Die 10., von Gabi Ngcobo und ihrem Team kuratierte, Biennale ist gut. Das auch, weil sie selbst im Jubiläumsjahr der Versuchung nicht erliegt, in den Reigen der immer pointierteren kuratorischen Behauptungen, welche die letzten Ausgaben gekennzeichnet haben, einzureihen. Stattdessen hat sich das Kurator*innenteam – Gabi Ngcobo hat sich Nomaduma Rosa Masileia, Serubiri Moses, Thiago de Paula Souza und Yvette Mutumba an die Seite geholt – auf die äusserst übersichtliche Anzahl von fünf Austragungsorten, sowie auf die für eine Biennale erstaunlich limitierte Auswahl von 46 Künstler*innen beschränkt. Wobei konzentriert wohl die angebrachtere Formulierung wäre. Denn die rigorose Auslese erlaubte es, einzelne künstlerische Positionen gleich an mehreren Orten zu zeigen, sie so in je neue Referenzen einzubetten und dadurch eine Verdichtung von verschiedenen Bedeutungen anzustossen.
Die Ausstellungsgestaltung an drei (von fünf) Orten, an denen die Mehrheit der Exponate zu sehen sind, mutet fast schon traditionell an: Den einzelnen Werken wird viel Raum gegeben, mitunter auch eigene Kojen, so dass die Positionen meist zunächst einzeln betrachtet werden müssen, bevor Bezüge hergestellt werden können. Die Zeichnungen von Firelei Báez etwa nehmen einen prominenten Platz im Eingang zur Ausstellung in der Akademie der Künste ein und bilden so gleichsam eine Matrix postkolonialer Sensibilisierung über die weitere Besichtigungstour. Die Arbeiten befassen sich mit den kontrastierenden Bedeutungen von Sanssouci, einmal ist dies das deutsche Schloss von Friedrich dem II. und das andere Mal der in Haiti im frühen 19. Jahrhundert von König Henri Christoph beauftragten und nur mehr als Ruine existierende Palast, der das kolonialistische Erbe umzudeuten versuchte. Die unterschiedliche Historisierung der beiden miteinander verhängten Szenerien zersetzt die Künstlerin mit zeichnerischen Imaginationen, die darüber eine persönliche Schicht von Interpretation legen. Die losen über mehrere Räume verstreuten und aus den Ritzen des Parkettes herauswachsenden Schilfrohre von Sara Haq muten dagegen leicht kitschig an, vermögen dennoch der aufgeräumten Ausstellungsarchitektur etwas entgegen zu stellen. Überall findet sich zudem erstaunlich viel Malerei: abstrahierende Positionen wie etwa Johanna Unzueta oder Hermann Mbamba, ebenso wie Porträts wie die der jüngst im westlichen Kanon populär rezipierten Lynette Yiadom-Boakye oder selbstreflexive erzählerische Gemälde wie diejenigen von Lydia Hamann & Kaj Osteroth. Trotz formaler und auch inhaltlicher Parallelen schliessen wenige davon explizit an den westlich dominierten Diskurs zur Malerei an, was eine der überzeugendsten und zugleich unaufdringlichsten kuratorischen Verschiebungen im Biennale-Kontext darstellt: Die Abstraktionen von Mbamba etwa oszillieren zwischen organisch anmutender Figuration, bunten Farbfeldern und latenter Komposition, die wenig mit den stark konzeptuell basierten Positionen im westlichen Umfeld zu tun haben. Übertragen auf das Gesamtkonzept der 10. Ausgabe meint das, dass Postkolonialität weniger zur Debatte gestellt wird, als dass das Kurator*innenteam daraus eine Praxis abgeleitet hat, die unter anderem genau meint, die hegemonialen Diskurse gar nicht erst zu bedienen.
So liessen sich auch viele weitere der kleinen Gesten interpretieren, mit denen das Team die Ausstellung kuratiert, organisiert, vermittelt und kommuniziert hat. Die Verteilung der kuratorischen Kompetenzen auf fünf Leute aus unterschiedlichen kulturgeographischen Räumen führte zu einer Auswahl von Kunstschaffenden, von denen die wenigsten bereits über grosse Anerkennung im westlichen Kunstbetrieb verfügen. Ihre häufig sehr ortsspezifischen Auseinandersetzungen fordern zudem eine Beachtung ein, die der Aufmerksamkeitsökonomie von Biennale-Ausstellungen entgegensteht. Just diesen Mechanismus bedient aber die Arbeit Again / Noch einmal (2018) des Berliner Künstlers Mario Pfeiffer: In der überdimensioniert präsentierten Videoarbeit greift er einen dubiosen Akt von Zivilcourage der jüngsten deutschen Geschichte auf, bei dem vier Männer in einem Supermarkt einen sich scheinbar auffällig verhaltenden, offensichtlich fremdländisch erscheinenden Mann mit Gewalt festhalten und schliesslich der Polizei übergeben. Das Video zeigt, wie eine nachgestellte Jury den Fall des letztlich eines mysteriösen Todes gestorbenen Flüchtlings erneut zur Diskussion stellt. Die Arbeit bedient mit ihrer offensichtlichen Agenda die aktuell im West-Kunstkontext gerne zur Schau gestellten Ansprüche an politische Relevanz und eindeutige Positionierung und wird so zum penetranten Lehrstück.
Mit Ausnahme dieser Arbeit tragen die Kurator*innen dem mit dem Titel We don’t need another hero angedeuteten Vorhaben an ihr Ausstellungskonzept durchaus Rechnung: Es ist eine ebenso entschlossene, wie mit selbstverständlicher Entspanntheit vorgetragene Skepsis gegenüber Macht, die in der Form von Held*innen eine personifizierte Erstarrung finden kann. Der Titel ist einem Song von Tina Turner entlehnt, den sie in den 1980er Jahren für den Film Mad Max komponiert hat und in dem in für Popsongs gewohnt pathetischer und doch simpler Weise von der Möglichkeit einer besseren Welt gesungen wird. Die zentrale Referenz für das kuratorische Konzept ist also weder die grosse politische Geste noch eine literarische Trouvaille oder angesagte Hybridkulturen (wie dies in den letzten Jahren der Fall war), sondern ein Produkt der Mainstream-Kultur. Das Zitat behauptet weniger eine übergeordnete Gesamtidee, als dass damit ein Nachdenken angestossen wird darüber, wohin man mit der Suche nach Vorbildern heute gelangen könnte. Und gemeint sind dabei Vorbilder jeglicher Art: künstlerische Referenzen genauso wie intellektuelle Leitbilder oder ein politisches Selbstverständnis, wie es etwas von Mario Pfeiffer in leider problematischer Weise zur Schau gestellt wird. Wobei Vorbilder, quasi die sanfte Version der Held*innen, wohl auch wieder nicht genau das sind, worum es geht, dies kann zumindest aus dem Titel des Begleitprogrammes I’m not who you think I’m not geschlossen werden, denn: «Das Programm distanziert sich von Zuschreibungen bezüglich eines spezifischen Daseins und Know-hows. Als Folge gesellschaftlicher Konstrukte entstehen Annahmen darüber, wie jemand ist oder zu sein hat.» (Gabi Ngobo, Einleitung im Katalog). Obzwar der in diesem Votum aufscheinende «Kuratoren-Sprech» (so eine Berufskollegin) etwas ungeduldig macht, wird die Absicht, der Macht von Festschreibungen nicht konfrontativ, sondern flink, selbstbewusst und unaufgeregt auszuweichen, offenkundig. Und mit dieser Haltung wurden nicht nur die künstlerischen Arbeiten ausgewählt, sondern auch der infrastrukturelle Rahmen gehandhabt, etwa indem dem Reiz eine Grossausstellung zu machen genauso abgeschworen wurde, wie kein Interesse darin bestand, eine möglichst hohe Dichte an Prominenz zu versammeln – und das macht die 10. Berlin Biennale zu einem Ort unaufgeregter und doch konsistenter Statements.