Daniel Horn: Mit der zunehmenden Beschränkung der Bewegungsfreiheit und sozialer Kontakte ist der pandemische Alltag von Isolation und ausgedehnterer Zeitwahrnehmung geprägt. Hinsichtlich der «Freien Berufe», insbesondere der vom intellektuell-künstlerischen Typus, ist daher nun oft zu hören, dass dieser neue Alltag zunächst einmal eine Art positive Konzentration und Entschleunigung der bisherigen Arbeitsweisen darstellen könnte. Wie siehst du das im Hinblick auf deine eigene momentane Situation?
Mathis Altmann: Zunächst einmal will ich einfach feststellen, dass ich in einer relativ passablen Situation bin. Ich gehe viel an die frische Luft und hoffentlich weiterhin ins Studio. Und es gibt zum Glück genug Platz in der Wohnung.
DH: Die Eröffnung der Gruppenausstellung Annemarie von Matt – widerstehlich im Nidwaldner Museum in Stans/NW Anfang März fand gerade noch statt, bevor die neue «Corona cancel culture» offiziell in Kraft getreten ist. Die Ausstellung setzt das Werk dieser Innerschweizer Künstlerin und Dichterin der 1930er und 40er Jahre in Dialog mit zeitgenössischen Positionen aus Kunst und Literatur, darunter auch drei Arbeiten von dir. Hast du hierfür neue Arbeiten entwickelt?
MA: Es ist zwar nicht überraschend, aber verunsichernd, dass Kultur, dieses angebliche Rückgrat der Demokratie, in der jetzigen Krise als erstes zurückgefahren wird … Für die Ausstellung in Stans habe ich, abgesehen von zwei älteren Arbeiten von 2017, Stud Finder und Water! Good God! Filth!, die auch gezeigt werden, eine neue Arbeit konzipiert unter Verwendung von LED Matrix Screens, die ich seit einiger Zeit verschiedenartig umfunktioniere. Das sind diese Leucht-Anzeigetafeln, wie man sie vor allem von Apotheken, Autobahnen und Werbeanimationen im öffentlichen Raum kennt. Die neue Arbeit ist eine Weiterentwicklung dieser Technik und eine Fortführung meiner Rauminstallation in der Deutschritterkapelle anlässlich des Art Basel Parcours letzten Sommer. Der Baustein der Screens ist der gleiche wie in Basel, aber ich experimentiere gerade mit der Form der Chassis, in welche ich sie integriere. Für die neue Arbeit WE war der inhaltliche Ausgangspunkt das IPO (initial public offering) des Start-up-Unternehmens WeWork. Die Vermarktung von WeWork zwecks Börsengang enthielt das Wort «community» an über hundert Stellen, und ich habe mich an diesem Begriff orientiert in der Auswahl von Bildmaterial, sowohl appropriiertem als auch von Aufnahmen, die ich im Alltag vor allem hier in Berlin gemacht habe. Ich hab also diesen Investor-Pitch als textuelle Ausgangslage genommen, um ein Video bzw. eine Textanimation für diese Wandskulptur zu generieren. Sie setzt sich zusammen aus einer «analogen», runden Rahmenstruktur aus verschiedenen Materialien und Bildfragmenten, deren Mitte die Animation auf dem Screen bildet. Das Bild- und Textmaterial für die Animation ist bewusst generisch in der Auswahl. Dieser Community-Inhalt der Skulptur bildet somit auch einen markanten Kontrast zu der Art von Gemeinschaft, in welcher von Matt gearbeitet hat: jene traditionelle und nach wie vor enge soziale Form einer katholischen Enklave, mit der sie sich als eher unkonventionelle Künstlerin und Person auseinandersetzen musste.
DH: Was wird denn durch WeWork als Community definiert oder suggeriert?
MA: In erster Linie würde ich sagen, dass Firmen wie WeWork zum Ziel haben, das «we» und die versprochene zugehörige Community zu gentrifizieren. Es bildet sich ein Imperativ des «we», der auf jegliche Aspekte des Lebens projiziert wird. Diese Haltung und Wertung von Gemeinschaft ist aber nach wie vor ähnlich von zentraler Bedeutung in Enklaven wie Nidwalden oder Luzern, einer Region, die gleichzeitig aufgrund niedriger Gewinnbesteuerung ein Hub ist für gerade jene Techworld, die WeWork repräsentiert. Dadurch entsteht diese ambivalente Mobilisierung und Lokalisierung jener Ideale oder des Imperativs des «we» innerhalb der Ausstellung, dieses Nebeneinander zweier Ideologien von Gemeinschaft.
DH: Kannst du beschreiben, was für einen Service WeWork konkret anbietet?
MA: WeWork ist ein globaler Anbieter von Co-Working-Spaces und ist bekannt geworden als Symbolbild für den «millennial hustle». Im Prinzip steht dahinter einfach ein riesiges Immobilienunternehmen. WeWork ist nicht zuletzt auch als eines der noch vor dem Börsengang am höchsten gehandelten Start-ups bekannt geworden, dessen spekulativer Wert von über 40 Milliarden Dollar dann innerhalb kürzester Zeit massiv eingestürzt ist, letztlich ein Scam oder eine Blase. WeWork war bereits einer der Bezugspunkte für mein Projekt in Basel letztes Jahr, als exemplarisches Unternehmen für die Veränderungen der postindustriellen Arbeitswelt. Mich interessiert, wie die Tätigkeit von kreativen Soloselbständigen, insbesondere Künstler*innen, sich hierzu verhält. Die Deutschritterkapelle, die ich im Rahmen des Parcours gewählt habe, ist ja bereits ein entsakralisierter Raum, seitdem die Kirche in den 1980ern zu einem Architekturbüro umgebaut wurde. Es ist ein Ort, an welchem sich wechselnde institutionelle Funktionen und entsprechende ästhetische Transformationen sichtbar konzentrieren – von einem heiligen Ort der Zusammenkunft des Kreuzritterordens hin zum säkularen Gebrauch als Büro und schliesslich zu einem Event-Space im Rahmen einer Kunstmesse. Was in diesem Prozess aber letztlich bestehen bleibt, ist der jeweilige Glaube an ein wie auch immer ideologisiertes «we» – ob als Orden, als Start-up-Unternehmen oder innerhalb eines Milieus der Kunstwelt.
DH: WeWork also als eine Form zeitgenössischer Glaubensgemeinschaft?
MA: Ja, nicht zuletzt bedingt durch den Gründer Adam Neumann, ein Partytyp, dessen TED-Talks sich durch einen pathetisch Guru-haften Ton auszeichnen, dank dem er immer grössere Investoren gewinnen konnte – nach dem Motto «Realize your wildest dreams!». Als repräsentativer Anführer dieser neuen hippieesken Venture-Capital-Kaste hatte er auch einen bestimmten Lifestyle, also Privatflugzeuge, Hotboxing usw. Was ich an der Strategie Neumanns interessant finde, ist seine Patentierung und der anschliessende spekulative Handel mit dieser quintessentiellen Idee und Designation des «we», als Ware und Service. Ich habe Neumanns Self-help-Jargon also nach und nach als Rohmaterial für meine Arbeiten adaptiert, sozusagen als ein Urtext oder eine Heilige Schrift des neoliberalen Zeitalters im 21. Jahrhundert.
DH: Du hattest von Amenities, also den Zusatzleistungen gesprochen. Was wird da alles angeboten von WeWork? Wie kann man den Look oder die Ästhetik beschreiben?
MA: Amenities umfassen ursprünglich in erster Linie das «Hotdesking», also diese flexiblen, angeblich kostensparenden Räume für Freelancer und Selbstunternehmer ausserhalb rigider Bürostrukturen in urbanen Zentren, wo es miettechnisch solchen Individuen gar nicht möglich wäre, permanentere Strukturen aufzubauen. Inzwischen ist es aber ein Service, der die Gestaltung von Arbeitsräumen für ganze Stockwerke anbietet. Diese New-Tech-Fassade von Firmen wie WeWork ist einfach eine neuere Strategie für eine der grössten Zusammenschlüsse von privaten Immobilienbesitzern, besonders in London und an der Ostküste der USA. Mich interessierte die Untersuchung dieses Prozesses, durch welchen nach und nach die Strategie des Co-Workings auf alle Bereiche des Lebens ausgeweitet und entsprechend patentiert wurden: beispielsweise in Form des Co-Livings zu WeLive oder der privaten Grundschule zu WeGrow für die sogenannten «Students of Life».
DH: Wie sieht denn demographisch betrachtet dieses «we» aus, bzw. was sind die Bedingungen der Zugehörigkeit und Teilnahme an diesem Wir?
MA: Im Fall von WeGrow ist allein der jährliche Beitrag so hoch, dass die Teilnahme eine recht exklusive Form des Wir bedeutet. Aber anfänglich ging es bei Formaten wie WeWork vor allem darum, die Millennials aus ihren elterlichen Garagen und Schlafzimmern und raus aus den wohlsituierten Vororten an den ersten eigenen Schreibtisch in der Stadt zu locken.
DH: Hat sich denn der Fall von Neumann und WeWork, dieser Scam oder Bubble, damals zeitlich überschnitten mit deinem Parcours-Projekt, als IRL-Kommentar bzw. -Kritik?
MA: Nicht exakt überschnitten, aber im frühen Verlauf des letzten Jahres gab es bereits Gerüchte und Meldungen, dass die Bewertung der Firma zu aufgeblasen sei. Die Bubble ist dann aber erst im September geplatzt, was den Fall von Neumann, der mit einer spektakulären Auszahlung verbunden war, nach sich gezogen hat. Diese sich anbahnende Farce war wie gesagt auch nur ein Teil meines Projekts in Basel. Eine weitere Komponente war eine Soundarbeit, die Spotify-Playlists einbezog, welche algorithmisierte Inhalte bedienen, also «Music to Study», «Music to Work» usw. Ich habe diese mit anderen Arten der Kodierung gekreuzt, von Cloud Rap bis Gen-X-Neunziger-Anthems von Sonic Youth, Shoegaze-Klassikern, sowie Elementen von Meditationsapps wie Calm — die ja momentan Hochkonjunktur haben —, bis aus alldem ein psychedelischer Bastard-Muzak-Mix entstand.
DH: Ich habe die Arbeit in Basel gesehen damals, aber erinnere mich nochmals, wie diese Soundarbeit dort präsentiert war.
MA: Die Kompositionen liefen durchgängig parallel zu den programmierten LED-Arbeiten, den Kreuzen. Allerdings war das Zusammenspiel von Sound und Skulptur nicht als solches programmiert; es gab also ständig unterschiedliche Kombinationen, wie diese von den Besuchern erfahren wurden.
DH: Die Hybridität von zeitgenössischem Sound — eine Art von Muzak, wie du sagst—, welche einen beträchtlichen Teil von Musik ausmacht, ist also nicht mehr durch Sampeln der verschiedenen Genres und ihrer jeweiligen generationellen und sozialen Einordnungen gekennzeichnet. Sondern vor allem durch die eigentliche Zweckhaftigkeit des Formats Playlist, welche einst kennerhaft-persönlich erstellt wurde und nunmehr eben praktisch ohne Autor generiert wird, um bestimmte Anforderungen optimal zu bedienen. Aber zurück zu den LED-Matrix-Screens: Wie siehst du selbst deine Nutzung oder Modifikation dieser Technik der Screens im Hinblick auf deren reguläre Verwendung? Gibt es da auch Bezüge zu früheren und formal unterschiedlichen Verwendungen der Technik wie durch Jenny Holzer oder den skulpturalen Videoassemblagen von Nam June Paik?
MA: Beide könnte man bestimmt als Referenzpunkte betrachten. Die LED-Screens können prinzipiell mit beliebigem Bildmaterial bespielt werden, aber dienen ja in erster Linie dazu, einen Service oder ein Produkt zu bewerben bzw. anzubieten. Ich verwende es als Träger aller möglicher Bildinhalte in Kombination mit den zumeist standardisierten Animationen, experimentiere aber auch mit den Möglichkeiten, wie Text darüber abgespielt wird.
DH: Wie gehst du dann in der Auswahl der jeweiligen Inhalte für die Screens vor? Bestimmt der Ort und/oder die jeweilige Institution die Art und Weise, welches Bild-, Sound- und Textmaterial du zusammenfügst?
MA: Teilweise ja, aber wohl noch entscheidender ist, wo ich mich gerade befinde und arbeite. Das heisst inhaltlich und visuell haben sich die Arbeiten der letzten Jahren vorrangig mit LA auseinandergesetzt, vor allem dem dortigen rapide voranschreitenden demographischen Wandel verschiedener Viertel im Hinblick auf die Stadtentwicklung, allen voran dem Arts District östlich von Downtown LA, während sich nun die von mir generierten Bilder und Texte vor allem aus dem Alltag in Berlin speisen. Das Format und die Tradition der Street Photography ist ebenfalls ein Referenzpunkt für mich. Und der Ort kann entscheidend sein, daher natürlich auch die Screens in der Kreuzform für diese im postmodernistischen Stil umgebaute Kapelle in Basel vor dem Hintergrund der protestantischen Arbeitsethik. Das ist ein aufgeladener Ort, den bis dahin niemand für den Parcours nutzen wollte, aber ich fand den Space gerade daher sehr relevant für meine Arbeit. Gleichzeitig gibt es diese fortschreitende Nivellierung gerade der Inhalte, die ich sammle in diesen vorrangig westlichen Epizentren der Globalisierung, und dadurch ist es auch nicht wirklich mehr möglich, von ortsspezifischen Arbeiten zu sprechen.
DH: Inwiefern?
MA: Also um auf die Amenities zurückzukommen als Beispiel: Die urbanen Zentren und in erster Linie die Ästhetik und Materialität der Räume von Arbeit und Freizeit gleichen sich ja immer mehr an. Dieses Phänomen wurde vor ein paar Jahren in einem Essay von Kyle Chayka bereits mit dem Begriff «Airspace» beschrieben.
DH: Airspace im Sinne von «Nicht-Orte» also diese generische Ästhetik globaler transitiver Orte, die Marc Augé in seinem gleichnamigen Buch beschrieben hat?
MA: Im Prinzip beschreibt Airspace die konsequente Fortsetzung davon, also die Ausweitung auf alle weiteren, vormalig privaten oder individuellen Bereiche, in Anlehnung an die modellhaften Inneneinrichtungen von Airbnb-Rentals, diese ästhetischen Präferenzen oder Standards der Digital Nomads. Dazu gehört in diesem Sinne auch Uniqlo als Quasi-Uniform oder Patagonia, von Outdoor zu Workplace zu Anyplace.
DH: Wobei Patagonia schon spezifischer ist. Eher die Go-to-Brands für «Techbros» wie etwa Neumann.
MA: Ja sicher, das Branding durch Betonung der Nachhaltigkeit und der Assoziation mit Tesla-Fahrern in San Francisco. Allerdings ist dieser Lifestyle ja inzwischen enorm verbreitet, wenn auch in erster Linie als Look. Denn strikt demographisch betrachtet begrenzt sich dieser Lifestyle auf Libertarians in der entsprechenden Gehaltsskala, die vorzeitig in Rente gehen und gleichzeitig der Gemeinschaft oder dem Planeten durch smarten Konsum etwas zurückgeben wollen, etwa durch «carbon offset».
DH: Die Diskussion um Nivellierung, jener Airspace-Sachverhalt, den du erwähnt hast, ist eine ästhetische, aber wirft unmittelbar Fragen auf zu Zugang, Teilhabe, demokratischer wie ökologischer Auswirkung. Uniqlo oder Imitate von Eames-Stühlen sind beispielsweise ein demokratisierendes Phänomen in dem Sinne, dass minimalistische Einrichtung und Mode zu einem drastisch niedrigeren Preis mehr Nutzern zugänglich sind, während gleichzeitig diese Entwicklung ja mittel- bis langfristig nicht nachhaltig sein kann. Die Produktionsverhältnisse, die diese Massenproduktion und damit die Teilhabe ermöglichen, bleiben weiterhin prekär bis verheerend oder einfach nur unprogressiv.
MA: «Demokratisierung» wird eben letztlich als Argument gerade von Grosskonzernen benutzt, um Produkte zu verkaufen und Konsumentengruppen zu erweitern. Dennoch bleiben verschiedene Schichten und Gruppen aussen vor. Das ist eine Strategie, die nicht unähnlich auch im Kunstfeld zu beobachten ist. Einerseits rückt die Didaktisierung hier immer mehr in den Vordergrund, die nicht zuletzt zum Ziel hat, aus allen Besucher*innen von Ausstellungen kunstaffine Teilnehmende zu machen oder als potentielle Förderer*innen zu gewinnen. Gleichzeitig ist das Kunstfeld aber einer der wenigen professionellen Bereiche, in dem man sich diesem Imperativ jener Demokratisierung und der Nivellierung ein Stück weit verweigern oder entziehen kann; dieser Standardisierung, die parallel mit Überindividualisierung der «Alles ist möglich»- und der «Ich mach, was ich will»-Gesellschaft einherzugehen scheint. In diesem pandemischen Moment sind ja all diese Ökonomien von produktiver, temporärer, flexibler Gemeinschaft bis auf weiteres «on hold», und da setzt jetzt hinsichtlich Ausgangsperren und dergleichen wohl ein krasser Wendepunkt ein.
DH: Das Ende von YOLO und Assholism?
MA: Einfach potentiell eine Art Zäsur dieser vorherrschenden spät-neoliberalen Einstellung und auch der Heuchelei bezüglich der Gentrifizierung von Ideen wie Demokratisierung und Gemeinschaft.
DH: Gemeinschaft wird in den Beispielen, die du nennst, ja ohnehin vorrangig als Gemeinschaft von Konsumenten und Kunden verstanden oder kann so verstanden werden, auch wenn Gemeinschaft ein archaischer Begriff ist, die Urform des Zusammenlebens, bevor diese von dem neuen, vermeintlich entfremdenden Gefüge der Gesellschaft verdrängt wird, was von Ferdinand Tönnies Ende des 19. Jahrhunderts schon exakt beschrieben worden ist.Dieser ganze Komplex ist besonders widersprüchlich im Kunstfeld zu beobachten, wie ich finde. Einerseits dieser Imperativ der Vermittlung, wie du sagst, die breit angelegte demographische Abdeckung, und das stetige Wachstum der Besucherzahlen, den jede Kunsthalle inzwischen vorweisen muss. Andererseits das Festhalten an elitären Mechanismen, diese ganzen pingelig genauen Abstufungen und Rangordnungen von Preview, Special Preview, Pre-Special Preview; First Choice, gewöhnliche VIPs; Angel, Gold Angel, Platinum Angel Member etc. Gibt es da eine Art Selbstverheuchelung? Wie siehst du da die mittel- bis langfristige Entwicklung? Was für eine Art von Gemeinschaft will das Kunstfeld als Organismus? Die Demokratisierung hört ja spätestens auf bei dem Erwerb von Kunst, abgesehen mal vom Museumshop.
MA: Merchandising hat sicher auch im Kunstfeld an Wichtigkeit gewonnen, nicht zuletzt dank Zugpferden wie Virgil Abloh, Gagosian usw. Was die klassische Künstleredition betrifft, da gibt es ja etablierte demokratische Modelle wie die Griffelkunst, wo etliche bekannte Künstler von Oehlen bis Moholy-Nagy beteiligt sind unter der Bedingung, dass die Editionenzahl unveröffentlicht bleibt und die Editionen nicht für den Weiterverkauf bestimmt sind. Am anderen Ende des Spektrums hinsichtlich Demokratisierung ist sicherlich Instagram entscheidend, was Änderungen von Access und des Kunstverständnisses betrifft. Das beginnt bereits mit der Sichtbarkeit und Popularität jener Werke, welche am besten auf Social Media funktionieren. Das sind natürlich die fotogensten Werke, und in grossen Museen und Privatsammlungen ist auch festzustellen, dass die sich nicht nur dementsprechend nach aussen präsentieren, sondern diese Qualitäten inzwischen als Kriterien für Sammlungserweiterung und Ankäufe betrachten.
DH: Stichwort Zugang: Und wie geht es jetzt mittelfristig weiter? Die Art Basel und die Liste sind bereits auf den Herbst verschoben worden, wobei ich von mehreren Seiten Vermutungen darüber höre, ob der Kunstbetrieb 2020 in dieser Form grundsätzlich nicht bereits gecancelt sei.
MA: Die Swiss Art Awards sollen stattfinden, da läuft der Prozess wie gewohnt weiter, aber ob das dann wirklich passiert?
DH: Oder eben alles per Online-Viewing-Rooms. Ich hab bei ein paar von den Rooms der Art Basel Hong Kong reingeschaut, aber hatte wohl andere Erwartungen, ich fand es ziemlich unaufregend. Einfach weisse Wände, an denen Arbeiten hängen, wie beim Scrollen durch Galerien-Websites. Ich hatte mir vorgestellt, dass es wie Second Life ist, aber eben zugeschnitten für das Messe- und Vernissage Environment.
MA: Die Verschiebungen der Produktion und Rezeption von Kunst waren bereits festzustellen bei Plattformen wie Contemporary Art Daily, diese Airspace-Präsentation und Erfahrung von Kunst und damit zusammenhängend wie gesagt die ästhetischen Kriterien. Diese Verschiebung sehe ich auch bei den Kunststudenten, mit denen ich arbeite. Sie legen zumeist sehr viel Wert darauf, wie Arbeiten auf dem Bildschirm aussehen werden, ob sie «slick» genug sind bzw. diesem Standard entsprechen. Was Kunst online betrifft, wird VR sicherlich immer stärker in den Möglichkeiten der Erfahrung hervortreten.
DH: Ich wollte zuletzt nochmals auf deine Arbeitsmethode zurückkommen: Ist es inzwischen nicht seltsam, diese Art Street Photography oder Alltagsfotografie zu betreiben, die du erwähnt hattest in Zusammenhang mit L.A. und Berlin? Ist das nicht obsolet geworden hinsichtlich der Bandbreite an Bildmaterial, die als Stock Material zur Verfügung steht, um benutzt und manipuliert zu werden?
MA: Nicht nur obsolet, sondern fast absurd, weil momentan jegliches öffentliche Leben temporär stillgelegt worden ist. Aber ja, ich nutze offenkundig sehr viel Stock-Bilder, oft auch mit Wasserzeichen darauf. Ich konzentriere mich bei den von mir fotografierten Motiven oft aber auf Dinge wie Baustellen oder sagen wir mal «geringwertige» Erscheinungen, das sind oft auch Stills, die ich aus Videos herauslöse, die während der Fahrt im Auto oder den ÖVs entstehen.
DH: Das erinnert an bestimmte Verwendungen der Fotografie im Rahmen der Land Art und der Conceptual Art, das Festhalten von marginalen Orten und Systemen wie die Brachlandschaften Robert Smithsons oder die suburbane Monotonie bei Dan Graham. Diese Ästhetik des Alltäglichen, in deren Banalität sich gerade die Gewaltsamkeit des spätkapitalistischen Alltags der USA abzeichnet, sei dies im Zusammenhang mit Ökologie oder mit Architektur. Dieser Aspekt kommt auch in Sam Pulitzers Fotoarbeiten zum Tragen, bei denen allerdings dennoch explizit Wert darauf gelegt wird zu betonen, dass es eben keine Stock-Bilder sind, sondern vom Künstler gewählte und geschossene Motive.
MA: Das interessante an Pulitzers Motiven ist, dass sie trotz ihrer generischen Stock-haftigkeit plötzlich so aktuell erscheinen, diese ganzen leer gefegten desolaten Orte in New York, wie sie nun in den Nachrichten zu sehen sind. Für mich war und ist Fotografie nach wie vor ein zentrales Mittel, um meine Arbeiten zu konzipieren, auch wenn das dann nicht in gross gedruckten und gerahmten Fotoarbeiten geschieht. Ich integriere dieses ganze Archiv vorrangig in meine Skulpturen, oft in Form von Fenster- oder thumbnailartigen Elementen aus Fotos, Zeitungsausschnitten, Flyern usw. Allerdings denke ich, dass diese konventionelle Art der Fotografie und deren Präsentation ein Comeback erleben wird. Ansonsten, nun da in China die Produktion langsam wieder ins Rollen kommt, arbeite ich weiter an neuen Präsentationsstrukturen der LED-Arbeiten. Auch nutze ich mehr Elemente aus der Beleuchtungstechnik und diese ganzen Entertainment-Gadgets und plane eher immersive Ausstellungen — Räume die zwischen Traum-Environments und/oder als gesellschaftliche Bestandsaufnahmen funktionieren.
DH: Danke für das Gespräch!