Michel Majerus revisited

Michel Majerus ist in den Kanon der 1990er Jahre als ‹visueller DJ› eingegangen. Aber das Werk des all zu früh gestorbenen Künstlers bietet viel mehr als nur einen post-postmodernen Stilmix im Spannungsfeld von High and Low – wenn man es sich nur neu entfalten lassen würde.

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Michel Majerus beim Siebdrucken, 2002, Foto: Raimar Stange

Der 1967 geborene und 2002 bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommene Michel Majerus gilt heute als so konzeptioneller wie sinnlicher Maler, Bildhauer und Installationskünstler, der durch die «entgrenzende Kombination von Motiven der Kunstgeschichte mit denen der Massenkultur»[1] in den 1990er Jahren bekannt geworden ist. Typisch für seine Ästhetik sei das «virtuose Sampeln von Bilder und Worten aus unterschiedlichen Kontexten» und ein «unbekümmert spielerischer Zugriff auf die uns umgebenden Bildwelten», mit dem er sich «dem Erbe der Pop-Art» stelle.[2] Der Text auf der Wikipedia-Seite kann beinahe als allgemeingültig für die derzeitige Sicht auf das Werk von Michel Majerus angesehen werden. Der Wikipedia Eintrag impliziert eine Interpretation seiner Kunst als eine ästhetische Arbeit, die sich jedweder politischen Formulierung enthält, eben «unbekümmert spielerisch» ist. Und die, wie immer wieder in mehr oder weniger eloquenten Wiederholungen behauptet wird, daher also ‹cool›, ‹nicht kritisch› und ‹politisch indifferent› sei. Das trifft auf das frühe und mittlere Œuvre durchaus in gewisser Weise zu – aber sicher nicht für die abrupt beendete Werkphase, die tragischerweise zum ‹Spätwerk› des Künstlers wurde.

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Michel Majerus, Sozialpalast, 2002, im TV Programm, Foto: Raimar Stange

Katalogschreiber bezeichneten dieses ‹Spätwerk› dann auch schnell als ‹dunkel›, ja als ‹düster› und ‹more anxious›, vor allem die Arbeiten Sozialpalast, 2002, Space Invaders, 2002, und Pathfinder, 2002, charakterisierten sie so. In der Installation Sozialpalast hatte Majerus ein Foto von dem modernistischen Wohnkomplex Sozialpalast in der Größe 1:1 auf das Brandenburg Tor, einen der touristischen Hotspots Berlins, gespannt. Der Sozialpalast gilt seit den 1980er Jahren als berüchtigter sozialer Brennpunkt der Spreemetropole. Die Serie Space Invaders zeigt die Benutzeroberoberfläche des frühen, längst klassischen gleichnamigen Computer-Kriegsspiels; zu Pathfinder, einem der letzten grossen Bilder des Künstlers, später mehr. Signifikant ist, dass die so gar nicht mehr unbekümmert-spielerische ‹Düsterheit› dieser sozialkritischen und aggressiven Arbeiten nie politisch gelesen wurde. Vielmehr werden sie als subjektive Psychogramme betrachtet. Stellvertretend hierfür sei Veit Loers zitiert, der in seinem Text Splash Bombs – Zur Malerei von Michel Majerus 2005 schrieb, dass sich in den späten Bildern eine «dunkle Seite» beigemischt habe und diese Bilder seine «als Memento Mori oder eine Warnung an sich selbst» zu verstehen, «den Lebenscode seiner Bilder auch im Tod zu verankern».[3] Loers unterstellt also hier latent Todesahnung angesichts des Flugzeugabsturzes. Plump psychologisierend wird also interpretiert, statt die Bilder, was eigentlich naheliegen würde, in den zeithistorischen politischen Kontext zu stellen.

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Michel Majerus, Pathfinder, 2002, Digitaldruck auf Vinyl, 380 x 290 cm, © Michel Majerus Estate, Courtesy neugerriemschneider, Berlin, and Matthew Marks Gallery, New York, Foto: Jens Ziehe, Berlin

Letzteres möchte ich in einer Analyse des besagten Bildes Pathfinder unternehmen. Die grossformatige Arbeit ‹jammt› ein Cover des deutschen Satiremagazins Pardon aus dem Dezember 1976, auf das der Künstler zwei vertikale, teilweise übereinander gelegte monochrome Farbstreifen in Magenta und Gelb über den rechten Teil des ansonsten 1:1 übernommenen Covers legte. Beinahe scheint es so, als handle es sich hier um einen Fehldruck. Dieses Cover zeigt die monströse Phantasiefilmfigur King Kong sitzend auf einem Hochhaus, auf dem «Kaufho» zu lesen ist. Selbstverständlich spielt diese Gestaltung u. a. auf das Filmplakat zu dem King Kong-Remake von John Guillermin aus demselben Jahr an. Da im Hintergrund des Covers das Empire State Building zu sehen ist, handelt es sich bei diesem Hochhaus also auch nicht um eines der deutschen Kaufhaus-Kette Kaufhof, sondern um einen der New Yorker Twin Towers, um das herum auf dem Bild zudem ein militärischer Düsenjet fliegt. King Kong hat Weihnachtsgeschenke unter dem linken Arm und in der rechten Hand eine Rute. Die zu lesende Headline lautet dann auch, damals wohl albern erscheinend: «Papst Paul bestätigt: King Kong ist der Weihnachtsmann». Majerus schuf das Werk Pathfinder 26 Jahre nach dem Erscheinen des Pardon-Heftes und nur wenige Monate nach den mörderischen Anschlägen auf die New Yorker Twin Towers. Offensichtlich thematisiert das Original-Pardon-Cover das kapitalistische Phänomen ‹Konsumrausch›. Genau dieses Thema setzt Majerus in Pathfinder dann in den zeitlichen Kontext von den Terroranschlägen auf die Twin Towers.[4] Und diese Bezugnahme hat durchaus diskursiv-kritische Qualitäten, denn der westliche, komplett säkularisierte Lebensstil und das damit einhergehende Moment der Kommodifizierung sämtlicher, also auch der einst religiösen Lebensbereiche ist sicherlich ein Grund für den von religiösen Fundamentalisten ausgehenden Terror unserer Tage. Bezeichnenderweise gibt es zu dieser offensichtlich explizit politischen Arbeit des Künstlers meines Wissens keine Diskussion. Auch in den bisher veröffentlichten Katalogtexten taucht kaum ein Kommentar zu Pathfinder auf, stattdessen wird dieses Bild immer noch im Kontext der vermeintlich psychologisch ‹düsteren› Arbeiten interpretiert. So gewinnt man den Eindruck, dass die politische Dimension dieser Arbeit ‹weggelogen› werden soll.

Slavoj Zizek hat einmal über ‹wirklich grosse Kunstwerke› geschrieben: «Mit jedem neuen Kontext scheint ein klassisches Kunstwerk die speziellen Charakteristika jeder Epoche anzusprechen – was Hegel ‹konkrete Allgemeinheit› genannt hat».[5] Wo könnte die «konkrete Allgemeinheit» von Michel Majerus' Ästhetik heute liegen? Wie also, um es ein wenig einfacher zu formulieren, könnte seine Kunst die heutige Zeit konkret ansprechen? Eine Zeit, die nun mal andere Charakteristika aufweist als die nach dem vermeintlichen Abschied vom Kommunismus von der weltpolitischen Bühne vergleichsweise ‹optimistischen› 1990er Jahre, in der Majerus' Werk ‹gross geworden› ist? Lässt sich also das eingangs beschriebene, so virtuose wie konsumfreundliche Sampeln unterschiedlichster visueller Grammatiken aus heutiger Perspektive auch als eine Kritik an der sich zunehmend neoliberal und globalisierend entwickelnden Konsumgesellschaft lesen?

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Michel Majerus, Split, 2000, Acryl auf Baumwolle, 210 x 210 cm, © Michel Majerus Estate, Courtesy Boros Collection, Berlin, Foto: Jens Ziehe, Berlin

Jüngst habe ich in einem Aufsatz versucht, diese Fragen zu beantworten. Hier ein Auszug: «‹Pop is Terror› steht in Acryl auf Leinwand in der Arbeit Ohne Titel 653, 2000, auf blauem Grund, in einer Schrift, die ein wenig an die Techno-Kultur der 1990er Jahre erinnert. Die Arbeit entstand etwa ein Jahr vor 9/11 – auch darum scheint klar zu sein: Majerus' Satz spielt weniger auf den internationalen Terror, der in den letzten Jahren die Welt in Atem hielt, an, sondern auf den Konsumterror – Stichwort: Reizüberflutung durch Musik und Mode –, den Wolfgang Fritz Haug 1971 erstmals in seinem immer noch wichtigen Buch Die Kritik der Warenästhetik einer umfassenden Analyse unterzogen hat. Diese Lesart des ‹Pop is Terror› steht keineswegs im Widerspruch zu der Interpretation des Oeuvres von Majerus, die dieses als hedonistischen ‹Post-Pop› inklusive postmodernen Samplings behauptet, ist doch dieser Hedonismus der Ausgangspunkt für Majerus' Gesellschaftskritik. Bilder wie Split, 2000, unterstreichen dies nachhaltig. Auf diesem Bild ist das Logo des deutschen Speiseeiscreme-Produzenten Langnese sowie der Produktname Split auf gelben Grund dargestellt, dazu am linken Rand ein geschwind hingehauchter roter Pinselstrich, der, das vielbeschworene Treffen von High and Low ereignet sich, an Formulierungen des Abstrakten Expressionismus erinnert. Diese malerisch zusammengesampelte Allianz von Konsum- und Kunstwelt reflektiert in der Konfrontation beider Betriebssysteme die zentrale Rolle, die der Konsum heute in unserer Kultur spielt, und unterstreicht, dass der massenhafte Konsum (von Eis, von Kunst, von visuellen Daten) längst eine einst elitäre, nur wenigen mögliche Form der Aneignung ersetzt und dabei einst als abgesichert gedachte Differenzen aufgehoben hat. Aus der Perspektive dieses Textfragmentes kann Split dann durchaus als eine Arbeit angesehen werden, die die politische Aussage von Pathfinder, nämlich ihre Reflexion darüber, welche desaströsen Konsequenzen eine gnadenlose Kommodifizierung hat, mit vorbereitet.»[6

Übrigens ist das hier von Majerus vorgeführte Sampeln von populärer Werbegrafik und jüngerer Kunstgeschichte alles andere als ein vermeintlich ‹unbekümmert spielerischer Zugriff auf die uns umgebenden Bildwelten› denn dieses virtuose Sampeln birgt ebenfalls diverse politische Dimensionen in sich. Zum einen nämlich weist dieses Sampeln eine (bürgerliche) Vorstellung von Autorenschaft in die Schranken, die davon ausgeht, dass künstlerische Werke gleichsam eigenständig, aus sich selbst heraus mit innovativ erfundenen Formulierungen geschaffen werden. Somit erweist sich das Subjekt in Majerus' Kunst eben nicht als ein freies, sondern als eines, das quasi in den ‹umgebenden Bildwelten› gefangen ist. Zum anderen versucht dieses Sampeln in dieser Situation wenigstens insofern selbst aktiv zu werden, indem es diese ‹Bildwelten› nicht nur brav passiv konsumiert, sondern sie produktiv, und, wie beschrieben, durchaus kritisch, neu arrangiert.

Der oben gerade zitierte Textausschnitt nun steht in einem Essay von mir, direkt vor meiner oben ausgeführten Interpretation zu Pathfinder. Der Text wurde von der Berliner Sammlung Boros in Auftrag gegeben und auch von dieser bezahlt – aber dann leider doch nicht publiziert. Die Sammlung Boros ist also – das mein Schluss aus der Ablehnung meines Artikels – weder wirklich an den explizit politischen Arbeiten von Michel Majerus interessiert, noch an der besagten Hegelschen «konkreten Allgemeinheit» ihrer Kunstwerke – die beiden in meinem Text re/interpretierten Bilder Ohne Titel 653 und Split sind in Besitz der Sammlung Boros. Stattdessen möchten sie die einmal festgeschriebene Deutung von Majerus’ Arbeiten bestätigt sehen, die dann gerade wegen ihrer scheinbar souveränen Unantastbarkeit das hohe preisliche Niveau dieser Kunst garantieren soll. Die Berliner Galerie neugerriemschneider, die Majerus immer noch vertritt, eröffnete übrigens zur selben Zeit eine Ausstellung mit Werken des Künstlers, die alle auf Aluminium gemalt sind. Das Michel Majerus Estate, ebenfalls in Berlin ansässig, öffnete parallel dazu das Archiv des Künstlers – wow, man kann all die Comics, auf die sich Majerus bezog, ‹im Original› sehen! – und dessen Präsentation begleitet jetzt die Ausstellungen früher Arbeiten. Auch hier geht es offensichtlich nicht darum, das Werk neu zu lesen, sondern vor allem darum, es formal zu ästhetisieren und mehr oder weniger zu musealisieren. So wird diese Kunst sammlerfreundlich einbalsamiert, und damit stirbt jetzt bedauerlicherweise auch noch ein wesentlicher Aspekt im Majerus’ Werk – dass das New Yorker MoMA dieses Jahr wohl Werke von Majerus angekauft hat, ändert daran nichts.

[1] «Michel Majerus», in: Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Michel_Majerus, 12.6.2017.
[2] Ebd.
[3] Veit Loers, «Splash Bombs – Zur Malerei von Michel Majerus», in: Michel Majerus. Installationen 92 – 02, Ausst.-Kat., hrsg. von Kunsthaus Graz, Stedelijk Museum, Deichtorhallen Hamburg, Köln 2005, S. 198.
[4] Einen (symbolischen) Angriff auf die USA unternahm Majerus auch in seiner Installation controlling the moonlight maze, in der u.a. eine, wie einst bei TV-Bildstörung, verzerrte Stars and Stripes-Flagge zu sehen ist. Auch in dem Gemälde tex mex findet sich übrigens eine verzerrte Stars and Stripes-Flagge. Die Farben wurden hier zudem so geändert, dass sich die Flagge farblich der mexikanischen Fahne annähert. Nach dem Flaggengesetz der USA ist eine solche Deformation im ‹richtigen Leben› strikt verboten. Beide Arbeiten entstanden ebenfalls 2002.
[5] Slavoj Zizek, Das Jahr der gefährlichen Träume, Frankfurt am Main 2013, S. 176.
[6] Raimar Stange, Unveröffentlichtes Manuskript, 2017.