit ‹Schwarze Kunst› zu übersetzen ist. Sie erzählt auch, dass ihr Vater aus einer molukkischen Familie stammte. Es ist schwierig, das Verhältnis zwischen der niederländischen Kolonial-Macht und den ehemaligen Bewohner*innen der Molukken-Inseln – am Rand des pazifischen Ozeans – in Einfacher Sprache zusammenzufassen. Und wie lässt sich Indo-Rock beschreiben, eine Musik-Richtung, die nicht mit Indie-Rock zu verwechseln ist? Indo-Rock ist der Soundtrack von Elders’ Familien-Geschichte.

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Ritmo, Performance an Keti Koti, Sonsbeek Park, 2021, vor der Arbeit Performative Poetics of Matter, 2021, von Farkhondeh Shahroudi, Sonsbeek20->24, Courtesy die Künstlerin, Foto von Django van Ardenne

Musik hat eine zentrale Bedeutung bei Sonsbeek20->24. Frauen und Männer des Gospel-Chors G-Roots singen während der Presse-Konferenz Lieder. ‹Roots› ist englisch und bedeutet Wurzeln. G-Roots singen zum Beispiel Gospel-Lieder. Oder den Refrain des Liedes Work von Rihanna. Oder 9 to 5 von Dolly Parton. Dieser Titel beschreibt einen harten Ganztags-Beruf. Arbeits-Verhältnisse sind – neben Musik – ein wichtiges Thema in den Texten der Kuratorinnen von Sonsbeek20->24. Die Kuratorin Amal Alhaag spricht in ihrem Text für alle Arbeiter*innen, ohne die eine Ausstellung unmöglich ist: Ausstellungs-Aufbauer*innen, Putz-Männer und -Frauen, Presse-Sprecher*innen und viele mehr. Der Untertitel von Sonsbeek20->24 verbindet die Themen Arbeits-Verhältnisse und Musik: On Labour and Its Sonic Ecologies. Dieser Untertitel kann übersetzt werden mit: Zum Thema Arbeit und ihren Klang-Ökologien. Musik besteht aus Klängen, und sozio-politische Kontexte werden gerne als Ökologien bezeichnet. Elders’ Familien-Geschichte ist hierfür ein gutes Beispiel.

Zippora Elders erzählt auf der Presse-Konferenz über ihre Eltern: «Die Familie meines Vaters war – wie viele andere – von der niederländischen Regierung aufgefordert worden, 1951 in die Niederlande zu kommen. In den Niederlanden wurden die molukkischen Familien entmutigt zu arbeiten. Sie konnten auch nicht auf die umkämpften Molukken zurückkehren. Musik-Machen war ein Weg aus den Lagern, in denen die Niederlande die Molukker untergebracht hatte. Es war ein Weg aus der unerwarteten Verarmung heraus, in der mein Vater aufwuchs. Meine Mutter war indo-niederländischer Herkunft. Mein Vater war aus der Sicht der damaligen kolonialen Strukturen nicht der angesehenste Partner für meine Mutter. Sie war aber abenteuerlustig. Sie fühlte sich von der Energie meines Vaters angezogen. Meine Eltern heirateten, bekamen Kinder und liessen sich scheiden. Das jüngste Kind bin ich. Ich wurde 20 Jahre nach der ersten Begegnung in Sonsbeek geboren.»

Die Presse-Konferenz von Sonsbeek20->24 hat viele Stimmen. Texte und Musik wechseln sich ab. Die Lieder der Sängerinnen Rihanna und Dolly Parton erzählen von den Arbeits-Verhältnissen heute. Zippora Elders erzählt die Geschichte ihrer Eltern und von ‹Klang-Ökologien› gegen Ende der niederländischen Kolonien. Und Gospel-Lieder erzählen von Sklaverei, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika. Gospel-Lieder handeln auch von einem christlichen Gott und seinem Sohn Jesus. Der Leidens-Weg von Jesus erinnert die Nachfahren von Versklavten an die Leiden ihrer Vorfahren. Dieser Gott und sein Sohn sind unvergleichbar mit dem Gott der Eusebius-Kirche. Die Kirche in Arnhem ist ganz weiss. Viele Kirchen in den Niederlanden sind ganz weiss. Die Eusebius-Kirche ist sogar frisch renoviert. Die Kirche erinnert an ein Kongress-Zentrum. Hier zeigt sich der Reichtum der Niederlande und Europas und sein kolonialer Ursprung. Die Niederlande hatten vom 17. bis zum 20. Jahrhundert viele Kolonien auf der ganzen Welt. Die Niederländer und andere Europäer*innen haben dort Natur-Schätze und die Arbeits-Kräfte von Menschen ausgebeutet.

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Ibrahim Mahama, Parliament of Ghosts, 2019, Sonsbeek20->24 und Museum Arnhem, Courtesy der Künstler und White Cube, im Hintergrund die Arbeit Electric Dub Station (Orbital Ignition), seit 2018, von Antonio Jose Guzman in Kollaboration mit Iva Jankovic, Sonsbeek20->24, Courtesy die Künstler, Foto von Django van Ardenne

Die ersten Ausstellungs-Gäste von Sonsbeek20->24 feiern ‹Keti Koti› am Tag nach der Presse-Konferenz. Am 1. Juli ist Keti Koti oder ‹Emancipation Day›. Die Abschaffung der Sklaverei in Suriname im Jahr 1863 wird gefeiert. Suriname liegt in Süd-Amerika und war eine Kolonie der Niederlande. Die Nachfahren versklavter Menschen kämpfen noch heute für Emanzipation und Freiheit. Daran erinnern Paraden zu Keti Koti. Die Rhythmus-Gruppe Ritmo führt die Gäste von Sonsbeek20->24 zu Keti Koti durch den Park Sonsbeek. Die Gruppe aus Amsterdam Zuidoost kommt vor den Fahnen der Künstlerin Farkhondeh Shahroudi zum Stehen. Die Musiker trommeln dort einen besonderen ‹Groove›. Das ist ein besonders treibender Rhythmus. Dieser starke Groove, das Feiern und Tanzen zu Keti Koti sind der Auftakt zur Abend-Veranstaltung Sea as History. A Tribute to Keti Koti. Die Veranstaltung Das Meer als Geschichte findet in der Eusebius-Kirche statt, in einer grossen Installation des Künstlers Ibrahim Mahama. Er stellt unter die Kirchen-Orgel ein Chor-Gestühl aus gefundenen Materialien aus Ghana. Die Chor-Mitglieder nehmen normalerweise während des Gottes-Dienstes im Chor-Gestühl Platz. Bei Sonsbeek20->24 dürfen alle Gäste im Chor-Gestühl sitzen. 

Musik und Text wechseln sich bei der Abend-Veranstaltung Das Meer als Geschichte ab, ähnlich wie bei der Presse-Konferenz. Der Sänger Otion trägt seine eigenen Lieder vor. Er lässt sich begleiten von einem Chor aus soul-vollen Klang-Schnipseln. In der Kirche wird auch getanzt: zuerst zur Musik-Richtung Makossa, die aus Kamerun kommt. Am Ende zu einem Konzert von Perera Elsewhere. DJ Lynée Denise lässt kurz die Musik der Techno-Produzenten Drexciya hören. Drexciya ist bekannt für ihren Afro-Futurismus und die Tiefsee-Mythologie des ‹Black Atlantic›. Der britische Kultur-Wissenschaftler Paul Gilroy veröffentlichte 1993 ein Buch über die Musik-Kulturen des ‹schwarzen Atlantik›. Der schwarze Atlantik verbindet zum Beispiel Nord- und Süd-Amerika, die Karibik und Grossbritannien mit dem afrikanischen Kontinent. Der Atlantik erinnert bis heute an die vielen Opfer der Kolonial-Zeit: Im Atlantik wurden zum Beispiel versklavte schwangere Frauen ertränkt. Leben die Neugeborenen und ihre Nachfahren noch heute unter Wasser in Freiheit? Die mythische Stadt ‹Black Atlantis› erreichen sie vielleicht dank ‹Aqualung›, der ‹Taucher-Lunge› aus einem Titel von Drexciya. Die Künstlerin Ellen Gallagher hat dazu Karten mit Wasser-Farbe angefertigt. DJ Lynée Denise ist von Drexciya und dem britischen Kultur-Wissenschaftler Kodwo Eshun inspiriert: Sie treiben gemeinsam dem Programm von Sonsbeek20->24 den Gospel aus.

Die Presse-Konferenz von Sonsbeek20->24 und die Abend-Veranstaltung Das Meer als Geschichte funktionieren wie Play-Listen oder Mix-Tapes: Ein Musik-Stück wird nach dem nächsten gespielt. Play-Listen und Mix-Tapes geben dem Alltag einen Sinn und Energie. Auch auf der Internetseite von Sonsbeek20->24 gibt es eine Play-Liste. Man kann dort auf Englisch oder Niederländisch lesen: «Eine Play-Liste ist eine kuratorische Erzählung. Diese Play-Liste ist ein kollektiv gewebter Klangteppich. Sie ist eine Einladung zum gemeinsamen Hören. Es gibt keinen besseren Weg als Mix-Tapes, um Sonsbeek vorzustellen.» Nach der Presse-Konferenz und der Abend-Veranstaltung gehe ich erwartungsfroh in die Stadt Arnhem und in den Park Sonsbeek hinaus. Auch die Manifestation Sonsbeek20->24 ist ein grosser Spielplan aus Musik, Text, Bild und vielem mehr. Presse-Konferenz, Veranstaltungen und Ausstellung sind so vielstimmig wie die Kunstwerke: Die Künstlerin Anne Duk Hee Jordan hat einen Garten gepflanzt. Alle Pflanzen sind essbar und mit der kolonialen Niederländischen Ost-Indien-Kompanie nach Europa gekommen. Sie erklärt alles persönlich während der Ausstellungs-Eröffnung. Es gibt auch Informations-Tafeln und einen Film. Sie kocht auch ein Essen. Das Essen beschreibt koloniale Handels-Wege, von der Vor- bis zur Nach-Speise. Zum Beispiel das ‹Ei des Marco Polo›, mit folgenden Zutaten: Ei-Gelb, Blätter des asiatischen Gewürzes Perilla, geschmolzener Parmesan-Käse und die scharfe Chili-Paste Sambal aus Indonesien. 

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Anne Duk Hee Jordan, The Living Plant Archive: All My Hands Are Labour, 2021, Sonsbeek20->24, Courtesy die Künstlerin, Foto von Victor Wennekes

Sonsbeek20->24 zum Thema Arbeit und ihren Klang-Ökologien trägt den Titel Force Times Distance. Zippora Elders bezieht diesen Titel auch auf ihre und viele andere Familien-Geschichten: «Es geht in diesen Geschichten offensichtlich um Arbeit, Entfernung (‹distance›) und Zeit (‹time›), Vertreibung und Zugehörigkeit, persönliche Verbindungen durch Klang und vernachlässigte Stimmen. Aber es geht auch um Resonanz und vielleicht sogar um den Geist der Vorfahren: Genau ich wurde ein halbes Jahrhundert später eingeladen, im Park Sonsbeek und Umgebung eine Ausstellung über Arbeit und Klang zu machen. In diesem Park, der voller Geschichten natürlicher, menschlicher und mehr-als-menschlicher Ausbeutung ist.» Der künstlerische Leiter Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hatte Elders eingeladen, die Manifestation Sonsbeek20->24 mit anderen Kuratorinnen im Team zu kuratieren. 

Nicht nur Kurator*innen arbeiten im Team. Künstler*innen arbeiten auch mit anderen Menschen zusammen: Die Künstlerin Jennifer Tee lässt ein Baum-Bild auf dem Boden des Parks Sonsbeek wachsen. Das Bild ist aus Ziegel-Steinen gemacht. Sie lädt die Choreographin Marjolein Vogels ein, sich mit Performer*innen auf dem Baum-Bild zu bewegen. Die Künstlerin Wendelien van Oldenborgh arbeitet mit der Architektin Erika Hock zusammen. Gemeinsam zeigen sie den neuen Film von Wendelien van Oldenborgh in einer Kino-Architektur: Die Leinwand, das Dach und die Sitz-Ränge bilden eine einzige Spirale. Jessica de Abreu zeigt die Kolonial-Geschichte der Stadt Arnhem und des Parks Sonsbeek in einer Archiv-Ausstellung. Sie hat gemeinsam mit Mitchell Esajas, Miguel Heilbron und Thiemo Heilbron The Black Archives – auf Deutsch Die schwarzen Archive – in Amsterdam gegründet. Sie machen die Geschichten von schwarzen Menschen und Organisationen in den Niederlanden zugänglich. Der Künstler Willem de Rooij arbeitet mit der Stiftung Pierre Verger im brasilianischen Salvador de Bahia zusammen. Er zeigt alle 257 Fotos, die der Fotograf Pierre Verger 1948 in Suriname gemacht hat. Die Fotos zeigen Szenen aus der Hauptstadt Paramaribo und aus Dörfern im Landesinneren.

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung hat Zippora Elders motiviert, über ihren Vater zu schreiben. Elders erzählt, was das alles mit dem Ausstellungs-Machen, dem Kuratieren im Team zu tun hat: «Wie die Künstler*innen, so hat auch das Kuratorinnen-Team oft darüber nachgedacht: Wie ist das Persönliche politisch? Bonaventure hat über seinen Vater geschrieben. Sein Vater ist leider verstorben während der zweijährigen Vorbereitung für diese Sonsbeek-Ausgabe. Bonaventure hat mich ermutigt, auch über meinen Vater zu schreiben. Mein Vater war an Covid erkrankt, in der ersten Woche der Pandemie in den Niederlanden. Der Beginn seiner Krankheit war sehr chaotisch und beängstigend. Er ist danach noch sechs Monate lang im Krankenhaus geblieben. Ich bin vielleicht ein eher privater Mensch. Ich musste über Bonaventures Vorschlag nachdenken. Mir wurde aber bald klar: Diese persönliche Geschichte hat tatsächlich sehr viel mit der Gegenwart zu tun. Aber auch mit unserer kuratorischen Arbeit. Und mit einer Vergangenheit, mit der wir alle verbunden sind.»

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Ellen Gallagher, Watery Ecstatic, 2017 und 2021, Morphia, 2008-2012, Sonsbeek20->24, Courtesy die Künstlerin, Gagosian und Hauser & Wirth, Foto von Django van Ardenne

Die Geister und Stimmen der Vorfahren sind in der kuratorischen Arbeit von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung und seinem Team immer spürbar. Ndikung nennt nicht nur die Veranstaltung Das Meer als Geschichte, sondern auch das gesamte öffentliche Programm von Sonsbeek20->24 Invocations, also Beschwörungen oder Anrufungen. Er macht auch in Berlin Veranstaltungen unter dem Namen Invocations. Dort ist er künstlerischer Leiter des Ausstellungs-Ortes SAVVY Contemporary. 2023 wird er Leiter eines grossen Veranstaltungs-Ortes in Berlin werden, dem Haus der Kulturen der Welt. Es gibt viele Orte und Anlässe für Invocations. Alles vermischt sich. Zu den Invocations kommen Künstler*innen und Nicht-Künstler*innen zusammen für Vorträge und Aufführungen. Invocations sind auch Anlass zum Feiern: sich Kennenlernen, Neues Lernen und Altes Erinnern, Tanzen und Singen.

Und immer wieder Musik! Zum Beispiel, wenn Bonaventure Soh Bejeng Ndikung die Worte fehlen. Wenn Ndikung Worte für fehlende Worte findet. Worte, die ich nicht in Einfache Sprache übertragen kann. Der folgende Abschnitt stammt aus dem Text, den Ndikung über den Tod seines Vaters geschrieben hat: «Das Problem ist, dass Worte Trauer nicht transportieren können. Die Sprache versagt bei dem Versuch, all die verschiedenen Nuancen und Ausdrucksformen der Trauer zu vermitteln. Worte wie Leere, Schmerz, Wut, Angst, Unzufriedenheit, Kummer, Ärger, Verärgerung und so weiter werden zu Stellvertretern für etwas, dessen Gewicht die Sprache nicht tragen kann; dessen Farbe die Spektralität des Lichts überstrahlt und Farbe blass werden lässt; dessen ohrenbetäubender Lärm kaum durch Musik eingedämmt werden kann. Nur durch bestimmte Töne, Klänge, Frequenzen, Schwingungen. Wie im Blues. Oder wie in Zim Ngqawanas Dirge oder in Abdullah Ibrahims Blues for a Hip King oder in Elvis Kemayos Mama oder in dem Lied, das meine Mutter am Telefon gesungen hat, während sie weinte, wenige Minuten nachdem die Ärzte erklärt hatten, sie könnten nicht mehr helfen, und er [mein Vater] für tot erklärt worden war.»

Bonaventure Soh Bejeng Ndikung spricht von der ‹Spektralität des Lichtes›. Das ist ein Sprach-Bild, um nicht versprachlichter Trauer eine Form zu geben. Sprach-Bilder werden benutzt, um Dinge zu beschreiben, die wir noch nicht einordnen können und die wir nicht eindeutig benennen können. Einfache Sprache hat Schwierigkeiten mit Sprach-Bildern. Einfache Sprache wurde von Erst-Sprachler*innen ohne Lern-Schwierigkeiten erfunden, um Informationen zu vermitteln. Wer in Einfacher Sprache schreibt, soll Sprach-Bilder vermeiden. Es heisst, sprachliche Bilder würden Wissen erfordern, dessen Verständnis nicht universell voraussetzbar sei. Lautet die Aufgabe der Einfachen Sprache nicht, das Nicht-Verständliche und das Nicht-Universale in Worte zu fassen und zu erklären? Gerade die Einfache Sprache soll helfen, Sprach-Barrieren und Kultur-Grenzen zu überwinden. 

Was geht verloren in der Einfachen Sprache? Kann Einfache Sprache offene Denk- oder Erkenntnis-Prozesse sinnvoll abbilden? Für Texte in Einfacher Sprache gilt das Gleiche wie für alle Texte: Sie sind immer nur so gut wie ihre Autor*innen. Letztere würden vergessen lassen, dass Ndikung sich des Sprach-Bildes einer alles überstrahlenden ‹Spektralität des Lichtes› bedient, um Worte zu finden für den Umstand, dass in Trauer-Situationen Worte fehlen. Übrig bliebe, die gleichwohl universellen als auch persönlichen Erfahrungen der Trauer und der fehlenden Worte als solche zu benennen. 

www.sonsbeek20-24.org

 

 

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