Repro reproduziert zum einen die Reproduktion. Der Reproduktion. Der Reproduktion. Im Kunsthaus Langenthal in einer Darstellung des Abendmahls von Leonardo da Vinci. Abgebildet in einem Katalog des Kunstverlags Ad. Braun & Cie von 1913, mit der Bildunterschrift «Die beste zeitgenössische Copie vom Schüler Leonardos, Marco de Oggione». Eine Reproduktion (Matthias Gabis Fotografie dieses Katalogs an der Wand des Kunsthaus) einer Reproduktion (die gedruckte Variante im Buch) einer Reproduktion (die gedruckte Version, die der Kunstverlag in verschiedenen Formaten vertrieb) einer Reproduktion (die «Copie» von Leonardos Abendmahl durch Marco de Oggione) einer Reproduktion (Leonardos Bildfindung für den biblischen Moment). Schon einmal eine ziemliche Reproduktionskette.
Für die neue Werkserie Repro, die der Ausstellung den Titel gibt, hat Matthias Gabi Seiten aus Büchern und Magazinen nach den Regeln der Reproduktionsfotografie aufgenommen. Auf dem immer gleichen graugrünen Untergrund liegt ein Katalog des Kunstverlags Braun, ein IKEA-Katalog, aber auch eine Nummer der Zeitschrift Playgirl oder der Berliner Illustrierten Zeitung von 1914. Matthias Gabi hat schon in diversen Lecture Performances Bücher und Zeitschriften vor Publikum durchgeblättert – in einer Geschwindigkeit, wie sie nur noch vom Tempo des digitalen Bilderstroms übertroffen wird. Die Arbeiten der Serie Repro sind jetzt quasi Stills aus diesen Performances, mit eleganten Holzrahmen und Passepartouts nobilitiert.
Filmstill von 2017 besteht dann tatsächlich aus einer Serie gefreezter Momente aus zahlreichen Filmen, die im Loop nacheinander geschnitten sind und immer acht Sekunden projiziert stehen bleiben. Die ProtagonistInnen – von Jessica Chastain bis Idris Elba – sind jeweils in einem Moment des Nachdenkens portraithaft eingefroren. Eine Versuchsanordnung, die zu Überlegungen zu Ausschnitt und Bildsprache im kommerziellen Film anregt, aber auch Einsichten zur Typologie Hollywoods ermöglicht. Oder zur Stereotypologie? Reproduziert Repro in dieser Wiederholung und Wiederaufführung vorherrschender Bildkonventionen nicht selber Vorurteile, was Geschlecht, Rasse, und andere, hinterfragbare Klassifizierungen betrifft? Beziehungsweise: Verewigt und verfestigt Matthias Gabi diese Einteilungen durch das Einfrieren der Menschenbilder? In jedem Fall nimmt er den Akteurinnen und Akteuren die Sprache, mit denen sie sich sonst potenziell aus ihren Stereotypen reden könnten.
Ähnliche Fragen stellen sich bei der Künstlerpublikation Shot on iPhone, 2009–2017 (erschienen bei Jungle Books), die in der Ausstellung auf einem Lesetisch ausliegt. Matthias Gabi hat dafür Smartphone-Fotos gesammelt, die er während eines Zeitraums von acht Jahren von Abbildungen von Menschen im Stadtraum geschossen hat. In diesem Buch reproduziert Repro also Reproduktionen von Menschen im öffentlichen Raum.
Matthias Gabis Buch reproduziert dabei aber auch fast ein anderes Buch, Palm Trees, Sunsets, Turmoil von Thomas Galler von 2017 (erschienen bei der Edition Fink). Ebenfalls mit schwarzem Cover, klein gesetzter Typo am oberen Umschlagrand, mit ähnlich dünnen, gestrichenen Seiten, wie sie auch für die vielen Magazine in Repro verwendet werden. Thomas Gallers Buch versammelt – reproduziert – Fotos, die amerikanische Soldatinnen und Soldaten während der Kriege im Irak und in Afghanistan meist in den Kampfpausen geschossen und auf Bildverbreitungsmedien gestellt haben. «Das Leiden anderer betrachten», durch die Kameraaugen anderer, im Zeitalter des auch digitalen Kreuzzugs gegen den Terror. Bei Matthias Gabis abfotografierten Werbungen ist es eher: «Das Kleiden anderer betrachten», durch Matthias Gabis Smartphone-Augen, im Zeitalter des auch digitalen Kreuzzugs für den Konsum.Susan Sontag stellt die Frage, ob Kriegsbilder, wie sie Thomas Galler im Internet findet, uns dazu bewegen, Krieg in Zukunft zu verhindern. Bei Repro ist die analoge Frage, ob Werbebilder, wie sie Matthias Gabi selbst sieht und im Stadtraum ablichtet, uns dazu bewegen, zukünftigen Konsum zu vermeiden. Ich habe den Verdacht, dass beide dafür nicht nur reproduzieren, sondern auch produzieren müssten – eine klare Haltung entwickeln, etwa. Wer mit SoldatInnenschnappschüssen oder Werbefotografien arbeitet und diese weiterverbreitet, übernimmt Mitverantwortung für diese Bilder – und reproduziert im schlimmsten Fall ihren ursprünglich gewünschten Effekt: Kriegsglorifizierung oder -relativierung in Thomas Gallers Fall, erweiterte und künstlerisch nobilitierte Werbewirksamkeit bei Matthias Gabi. Dass ich beide Bücher sehr gerne anschaue, akzentuiert das Problem nur noch.
Zuletzt reproduziert Matthias Gabi eine Lehrsituation, in der er die Ursprungsbilder bislang am wenigsten antastet: Auf zwei parallel geschalteten Diaprojektoren laufen – ähnlich wie bei Filmstill – 160 Kleinbilddias kurz getaktet ab, Leihgaben des Kunsthistorischen Seminars der Universität Basel. Diese Doppelprojektion geht auf die Lehrgepflogenheiten des Schweizer Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin zurück, hier wird ein akademischer Blick reproduziert, ein akademisches Vor-Urteil darüber, was angeschaut werden soll, und was nicht. Bei der Werkserie Repro wird das Trockene des Displays und der Reproduktionsfotografie noch verwässert, etwa durch eine halbnackte Frau, die auf dem Cover einer Fotozeitschrift einen Delphin küsst. Bei Dia-Doppelprojektion von 2018 reproduziert Repro, in trockenem Display, eine trockene Lehrsituation.
Was reproduziert Repro? Die Reproduktion, die Filme anderer, das Kleiden anderer, die Bücher anderer, die akademischen Vor-Urteile anderer, Stereotypen aus Film und Werbung. Meine bisher grösste Frage ist, sehr vielteilig, beantwortet.
Bleibt eine viel grössere Frage: Ist das Vorurteil das einzige, was heute noch produktiv reproduziert werden kann?