Jahresrückblick

Sam Pulitzer: der Schatten des Problems an sich

Einige Ereignisse werfen ihren Schatten voraus, sagt man. Noch passiert nichts – man ahnte es aber schon, zumindest rückblickend. Welche Ereignisse es in diesem neuen Jahr sein mögen, sei vorerst dahingestellt. Was im vergangenen Jahr 2017 hingegen hätte geahnt werden können, das lesen wir nicht aus dem Satz des Silvesterkaterkaffees, sondern aus der Soloshow Shadow of the Problem as Such des jungen Amerikaners Sam Pulitzer (geboren im omenhaften 1984) in der Galerie Francesca Pia in Zürich.
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Sam Pulitzer, … events had been piling up fast think, 2017, Foto: Marc Asekhame

… events had been piling up fast think, 2017, so Titel und teilweiser Inhalt einer der Wandtürumrisse aus Vinylbuchstaben, auf die wir in der Ausstellung schauen (insgesamt sind es sieben). Das (innere) Auge ergänzt die der Draufsicht fehlende Durchsicht; denn die umrissene Tür – sei sie denn offen – führt zu: nichts. Beziehungsweise nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dem sprichwörtlichen, hier aber auch wortwörtlichen Weiss des Galerieraums. Anlass genug, das so genannte Superkunstjahr (und Unwort des Jahres) zusammenzufassen: Im Weissen nichts Neues. 

Zum Beispiel: Kuratorische Hypergeneralisierungen auf Christine Macels Viva Arte Viva in Venedig, zum Beispiel lose Gruppierungen nach klitzekleinstmöglichem Nenner wie Pavilion of the Earth; gut gekontert von nachdenklichen Einzelwerken wie Sam Lewitts hyperspezifischer Installation Stranded Assets, einer Serie abstrahierter Reproduktionen eines Arbeitshandbuchs aus dem kürzlich geschlossenen, aber inzwischen schon als Biennale-Standort erschlossenen Elektrizitätswerk im Industriegebiet Porto Marghera in Venedig. 

Sam Lewitt, Stranded Assets, 2017, Foto: Julia Moritz

Sam Lewitt, Stranded Assets, 2017, Foto: Miguel Abreu Gallery

Geschlossen wie die Pforten jenes Werks scheint mir schliesslich jedoch auch das Portal in Raum und Zeit, das uns hätte entschlüsselt haben können, welche konkreten Ereignisse tatsächlich zur Deindustrialisierung in Marghera führten. Und auch Pulitzers umrissene Tür beliebt verhältnismässig fest verschlossen, misst man sie am Ausmass von Auskunft, welche betitelten Ereignisse sich hier nun überschlagen … hätten … sollen. Hinweise auf eine Jahresbilanz finden sich aber doch: if this works, it won’t be a miracle, 2017, und do I like drinking more than self-employment?, 2017, und so kommentieren Tür 2 und 3 auf systemkritische und sympathischerweise etwas schuldbewusste Weise eine gnadenlos voranschreitende Neoliberalisierung von Arbeitswelt.

Sam Pulitzer, if this works, it won’t be a miracle, 2017, Foto: Marc Asekhame

Sam Pulitzer, do I like drinking more than self-employment?, 2017, Foto: Marc Asekhame

Pulitzers Frage nach dem strukturellen Erfordernis von Rauschhaftigkeit mag man auf der 5. Skulptur Projekte Münster beherzt positiv beantworten. Nicht allein wegen der ansteckenden Lebenslust des Chefkurators schlechthin, Kasper König; nicht allein wegen der geradezu frenetischen Feier verhältnismässig überholter Kunstbegriffe; nicht allein wegen Oscar Tuazons stur-schöner Betonskulptur am Hafengrenzweg, Burn the Formwork, die streunendes Kunst- und anderes Volk zum nächtlichen Zündeln lädt.


Zu Pulitzers Türen gesellt sich Weiteres: Zwanzig grafische Arbeiten bevölkern die weisse Wand; befasst ebenfalls (laut Ausstellungstext) mit «festgehaltenen Präzedenzfällen der Gegenwart», 2017 also (wobei die Ausstellungswerkliste nicht alle Entstehungsjahre der Grafiken preisgibt). Sie ermutigen. Zum Beispiel zu der Rückfrage: Wie sähe sie denn nun aus, die von jenen Präzedenzen geschaffene Zukunft? 

Sam Pulitzer, Foto: Annik Wetter

Zur Antwort eilt eine andere Erinnerung: Angela Melitopoulos’ 4-Kanal-Video-Essay und 16-Kanal-Sound-Installation Crossings im Giesshaus der Kasseler Universität. Die 109 Minuten prägen sich ein. Besonders die bewegenden Momente sozialer Bewegungen, oder auch bewaffneter Milizen, wie der kurdischen YPG in Syrien und ihres Partisanensongs, gesummt von der Jugend. Zukunft allein wünscht man ihr, sehnlich.

Angela Melitopoulos, Crossings, 2017, Foto: Julia Moritz


the problem as such misst gerahmt 32 x 47,5 x 3,5 cm und starrt uns aus fiesen Comic-Augen in flächigem Comic-Gesicht aus der Hand Pulitzers an. Plötzlich! Es wird Kristallkugel-klar: Der Schatten – c’est moi! Steht da, ganz lässig, im Türrahmen (der Wandarbeit). Folgt dann auf Schritt und Tritt (Oberlicht statt Höhlenfeuer sei Dank) und ist doch immer einen Schritt voraus (aus dem Löwenbräu), mit einem Bein im neuen Jahr. Wichtig für das wundersame Werk Pulitzers: es braucht sein Gegenüber. Denn: Tief greift es in die Trickkiste der Anrufungen, der Werbebilder und Bildungsmittel. In ihrem Schatten fristest du dein Leben – und wirfst voraus, was dann geschieht. Shadow of the Problem as Such – der Schatten als passiertes Ereignis und aktives Gegenüber zugleich. 2018 also (orakelt aus Pulitzers kaleidoskopischer Schau): eine Farce? Aber mit Fluchtweg. 

Sam Pulitzer, the problem as such, 2017, Foto: Marc Asekhame