Plädoyer für eine mythologische, inter-ligente und dividuelle Kunstkritik

In digitalisierten, post- und transhumanen Zeiten wird aus dem Urteil ein ‹Nurteil›. Erst einmal online, diffundiert Kritik in die Kanäle der Social Networks, wird kommentiert, ergänzt, ironisiert, persifliert, korrigiert. Individuelle Kritik hat sich in dividuelle Kritik verwandelt. Eine Antwort auf Engagierte Kunstkritik – 7 Thesen von Ines Kleesattel und Pablo Müller.
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Mythos

Eine kleine Polemik gegen jenen Begriff, der hier zur Disposition steht, kann ich mir zu Beginn dieses Essays nicht verkneifen. Rein lexikalisch betrachtet ist ‹engagiert› wunderbar und korrekt, aus soziolinguistischer Sicht trägt der Begriff jedoch gewisse Konnotationen mit sich, die mir Unbehagen bereiten. Engagierte Kunstkritik klingt in meinen Ohren ein wenig beflissen, ein wenig streberhaft, ein wenig nach New-Labour-Politik der 1990er-Jahre: ‹engaged art›. Auch erinnert er an Zeugnissprech: Die Schülerin/der Schüler zeigte grosses Engagement (was meist impliziert: sie oder er strengte sich an, aber die Resultate liessen zu wünschen übrig). Von ‹engaged› zu ‹embedded› schliesslich ist oft nur ein kleiner Schritt – dahingehend würde ich sagen: Unabhängige Kunstkritik, traditionell der ‹sidekick›des autonomen Individuums, mag wie letzteres ein Phantasma sein, aber engagierte Kunstkritik könnte Gefahr laufen, von einer Gegenwartsströmung aufgesogen zu werden, die der Philosoph Gerald Raunig, auf den ich später erneut zu sprechen kommen werde, in seinem Buch Dividuum wie folgt beschreibt: «Das Maschinisch-Werden des Kapitalismus impliziert einen Prozess der zunehmenden Verpflichtung und Selbstverpflichtung zur Teilnahme der Teile. Dieser Imperativ der Involvierung, des Engagements und der Selbstaktivierung prägt die Verstrickungen und umfassenden Inwertsetzungen im maschinischen Kapitalismus, ohne klare Grenzen zwischen Rezeption und Produktion.»[1]

Es ist eine Binsenweisheit, dass Kunstkritik nicht unabhängig ist, dass es grundsätzlich kein real existierendes Aussen gibt, dass jeder Mensch ein Homo mundanus (Wolfgang Welsch), ein auf mannigfaltige Weise mit seiner Umwelt verwobenes Wesen, ist. Das bedeutet jedoch auch, dass es kein Innen gibt, was die ganze Diskussion irgendwie hinfällig macht. Ob unabhängige Kritik existiert, ist de facto gar nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sie einem Willen zur Unabhängigkeit Ausdruck verleiht und dadurch Dinge in Bewegung versetzt. Ich möchte diesen Willen einen mythologischen nennen.

Der polnische Philosoph Leszek Kołakowski hat Mythen in seinem Buch Die Gegenwärtigkeit des Mythos als Geschichten interpretiert, die lehren, was einen Wert darstellen soll. Sie seien unvermeidlich für die Existenz aller menschlichen Gesellschaften. Die mythische Erfahrung relativiere jede mögliche Erfahrung und beziehe sich auf Realitäten, die keine logische Bindung mit der verbalen Beschreibung der Realität eingehen. Mythen schaffen für Kołakowski ein dem realen Werden enthobenes Paradigma, dem man im realen Werden nacheifern kann.[2] So gibt es natürlich keine Freiheit im romantischen Sinne, alleine schon aufgrund unserer biologischen Abhängigkeiten. Aber wir sollten vielleicht doch frei sein wollen – alles andere mündet in Defätismus. Sprich, der Mythos von Unabhängigkeit und Autonomie eröffnet einen Möglichkeitsraum, der zwar nie gänzlich erfüllt wird, der aber zumindest als Zwischenraum einen Keil zwischen uns und die Faktizität treibt.

 

Inter-ligenz

Apropos Zwischenraum: Wenn es nicht so bildungsbürgerlich und harmlos wie gleichzeitig arrogant klänge: Mir persönlich wäre ja eine intelligente Kunstkritik am liebsten, ‹intelligent› im Sinne von ‹inter-legere›: eine zwischen den Zeilen lesende, Zwischenräume auslotende und durchmessende Kritik, denn für eine solche wäre es selbstverständlich, ja unvermeidlich, über das Kunstfeld hinaus zu schauen, wie es in den sieben Thesen hiess, oder besser gesagt: Sie würde feststellen, dass das Kunstfeld ohnehin beständig in sich selbst über sich selbst hinauswächst respektive längst gewachsen ist.

Spätestens seit der «Explosion der Ästhetik» (Gianni Vattimo) im 20. Jahrhundert ist das Kunstfeld inhärent transkünstlerisch, von Kurt Schwitters Hufeisen-inkorporierenden Merzbildern über Andy Warhols Business-Art oder Party-as-Art bis hin zur heutigen Artistic Research, Relational Aesthetics oder «art without artists» (Anton Vidokle) und «artists without art» (Brad Troemel). Auch Interdisziplinarität war über weite Strecken der Geschichte der Kunst eher die Regel als die Ausnahme, man denke nur an die Renaissance oder an Arts and Crafts. Kritik sollte somit selbst ‹inter› und ‹trans› sein, da sie sich, insbesondere mit Blick auf die zeitgenössische, biennalebefähigte, forschungskonforme oder aktivistische Kunst, auf Trans- und Interphänomene bezieht. Sprich, wer über Vito Acconcis frühe Arbeiten schreibt, ohne die sexuelle Revolution der 1960er- und 1970er-Jahre einzubeziehen, der schreibt nicht wirklich über Acconcis frühe Arbeiten. Wer wiederum über Konkrete Kunst schreibt, ohne deren Einfluss auf Firmenlogos einzubeziehen, schreibt nicht wirklich über Konkrete Kunst.

Wenn wir uns nicht blind, taub, stumm oder dumm stellen, können wir gar nicht anders, als, Zitat aus dem Thesenpapier, «Momente des Dialogischen, des Multiperspektivischen, des Diskutierens und des Widerspruchs» im Kunstfeld zu registrieren. Imperativische Forderungen wie «die Kritik muss solidarisch sein» oder «die Kritik muss streitbar sein» erübrigen sich dahingehend, wenn die Kritik nur intelligent ist, genauer gesagt: ‹Intelligenz› müsste eigentlich ‹Inter-ligenz› heissen und Intellektuelle ‹Inter-lektuelle›.

 

Dividuum

Ein weiterer Punkt aus den sieben Thesen betrifft den Einbezug von Laien oder, wie es heisst, «den Einbezug einer weiteren Öffentlichkeit». In dieser Hinsicht, so meine ich, können wir uns beruhigt zurücklehnen und die neuen Medien ihr Werk tun lassen. Es liegt nicht an uns, den Kritikerinnen und Kritikern, in der Manier britischer Kulturpolitiker dem Volke die Hand zu reichen und uns dem Community Building zu verschreiben. Das erledigen die Maschinen, Medien und Algorithmen von selbst für uns. Marshall McLuhan schrieb 1967: «Das Medium oder der Prozess unserer Zeit – die elektronische Technologie – verändert die Form und Struktur sozialer Beziehungsmuster und alle Aspekte unseres Privatlebens. Es zwingt uns, praktisch jeden Gedanken, jede Handlung und jede Institution, die bisher als selbstverständlich galten, zu überdenken und neu zu bewerten. Alles verändert sich – du, deine Familie, deine Nachbarn, deine Ausbildung, deine Arbeit, deine Regierung, deine Beziehung zu den anderen. Und die Veränderungen sind gravierend.»[3]

McLuhans gegenwartsdiagnostische Kompetenzen erscheinen gerade heute unstrittig. Durch die Digitalisierung und die sozialen Netzwerke hat die Kunstkritik, ohne dass es Kunstkritiker/innen notwendigerweise beabsichtigt hätten, neue Formen und neue Funktionen angenommen. Wenn ich vor zehn, fünfzehn Jahren einen Artikel veröffentlichte, war das höchste der Feedbackgefühle ein wütender Leserbrief, mitunter auch ein lobender, oder ein Anruf einer oder eines Bekannten. Heute indes verwandeln sich meine Artikel, so sie erst einmal online sind, automatisch, ohne mein Zutun und ohne meine direkte Einwilligung, in Koproduktionen. Sie werden in ihre Einzelteile zerlegt, mal hier, mal da zitiert – also: im Idealfall, häufig werden sie natürlich einfach ignoriert –, sie werden aus dem Zusammenhang gerissen und neu kontextualisiert, vor allem aber werden sie, so es der betreffende Publikationsort zulässt, kommentiert.

Im Gegensatz zu einigen meiner Kollegen, die sich vor allem über rhetorische Tiefschläge, Verbalaggression und Enthemmung im Netz beklagen, erachte ich die Kommentarfunktion als einen klaren Gewinn für die Kritik. Sie macht meine Kunstkritik besser, insbesondere wenn ich sie in einer Zeitschrift wie Die Zeit veröffentliche, wo Kommentare nach der Onlinefreischaltung möglich sind (viele Highbrow-Kunstmagazine haben diese Funktion nicht oder sourcen sie an ihre Facebook-Seiten aus). Seit es Kommentarfunktionen, seit es Sharing-Buttons und Tweet-Optionen gibt, sehe ich meine Texte nicht mehr als abgeschlossene Werke an, sondern als ‹Kon-Texte›, über die ich als Autor, wiewohl nicht tot, keine volle Kontrolle habe. Ich erkenne in den Invektiven, in den Ergänzungen, in den Korrekturen durch jene obskuren Leserinnen und Leser, denen ich nie persönlich begegnet bin, eine Form des Schreibens und vor allem auch des Kritisierens, das ich nicht kommunitäres, nicht kollaboratives, sondern in Anlehnung an Raunig dividuelles Schreiben nennen möchte.

In der klassischen Kunstkritik spielte die Vorstellung des autonomen Individuums, wie erwähnt, eine wichtige Rolle: Eine Einzelne oder ein Einzelner fällte nach bestem Wissen und Gewissen ein Urteil und kommunizierte dieses an ein idealerweise mündiges Publikum, das allenfalls vermittels Leserbriefen darauf zu reagieren vermochte. In digitalisierten, vernetzten, post- und transhumanen Zeiten indes ist aus dem Urteil ein ‹Nurteil› geworden. Erst einmal online, wird Kritik in doppeltem Sinne geteilt und neu kontextualisiert. Wichtig dabei ist, dass man sich seine Koautoren nicht aussuchen kann, dass man nicht über sie verfügt. Man wird weitergeschrieben. Man könnte soweit gehen, zu sagen, dass Derridas viel zitierter Urtext in diesen Fällen tatsächlich verloren ist – die Kritik, das Urteil, die These existieren nicht länger gesondert von den Reaktionen und sonstigen Einschreibungen anderer, vielmehr teilen sie sich einen gemeinsamen, wenngleich virtuellen Raum und bilden ein dialektisches, prozessuales Gefüge. Die Zeitlichkeit kehrt zurück in die Texte, das Urteil erscheint nicht länger in Stein gemeisselt, sondern bildet einen Steinbruch, aus welchem beständig Material für Erweiterungs- oder Konkurrenzbauten abgetragen wird. Somit prognostiziere ich, dass Einzelkritiker in Zukunft weniger denn je den Ton angeben, sondern sich eher im Verbund mit dem Chor der Kommentare, Klicks und Likes Gehör verschaffen werden – der dauertweetende und marathonbloggende Jerry Saltz vom New York Magazine ist ein gutes Beispiel dafür: Er war erst in der individuellen Zeit zuhause und ist nun ein heftig umflatterter Star der dividuellen. Mit einem nicht-künstlerischen Beispiel gesprochen: Für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung der Nachkriegszeit war es das Wichtigste, wenige zentrale Medien zu erreichen, es etwa auf das Cover des Time Magazine zu schaffen. Damit war die Kritik wirksam geworden. Heute muss man auf einer Unzahl von Kanälen simultan präsent sein, man muss sich dividuieren (lassen) oder besser gesagt: sich dem Dividuellen aussetzen. Beziehungsweise muss man das natürlich nicht. In den meisten Fällen geschieht es ohnehin.

 

Der Artikel basiert auf einem Vortrag präsentiert an der Tagung Engagiertes vermitteln. Kunstpädagogik Kunstkritik Kunstvermittlung. Die Tagung wurde von der Forschungsgruppe Kunst, Design & Öffentlichkeit der Hochschule Luzern – Kunst & Design in Zusammenarbeit mit dem Master of Arts in Fine Arts organisiert und von AICA – Association internationale des critiques d’art: Section suisse unterstützt.

[1] Raunig, Gerald. Dividuum. Maschinistischer Kapitalismus und molekulare Revolution. Wien: Transversal Texts, 2015, 15.

[2] Kołakowski, Leszek. Die Gegenwärtigkeit des Mythos. München: Piper-Verlag, 1973.

[3] McLuhan, Marshall und Quentin Fiore. Das Medium ist die Massage. Stuttgart: Tropen, 2014, 8.