From the Margins

Für eine Kunstkritik aus dem Off

In den klassischen (Print-)Medien findet eine Kunstkritik kaum mehr statt. Deshalb bietet sich ein Rückzug in spezialisierte Kunstmagazine, Blogs und Onlinepublikationen als Ausweg an. Von den Rändern her ist es möglich, den Kanon in Bewegung zu versetzen und ihn langfristig zu verschieben. Eine Antwort auf Engagierte Kunstkritik – 7 Thesen von Ines Kleesattel und Pablo Müller.
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 Zu 1. Noch kein Ende in Sicht:

In ihrer Ausgabe zum 25-jährigen Jubiläum mit dem Titel The Canon stellt die Herausgeberschaft von Texte zur Kunst fest, dass die Zeitschrift inzwischen selbst «zu den Institutionen der Kanonbildung» gehöre. Um 1990 hatten theoretische Ansätze, wie sie die Zeitschrift von Anfang an vertrat, zumindest im deutschsprachigen Raum noch eine Seltenheit. Kanon wird hier verstanden als «Schauplatz eines lebendigen kunstkritischen Streits», der mit «jeweils aktuellen Werturteilen unterlegt ist». Es sei indessen möglich, Aspekte des jeweiligen hegemonialen Verständnisses zu verschieben und damit dessen Narrative und Kriterien infrage zu stellen. Als Beispiele für «die Dynamik zwischen Kritik und Überlieferungszusammenhang» werden explizit die «feministische oder postkoloniale Kanonkritik» hervorgehoben, also Positionen von marginalisierten Bevölkerungsgruppen.[1]

Mit dieser Selbstpositionierung liefert Texte zur Kunst wichtige Argumente für eine Kunstkritik von den Rändern, hat sie sich mit ihren Positionen doch selbst von der Peripherie ins Zentrum vorgearbeitet. Gegenhegemoniale Initiativen, vor allem wenn sie von einer Gruppe oder einer Bewegung getragen werden, können im Laufe der Zeit mehr Einfluss entfalten, als man sich das gemeinhin vorstellt. Ein weiteres Beispiel für eine solche Position sei hier genannt: Okwui Enwezor, der sich in den 1980er-Jahren für die Sichtbarmachung postkolonialer Kunst einzusetzen begann und mit dieser Verschiebung des hegemonialen Diskurses selbst zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten des Kunstbetriebs wurde.

Texte zur Kunst wurde 1990 in Köln als deutschsprachige Publikation gegründet; heute erscheint sie zweisprachig deutsch/englisch und ist in Berlin domiziliert. Enwezor hingegen stammt auch geografisch – zumindest aus der Perspektive des westlichen Kunstbetriebs – aus einer entlegenen Region, kommt also im doppelten Wortsinn ‹from the margins›.

Bemerkenswert in seinem Fall: Enwezor ist als künstlerischer Leiter der Documenta 11 in Kassel eine Hegemonieverschiebung innerhalb einer Institution gelungen, die allerdings durch seine Vorgängerin Catherine David vorgespurt worden war. Denn zuvor stand bei allen Ausgaben der 1955 gegründeten Grossausstellung – trotz dem von Anfang an postulierten Anspruch, ein Forum der ‹Weltkunst› zu sein – stets die Kunst des Westens im Mittelpunkt.  

 

Zu 2. Mit der Kritik in der Welt sein:

Einerlei, ob ein Protagonist, eine Protagonistin sich im Zentrum oder an der Peripherie des Kunstbetriebs situiert: ein ‹Ausserhalb› gibt es nicht. Wie alle sozialen Systeme ist das Kunstsystem von Machtbeziehungen durchdrungen. Wer also am Rande steht, hat in aller Regel weniger Macht als jene im Zentrum. Aber das Zentrum (oder der Kanon) lässt sich – nicht im Alleingang, sondern im Verbund mit vielen Mitstreiter/innen – in Bewegung versetzen. Die Positionen innerhalb eines Systems sind also niemals festgeschrieben, sondern im Gegenteil mehr oder weniger volatil. Solche Bewegungen können gesellschaftspolitischer Art sein, denken wir an den Feminismus oder generell an die Bürgerrechtsbewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre. Ohne eine feministische Bewegung ist feministische Kunst kaum denkbar, und das gilt auch für die postkoloniale Kunst.  

Trotz der Einsicht, dass es ein ‹Ausserhalb›, sprich Autonomie, nicht geben kann, ist ein kritischer Einspruch aus einer Position im Zentrum heraus kaum vorstellbar. Für eine relevante Kritik braucht es eine gewisse Unabhängigkeit. Wer heute eine Ausstellung kuratiert, morgen einen Katalogtext verfasst und zwischendurch mal eine Kunstkritik schreibt, der oder die ist so eng mit dem Netzwerk der Kunst verflochten, dass ein autonomes Urteil unmöglich erscheint (es sei denn, eine Person hätte sich bereits – wie Okwui Enwezor oder Ai Weiwei – ins Zentrum vorgearbeitet).

 

Zu 3. Institutionskritik:

Eine Analyse der Machtbeziehungen des Feldes muss als Voraussetzung für eine gesellschaftsbezogene Kunstkritik bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang ist die Situierung der künstlerischen Position, über die man schreibt, in diesem Feld unabdingbar: Welche Interessen bedient sie, welche Ziele verfolgt sie, welche Abhängigkeiten sind prägend? Hilfreich bei einer solchen Analyse sind oft die vermittelnden Texte zu einem künstlerischen Werk wie zum Beispiel Presse- oder Besuchertexte, denn oft zeigen sich dort diese Interessen und Abhängigkeiten sehr deutlich.

Dazu gehört selbstverständlich, auch die eigene Position zu reflektieren (auch wenn diese nicht immer explizit genannt wird). Als Redaktorin einer linken Wochenzeitung hat sich dies meist erübrigt. Eine solche klare Positionierung birgt allerdings auch Gefahren: So kann eine Kritik schnell als politisch motiviert abgetan werden. Umso wichtiger ist es in diesem Fall, mit Argumenten zu überzeugen. Wenn eine ‹linke› Kunstkritikerin das Werk eines sogenannt ‹politischen Künstlers› kritisiert, dann müssen die Vorbehalte gegenüber dessen Arbeit umso deutlicher begründet werden (sonst ist Applaus von der Gegenseite vorprogrammiert).

 

Zu 4. Eine Theorie des Kritischen:

Wer Kritik äussert, darf diese nicht ‹aus dem Bauch› heraus tun, sondern muss seine Kritik theoretisch begründen. Eine Auseinandersetzung mit theoretischen Texten hilft dabei, die eigene Position immer wieder zu überdenken und gegebenenfalls zu verändern – und wenn nötig auch gegen aussen zu vertreten. So gab es in der WOZ Anfang der 2000er-Jahre redaktionsintern eine hart geführte Diskussion über einen kulturkritischen versus einen popkulturellen Ansatz des Kulturteils. In einer solchen Kontroverse kommt man ohne gute Argumente nicht weit – und es kann nicht schaden, diese mit gewichtigen Namen der Theorie zu untermauern.

 

Zu 5. Konkrete Ausgangspunkte, distanziertes Urteilen und engagierte Fürsprache:

Engagierte Kunstkritik ist kein simples Qualitätsurteil, sondern lässt widersprüchliche Bewegungen zu. Immer wieder kommt es vor, dass eine klare Positionierung unmöglich ist, weil unterschiedliche Argumente zu überzeugen vermögen. In solchen Fällen kann es sehr fruchtbar sein, diese Unsicherheiten, dieses Abwägen, im Text selbst zu erörtern und so transparent zu machen. Nicht selten sind solche Texte für einen selbst und wohl auch für die Lesenden interessanter als eine eindeutige Position. Ein Beispiel für einen solchen Text sei hier herausgegriffen: der Artikel über die Abstimmung über das sogenannte ‹Nagelhaus-Projekt› am Escher-Wyss-Platz im Jahr 2010, gegen das die SVP das Referendum ergriffen hatte. Im Text kamen sowohl Befürworter als auch Gegner des Projektes zu Wort, die unterschiedlichen Argumentationen wurden detailliert ausgeführt. Und es ist wohl kein Zufall, dass gerade dieser Text mehrfach zitiert wurde.[2]

 

Zu 6. Heterogen und streitbar:

Eine dialogische oder intersubjektive Form von Kunstkritik kann zweifellos sehr fruchtbar sein, sowohl für die Kritiker/innen selbst als auch für die Leserschaft. Ein Nachteil könnte aber darin bestehen, dass die ausgetauschten Argumente sich gegenseitig neutralisieren und so wenig Reibungsfläche bleibt. Die Auseinandersetzung, die bei monologischen Ansätzen zwischen Autorin und Leser stattfinden kann, wird bereits im Gespräch ausgetragen.

 

Zu 7. Auch eine emanzipatorische Vermittlungspraxis:

Eine Beschreibung des zu kritisierenden Gegenstandes muss als Voraussetzung jeder Rezension gelten. Wenn sie sich allerdings auf die Beschreibung beschränkt und eine weitergehende Auseinandersetzung meidet, dann sind wir genau da, was heute in den etablierten Medien stattfindet. Erst das Herstellen eines Zusammenhangs – zwischen den Disziplinen, zwischen Kunst und Gesellschaft – ermöglicht eine vertiefte Reflexion. Kunstkritik ist in diesem Sinn ein «Bastard», eine Art «wildes Denken»[3], das eine Vielzahl von Disziplinen aufeinander bezieht. Gleichzeitig erlaubt dieses wilde Denken eine widerständige Praxis, eine Form von Gesellschaftskritik.

 

Der Artikel basiert auf einem Vortrag präsentiert an der Tagung Engagiertes vermitteln. Kunstpädagogik Kunstkritik Kunstvermittlung. Die Tagung wurde von der Forschungsgruppe Kunst, Design & Öffentlichkeit der Hochschule Luzern – Kunst & Design in Zusammenarbeit mit dem Master of Arts in Fine Arts organisiert und von AICA – Association internationale des critiques d’art: Section suisse unterstützt.

[1] Graw, Isabelle und Juliane Rebentisch. «Vorwort». Texte zur Kunst 100 (2015): 4–5.

[2] Krebs, Edith. «Dieses Haus steht im Auge des Hurrikans». Die Wochenzeitung, Zugriff am 16. September 2010, http://www.woz.ch/-21eb.

[3] Sonderegger, Ruth. «Praktische Theorien?». In Bourdieu in Algerien, hrsg. von Eipcp.net, November 2007. Zugriff am 2. März 2016, http://eipcp.net/transversal/0308/sonderegger/de.